Montag, 31. Dezember 2018

Jahresrückblick 2018


Wolfgang Schäuble meinte am Sonntagabend im ZDF-Interview mit Bettina Schausten, 2018 sei ein „Jahr des Übergangs“ gewesen. Auf jeden Fall war es im vergangenen Jahr extrem schwierig, nach der Bundestagswahl im September 2017 eine neue Regierung zu bilden. Heraus kam eine Neuauflage der großen Koalition mit Angela Merkel als Kanzlerin. Sie hat beschlossen, sich nach dreizehn Jahren von allen politischen Ämtern zurückzuziehen. Den Anfang hat sie mit der Abgabe des Parteivorsitzes gemacht, den sie 18 Jahre innehatte.
Das zentrale Ereignis im Jahr 2018 im symptomatischen Sinne war für mich der 26. August, als in Chemnitz ein deutscher Mann auf offener Straße ermordet wurde. Dieser Mord spaltete Deutschland in zwei Lager: die Partei der „Guten“, die sich trotz aller Übergriffe immer noch zusammen mit der Bundeskanzlerin für die von ihr eingeschlagene Flüchtlingspolitik einsetzen, und die Partei der „Rechtspopulisten“, die die bisherige Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin kritisieren. Welche Gruppe mehr Anhänger hat, kann ich nicht sagen. Aber ich denke, dass nicht die lautstarken Verteidiger der Merkel-Politik, auch wenn sie rufen „wir sind mehr“, in der Mehrheit sind, sondern die schweigenden Teile des Volkes (Lateinisch: „populus“), bei denen es innerlich brodelt.
Deutsche haben ein anderes Temperament als Franzosen, aber manchmal glaube ich, dass es nur noch eines „Funkens“ bedarf, dass es auch in Deutschlands Städten zu solchen Szenen kommt, wie in den französischen Städten im November und Dezember, als überall die Gelbwesten demonstrierten und protestierten, zum Teil eben gewalttätig.
Italien hat seine Häfen geschlossen und will keine Schiffe mit afrikanischen Flüchtlingen mehr aufnehmen. Dort herrscht seit 2018 unter Ministerpräsident Matteo Salvini eine rechtskonservative Regierungskoalition der beiden Parteien Lega Nord und Cinque Stelle (fünf Sterne), ähnlich wie in Polen und Ungarn, wo ebenfalls europakritische rechtspopulistische Regierungen herrschen.
In Spanien ist nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Mariano Rajoy eine neue Regierung mit dem Sozialisten Pedro Sanchez gebildet worden. Spanien hat sich mehrmals bereit erklärt, die von Italien und Malta abgelehnten Schiffe mit afrikanischen Flüchtlingen aufzunehmen, gehört also seitdem zu den „Guten“ in Europa.
Großbritannien hat das ganze Jahr über mit der europäischen Kommission in Brüssel um ein Austrittsabkommen zum „Brexit“ gerungen, das Premierministerin Teresa May erfolgreich im Parlament präsentieren kann. Der Staat wehrt sich zunehmend gegen die illegale Einwanderung von Afrikanern über Calais und den Ärmelkanal.
Auch die Bevölkerungen der skandinavischen Länder zeigen sich zunehmend kritisch gegenüber dem unaufhaltsamen Zustrom von afrikanischen Flüchtlingen nach Europa. In Schweden wurde nach der Parlamentswahl gerade noch verhindert, dass eine rechtspopulistische Regierung an die Macht kam. Die dänische Regierung möchte nun sogar Gettos mit eigener Gesetzgebung für Zuwanderer einrichten, weil unter ihnen die Rate der Straftaten besonders hoch ist.
In Russland waren im Zuge der Fußballweltmeisterschaft ebenfalls Afrikaner eingetroffen, die nach Europa wollten. Russland hat sie jedoch wieder nach Hause geschickt.
Ich selbst hatte im Frühjahr einen Sprachkurs mit ursprünglich dreizehn Afrikanern (aus Nigeria, Kamerun und Gambia) und konnte mir dadurch ein persönliches Bild von ihrer Mentalität machen. In der Gruppe gab es nur drei, die regelmäßig kamen und einen Zugang zur deutschen Sprache suchten. Die anderen zehn waren extrem unzuverlässig, kamen und gingen, wie es ihnen gefiel und waren nach dreihundert Unterrichtseinheiten im Prinzip nicht in der Lage, einige korrekte deutsche Sätze zu sprechen. Für mich war dieser Kurs die größte (pädagogische) Herausforderung mit dem geringsten Lerneffekt.
Ich bin seitdem der Ansicht, dass bis auf ganz wenige Ausnahmen Afrikaner nicht nach Europa passen und hier niemals wirklich Fuß fassen werden. Ich denke, dass sie sich vielleicht ein paar Jahre auf Kosten der Steuerzahler durchschlagen, aber hier nicht ihr Glück finden werden. Ihre Mentalität ist einfach vollkommen verschieden von derjenigen der Europäer. Schon als nach dem Krieg mit der Siegermacht USA die ersten Schwarzamerikaner nach Deutschland kamen, war die Bevölkerung von Städten wie Crailsheim oder Schwäbisch Hall, wo mit den Kelley- und Dolan-Baracks Kasernen für die Besatzer eingerichtet wurden, extrem beunruhigt, wie man aus den beiden 2018 erschienen Dokumentationen zu diesen lokalen Einrichtungen erfahren kann.
Ich weiß keine Lösung, aber ich spüre: die Mehrzahl der Deutschen will keine schwarzen Flüchtlinge in ihrem Land. Dazu tragen vermutlich auch die vielen Angriffe auf deutsche Mädchen und Frauen bei, die im letzten Jahr stattfanden, in den offiziellen Jahresrückblicken aber – wohl aus politischen Gründen – kaum zur Sprache kamen. Dass unter den mehr oder weniger legal nach Deutschland eingereisten Flüchtlingen aus dem Orient auch psychisch gestörte Männer oder Terroristen sind, hat sich bereits kurz nach der großen Flüchtlingsflut im Jahr 2015 gezeigt. Jeder Anschlag, ob in Paris, Brüssel, Berlin, München oder Ansbach, rüttelte das Volk kurz auf, aber es passierte nichts, außer dass nun auf allen öffentlichen Plätzen in den deutschen, französischen und belgischen Metropolen schwer bewaffnete Polizisten mit Maschinengewehren die „Sicherheit“ garantieren sollen.
Nicht nur Europa wird von tausenden von Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlingen angesteuert, sondern auch die USA, die unter ihrem Präsidenten Donald Trump mit Nachdruck an einer Mauer zu Mexiko bauen, um die Flüchtlingskarawane aus den mittelamerikanischen Staaten Honduras, Guatemala und Nicaragua, die sich in Richtung des reichen Nordens in Marsch gesetzt hat, aufzuhalten.
Ich finde, dass Horst Seehofer recht hatte, als er im Blick auf die Zuwanderung von der „Mutter aller Probleme“ sprach.
Diese Zuwanderung sagt etwas über den Zustand unserer Welt aus, wie er sich im Jahr 2018 sogar noch zugespitzt hat: es herrscht in vielen Staaten auf diesem Planeten kein Frieden und keine Gerechtigkeit. Die Politiker oder Regierungen vieler Länder sind nicht in der Lage, ihre Bevölkerung im Land zu halten.
Woran liegt das?
Soweit ich sehe, hängt das mit der Globalisierung zusammen, die sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wie eine neue Ideologie über die ganze Welt ausbreitete. Ich meine den nunmehr ungehemmten Kapitalismus, der sich vor allem in den Finanzmärkten weltweit Geltung verschafft. Hier sind die „Masters of the Universe“ an der Wallstreet und in der City of London die Treiber.
Auch die amerikanische Regierung unter dem ehemaligen Immobilienmakler Donald Trump kann dieses Treiben nicht eindämmen. Unter seinen Vorgängern wurden im „Kampf gegen den Terror“ nach 9/11 die Kriege in den sogenannten Schurkenstaaten mit dem Ziel des „Regime Change“ angezettelt, die im Wesentlichen verantwortlich für die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak sind. Wie die Amerikaner durch diese Waffengänge „Fail States“ erzeugten, kann man an dem Beispiel Libyen sehen, das vollkommen gespalten ist und noch inhumanere „Regierungen“ hat als vorher unter Muhammad Ghadafi.
Die für den Unfrieden und die Ungerechtigkeit Verantwortlichen sind also meiner Meinung nach die „Player“ an den Börsen, welche die Öl- und die  Rüstungsindustrie „repräsentieren“. Vor allem den „Masters of War“, oder – wie sie auch genannt wurden – den „Merchants of Death“ müsste eigentlich „das Handwerk“ gelegt werden, aber auch Präsident Donald Trump befeuert diesen Industriezweig ständig, indem er trotz aller Bedenken nach dem Mord an dem saudischen Journalisten Kashoggi weiterhin Kriegsgerät für ca. 300 Milliarden Dollar an Saudi-Arabien liefern lassen will.
Und da kommt die Zukunft in den Blick:
Im Jahr 2018 haben die USA auf Betreiben ihres engsten noch verbliebenen Verbündeten Israel das Atomabkommen mit dem Iran einseitig gekündigt. Israel fühlt sich vom Iran und seinen Ablegern in Syrien und im Libanon extrem bedroht und möchte lieber heute als morgen den Iran vom Erdboden vertilgen. Das dürfte jedoch nicht so einfach sein.
Nun baut sich aber seit etwa 2011 eine fatale Drohkulisse auf, die in der Zukunft zu einem neuen, noch viel gefährlicheren Konflikt im Nahen Osten, dem Pulverfass der Welt, führen kann. Die beiden größten Erdölförderländer in dieser Region sind Saudi-Arabien, das mit den USA und vielleicht auch schon mit Israel verbündet ist und von einer Clique streng sunnitischer konservativer Moslems beherrscht wird, und der Iran, der mit Russland und China verbündet ist und von streng konservativen schiitischen Mullahs regiert wird.
Diese Konstellation ist brandgefährlich und könnte tatsächlich einen Dritten Weltkrieg auslösen, nach dem nichts mehr so sein wird wie vorher.
Ich hoffe und bete, dass es nicht dazu kommen wird. Aber die Geschichte wird ihren notwendigen Gang gehen, wie es immer war.

Freitag, 14. Dezember 2018

Aenne Burda und Simone Weil


Den ersten Teil des Films über Aenne Burda, der am Mittwoch, den 5. Dezember 2018 im Ersten Programm ausgestrahlt wurde, fand ich schwach. Besonders die Dialoge überzeugten mich nicht wirklich. Umso besser fand ich den zweiten Teil, den ich vorgestern (12.12.2018) im Ersten Programm sah. Auch wurde mir durch die anschließende Dokumentation bewusst, was für eine bedeutende Persönlichkeit diese Frau im deutschen Wirtschaftsleben nach dem Zweiten Weltkrieg war.
Aenne Burda stammte aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war Lokomotiv-Heizer. Am 9. Juni 1931 heiratete die bodenständige Anna Magdalena Lemminger Dr. Franz Burda, den Besitzer einer kleinen Druckerei in ihrer Heimatstadt. Auch er strebte nach oben. Beide waren, was man erfolgreich nennt. Beide arbeiteten aber auch hart an ihrem Erfolg. Beide waren „Alpha-Tiere“.
Das konnte in der persönlichen Beziehung nicht immer gut gehen, aber die Frau setzte sich gegenüber ihrem Mann durch. Und sie war spätestens seit 1987, als ihre Zeitschrift „Burda-Moden“ mit den beliebten Schnittmustern auch in Russland verkauft werden durfte, in der ganzen Welt bekannt. Nie zuvor und nie wieder später hat eine Zeitschrift so hohe Auflagen erzielt: weltweit 25 Millionen pro Ausgabe. Das Burda-Imperium wuchs und wuchs. Der Mann verkaufte die bekannte Fernsehprogramm-Zeitschrift „Bild + Funk“ und die Prominenten-Klatsch-Illustrierte „Die Bunte“, seine Frau, die sich nach dem Lied „Ännchen von Tharau“ Aenne nennen ließ, ihre Modezeitschrift.
Die im gleichen Jahr wie Simone Weil Geborene gehört zur Partei der „praktischen Menschen“. Sie interessierte sich für Mode, für Stoffe und für Luxus. Sie bewegte sich geschickt auf dem Parkett des Jet-Set und galt neben Sophia Loren und Catherine Deneuve als die eleganteste Frau ihrer Zeit. Als sie am 3. November 2005 starb, war sie 96 Jahre alt. Ihr jüngster Sohn Hubert Burda sagte in der Dokumentation im Interview: „Sie hatte keine Religion. Der Glaube an etwas, was nach dem Tod kommt: da kam für sie gar nichts.  Das war ihr Webfehler. Letztendlich starb sie, weil sie keine Lust mehr hatte. Es war Zeit.“[1]
Das Leben dieser Frau war von äußerem Erfolg gekrönt. Sie war ohne Pause tätig oder unterwegs und alles, was sie anfasste, schien sich in Gold zu verwandeln. Aber zu einem spirituellen Leben fand sie nicht, obwohl sie an einem katholischen Mädchengymnasium erzogen worden war.
Ihr liebster Spruch war: „Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben ist Pflicht. Ich handelte, und die Pflicht wurde zur Freude.“
Merkwürdigerweise lerne ich diese deutsche „Wirtschaftswunderfrau“ gerade jetzt kennen, als ich mich mit der französischen Jüdin Simone Weil, die das genaue Gegenteil von Aenne Burda ist, beschäftige.
Beide Persönlichkeiten sind im gleichen Jahr 1909 geboren, Simone Weil am 3. Februar im Sternzeichen des Wassermanns, Aenne Burda am 28. Juli im Sternzeichen des Löwen. Simone wurde gerade einmal 35 Jahre alt, Aenne 96. Simone gehört, wenn man die „Charakteristik“ von Rudolf Steiner über die zwei „Menschenklassen“ zugrunde legt, zur „Partei der Weltfremden“, Aenne zur „Partei der Praktischen“.[2] Nichts schien die beiden zu verbinden. Bis in den Kleidungsstil waren sie vollkommen unterschiedlich. Simone war dem spirituellen Leben ganz ergeben, nahm kaum Rücksicht auf ihren Körper und das materielle Leben, Aenne wollte, dass auch die ärmeren Frauen sich schicke Kleider nähen konnten und stand als Unternehmerin vollkommen im diesseitigen Leben. Von Aenne Burda ging eine weltweite Ausstrahlung aus, Simone Weil kennt heute kaum jemand.
Dabei hatten, so würde ich sagen, beide ein großes Herz.
Das Lied Ännchen von Tharau, das Aenne so gut gefiel, ist in gewisser Weise ihr Glaubensbekenntnis, ihr „Salve Regina“:

„Ännchen von Tharau ist’s
Die mir gefällt.
Sie ist mein Leben, mein Gut
Und mein Geld

Ännchen von Tharau
Hat wieder ihr Herz
Auf mich gerichtet
in Liebe und Schmerz.“

Immer wieder staune ich, wie mir das Schicksal zuarbeitet und mir im rechten Augenblick (Kairos) die entsprechenden Gedanken, Bilder und Ideen zuspielt. Ich brauche sie nur noch zu ergreifen. Und das tue ich so gut es geht.
Am Mittwoch (12.12.2018) war es die Erkenntnis, dass Aenne Burda (deren Name ein wenig an Buddha erinnert, besonders, wenn man ihn schnell ausspricht) im gleichen Jahr wie Simone Weil geboren wurde.
Am 12. Januar 1910, also knapp ein Jahr, nachdem Simone Weil am 3. Februar 1909 geboren wurde, sprach Rudolf Steiner in Stockholm zum ersten Mal von der Wiederkunft Christi im Ätherischen. Dieser Vortrag sowie der folgende, den er am 23. Januar 1910 in Straßburg, der Stadt, wo im Jahre 1642 (vermutlich durch Rosenkreuzer) der erste Weihnachtsbaum errichtet wurde, gehalten hat, ist leider nicht mitgeschrieben worden. Erst der Vortrag, den er zwei Tage später, am 25. Januar 1910, in Karlsruhe gehalten hat, wurde mitgeschrieben und im Jahre 1965 unter der Bibliographie-Nummer 118 der Gesamtausgabe veröffentlicht. Der Band trägt den Titel „Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt“ und enthält zwölf Vorträge aus dem Jahre 1910, die um dieses Ereignis kreisen, das die Figur der Theodora im ersten Mysteriendrama „Die Prüfung der Seele“ verkündet.
Ich hatte den Band mit dabei, als ich im Juli und August 2010 sechs Wochen lang zur Rehabilitation nach einem Burn-Out in der psychosomatischen Klinik von Zell am Harmersbach[3] verbringen durfte. Damals habe ich die Vorträge studiert und in meinem Tagebuch kommentiert. Jetzt ist mir bewusst geworden, dass ich damals nicht weit weg von der Stadt Offenburg geweilt hatte: der Harmersbach ist ein Nebenfluss der Kinzig, die auch durch die Burda-Stadt Offenburg fließt. Dass es dort eine Waldorfschule gibt, war mir schon lange bekannt, weil ich mich dort einmal als Lehrer beworben habe. Später war dann meine Tochter Raphaela zwei Jahre an dieser Waldorfschule tätig und ich habe sie mehrmals dort besucht und die Stadt kennengelernt.
Der Name Burda war mir natürlich schon viel früher bekannt, denn ich kaufte seit der Mitte der 60er Jahre regelmäßig die Zeitschrift „Bild + Funk“ aus dem Hause Burda, weil in dieser Fernsehzeitschrift die Winnetou-Filme als Bildergeschichten abgedruckt wurden. Es war in jedem Heft nur eine Seite. Nach etwa zehn bis zwanzig Heften hatte ich dann den ganzen Film als „Fotoroman“. Diese Seiten habe ich dann gesammelt und zu Büchern zusammengeklebt, genauso wie ich die Starschnitte aus „Bravo“ zu lebensgroßen Figuren zusammensetzte und mir so Winnetou und Old Shatterhand ins Zimmer holte. Diese Fotogeschichten und Starschnitte waren sozusagen das Äquivalent zu den Schnittmustern aus den Heften von Aenne Burda.
Heute Vormittag habe auf SWR2-Wissen eine Sendung über Jiddu Krishnamurti angehört.[4]
Die Sendung ist eine Wiederholung vom 13. Juni 2017. Viel Neues erfahre ich nicht, aber ein Zusammenhang ist mir durch sie wieder deutlich geworden: es war im Jahre 1909, als der englische Theosoph Charles Webster Leadbeater (1854 – 1934) an einem Privatstrand in Ayar/Indien den vierzehnjährigen Hinduknaben Jiddu Krishnamurti aus einer Brahmanenfamilie „entdeckte“ und ihn, zusammen mit der damaligen Präsidentin der Gesellschaft, Annie Besant, unter dem Pseudonym „Alcyone“ als neuen „Weltenlehrer“ verkünden ließ. Dagegen wandte sich Rudolf Steiner, der damals Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft war. Letztendlich führte diese Ausrichtung der Theosophischen Gesellschaft auf den Hinduknaben, der gleichsam der wiedergeborene Messias sein sollte oder in dem manche Theosophen den Maitreya- Buddha sahen, zur Trennung Rudolf Steiners und einigen Mitgliedern von dieser Gesellschaft und zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Jahreswende 1912/13 in Köln.
Vor diesem historischen Zusammenhang muss man Rudolf Steiners Vorträge aus den Jahren 1910 bis 1913 sehen.




[2] „Christian Rosenkreutz hielt diese Vorversammlung eine Anzahl von Jahren vorher, nicht weil es ihm unklar war, was zu geschehen hatte, sondern weil er die Menschen zum Nachdenken bringen wollte über die Perspektive der Zukunft. Er sagte ungefähr Folgendes zur Anregung des Denkens: Man sehe hin auf die Zukunft der Welt. Die Welt drängt nach Praxis, nach Industrie, nach Eisenbahnen und so weiter. Die Menschen werden sein wie Lasttiere. Und diejenigen, die das nicht wollen, werden sein wie Franz von Assisi, unpraktisch für das Leben, sie werden nur der inneren Entwicklung leben. – Christian Rosenkreutz machte damals seinen Zuhörern klar, dass es auf Erden kein Mittel gebe, um die Bildung dieser zwei Menschenklassen zu verhindern. Alles, was man für die Menschen tun könne zwischen Geburt und Tod, könne nicht verhindern, dass die Menschen in diese zwei Klassen geteilt würden. Soweit die Verhältnisse auf der Erde in Betracht kommen, ist es unmöglich, Abhilfe zu schaffen für die zwei Klassen von Menschen. Hilfe könne nur kommen, wenn eine Art von Erziehung geschaffen würde, die sich nicht abspiele zwischen Geburt und Tod, sondern zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.
Bedenken wir also, dass die Rosenkreutzer vor die Aufgabe gestellt waren, zu wirken aus der übersinnlichen Welt in die einzelnen Menschen hinein.“ (Vortrag vom 18. Dezember 1912 in Neuchatel, GA 130)

[3] Dort traf ich auch Rolf Dernen, der, etwa gleichaltrig mit mir, bis heute ein großer Liebhaber Karl Mays und der Karl-May-Filme ist. Er ist Redakteur und Mitarbeiter am Karl-May-Magazin „Karl May & Co.“ Und er hat Marie Versini, die Nscho-Tschi aus „Winnetou I“ und die Tschita aus dem „Schut“ bei einer Film-Veranstaltung persönlich getroffen.

Mittwoch, 12. Dezember 2018

"Die Ätherisation des Blutes" - zum Basler Vortrag (1. Oktober 1911) von Rudolf Steiner


Im Vortrag vom 27. September 1911, durch den es Rudolf Steiner „zum ersten Male (…) möglich ist (,) genauer über Christian Rosenkreutz zu sprechen“ berichtet der Geistesforscher von zwei wesentlichen Inkarnationen dieser Individualität. Die erste war im 13. Jahrhundert, als ein Kollegium von zwölf Eingeweihten, die das okkulte Wissen der atlantischen Zeit (die sieben Rishis), der vier nachatlantischen Kulturepochen und das modernste Wissen der Scholastik, aus dem die fünfte Kulturepoche erwuchs, repräsentierten, zusammenkamen, um das „sehr schwächliche Kind (…) an einem Orte in Europa, von dem noch nicht gesprochen werden darf“ zu erziehen und schließlich in einer Art „Einweihung“ mit all ihrem Wissen zu „begaben“.
Einen Abglanz dieser „hochgeistigen Loge“, des „Kollegiums von zwölf Männern“  sehe ich in den zwölf Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Domes, die um das Jahr 1250 vom Naumburger Meister geschaffen wurden, wie ich 2011 ausführlich beschrieben habe.
Die nächste Inkarnation fand „ungefähr in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts“ statt, also im Jahr 1350. Rudolf Steiner führt aus:
„In dieser Inkarnation lebte diese Individualität mehr als hundert Jahre. Er wurde auf ähnliche Weise im Kreise der Schüler und Nachfolger der Zwölf erzogen, aber nicht so weltfremd wie in seiner vorhergehenden Inkarnation.“
Das Wort „weltfremd“ hat erst neulich durch das eindrucksvolle Lied „Testament“ von Andrea Lesch einen ganz eigenen Klang in meinem Bewusstsein erhalten.
„Als er achtundzwanzig Jahre alt war, bekam er ein merkwürdiges Ideal. Er musste reisen und aus Europa fortziehen. Zuerst ging er nach Damaskus, und dort wiederholte sich noch einmal für ihn das Ereignis, das Paulus dort erlebt hatte. Dieses Erlebnis ist als die Frucht eines Keimes der vorigen Inkarnation zu bezeichnen.“
Nach den Zeiten, die Rudolf Steiner angibt und die für mich maßgeblich sind, ist Christian Rosenkreutz im Jahre 1378 28 Jahre alt geworden, wenn man von seiner Geburt im Jahre 1350 ausgeht. Im Jahre 1378 ist Karl IV. gestorben, der letzte Eingeweihte auf dem Kaiserthron, wie Rudolf Steiner an anderer Stelle feststellt.
Nun ist durch Zufall am Samstag, den 8. Dezember ein Buch in meine Hände geraten, das ausgerechnet diesem Kaiser und seinem Sakralbau, der Burg Karlstein etwa 30 Kilometer westlich von Prag, gewidmet ist: der im Jahre 1971 im Verlag Urachhaus erschienene Bildband „Karlstein“ von Michael Eschborn, den ich seit Sonntag lese und studiere.
In der Burg gibt es drei Kapellen, die so aufeinander bezogen sind, dass man sie geradezu als „Einweihungsweg“ sehen kann: die auch räumlich unterste ist die Nikolauskapelle, die nächsthöhere die Marienkapelle und die höchste im dritten Stock des Bergfrieds die Heilig-Kreuz-Kapelle.
Die Nikolauskapelle entspricht dem „Astralplan“, an den wir mit unseren intellektuellen Vorstellungen und Erinnerungen anknüpfen.
Nikolaus von Myra ist der Patron der Seefahrer, die sich auf hoher See orientieren müssen, und wird in kunsthistorischen Darstellungen meist als Bischof, der ein Buch mit drei goldenen Kugeln in der Hand hält, gezeigt. Das Buch bringt der Heilige Nikolaus am 6. Dezember auch mit, wenn er zusammen mit Knecht Ruprecht von Haus zu Haus zieht und den Kindern, die „fromm“ waren, Geschenke bringt. Zuerst schaut er aber in seinem großen goldenen Buch nach, in dem alle Taten der Kinder verzeichnet sind. Dieses Buch ist ein Symbol für das Weltengedächtnis.
Kaiser Karl IV., der ein Sammler von Reliquien war, besaß auch einen Finger des Heiligen Nikolaus.
Die zweite Kapelle ist der Mutter Gottes geweiht, auch wenn sie in der Literatur bisweilen der Heiligen Katharina (mit dem Radl) zugeschrieben wird.
Maria ist in ihrer ganzen Schönheit eine Vertreterin des niederen Devachans. In dieser „Himmelswelt“ träumen wir. Wir erreichen sie durch unsere Gefühle und unser ästhetisches Empfinden, wie Rudolf Steiner im Basler Vortrag vom 1. Oktober 1911 ausführt.
Über ein reich geschmücktes Treppenhaus gelangt der Besucher schließlich in die höchste der drei Kapellen, in die Kreuzkapelle.
Michael Eschborn nennt sie eine Gralskapelle.
Wir befinden uns jetzt in der Region des höheren Devachans, das wir nur im Schlaf mit unserem Willen erreichen, dann nämlich, wenn unser physischer Leib von den dort wirkenden Götterkräften regeneriert wird. Hier empfangen die Menschen ihre moralischen Impulse.
Ich möchte in diesem Zusammenhang wieder aus Rudolf Steiners wichtigem Basler Vortrag über die „Ätherisation des Blutes“ zitieren.
„So wie in der Gegend des menschlichen Herzens ein fortwährendes Verwandeln des Blutes in Äthersubstanz stattfindet, so findet ein ähnlicher Vorgang im Makrokosmos statt. Wir verstehen dieses, wenn wir unser Auge hinwenden auf das Mysterium von Golgatha und auf jenen Augenblick, in dem das Blut des Christus Jesus geflossen ist aus den Wunden.“
Ich möchte präzisieren: Am Kreuze floss das Blut aus fünf Wunden. Vier dieser fünf Wunden waren geschlagen worden durch die Nägel, mit denen man den Christus ans Kreuz geheftet hatte. Einen dieser Nägel besaß Kaiser Karl IV..
Die fünfte und letzte Wunde ist geschlagen worden durch die Lanze des Longinus. Der blinde römische Kriegsknecht (Joh.19, 34) stach dem bereits gestorbenen Gottessohn direkt ins Herz. Der Blutstrahl, der ihn dabei traf, machte ihn sehend, wie die Legende erzählt. Die sogenannte „Heilige Lanze“, die eine Art Replik der Lanze des Longinus war, wurde Teil der Reichsinsignien, die ebenfalls eine Zeitlang auf Burg Karlstein „gehütet“ und verehrt wurden.
Vergessen darf man nicht eine sechste Wunde, die bereits dem kleinen Jesus kurz nach der Geburt bereitet wurde. Bei der Beschneidung wurde ihm die Vorhaut abgeschnitten, so dass das jüdische Kind zum ersten Mal blutete. Diese Heilige Blutsreliquie wurde in der Kathedrale von Antwerpen aufbewahrt. Von dieser reichen Stadt in Flandern stammten die Meister, die die Wandelaltäre der Haller Kirchen geschaffen haben. Auf dem um das Jahr 1460 geschaffenen Hauptaltar der Michaelskirche sieht man Longinus, wie er die Seite des Christus durchsticht.[1]
Rudolf Steiner fährt fort:
„Dieses Blut darf nicht nur als chemische Substanz betrachtet werden, sondern es ist durch alles das, was geschildert worden ist als die Natur des Jesus von Nazareth, etwas ganz Besonderes. Und indem es ausfloss und hineinströmte in die Erde, ist unserer Erde eine Substanz gegeben worden, die, indem sie sich mit der Erde verband, ein Ereignis war, das ein bedeutendstes ist für die Folgezeiten der Erde, und das auch nur einmal auftreten konnte.“ Was geschah mit diesem Blute in den folgenden Zeiten? Nichts anderes, als was sonst im Herzen des Menschen geschieht. Dieses Blut machte im Verlaufe der Erdenevolution einen Ätherisierungsprozess durch. Und wie unser Blut als Äther vom Herzen nach oben strömt, so lebt im Erdenäther seit dem Mysterium von Golgatha das ätherisierte Blut des Christus.“
Solche Mitteilungen entziehen sich zunächst unserem verstandesmäßigen Begreifen. Sie können nur durch meditatives Nacherleben mit dem Herzen erfasst werden. Und dabei kann uns, wie wir später sehen werden, das „Gebet des Herrn“, das Vaterunser, und insbesondere die vierte Bitte („unser tägliches Brot gib uns heute“), helfen.
Zur Zeit Kaiser Karls IV. waren Reliquien nicht irgendwelche materiellen Gegenstände, sondern Objekte tiefster Anbetung. Nur dafür hat der fromme Kaiser seine schwer zugängliche Burg Karlstein errichten lassen, in die er sich ab etwa 1350 zur Meditation zurückzog und sich bis zu seinem Tod 1378 oft aufhielt.
Es gibt in der Schrift „Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer“, die 1785 in Hamburg-Altona veröffentlicht wurde, eine Abbildung mit dem Titel „Mons Philosophorum“ (Berg der Philosophen), die auch als das Grab Christian Rosenkreutz angesehen wird. Die Jahreszahl 1604, die in der rechten unteren Ecke eingezeichnet ist, weist auf jenes bereits erwähnte Ereignis auf dem geistigen Mars hin, wo in jenem Jahr, wie Rudolf Steiner mitteilt, der Buddha in einer ähnlichen Tat wie der Christus auf Golgatha ein Opfer für die Menschheit gebracht hat.[2] Ganz im Vordergrund erkennt man einen Hasen, der von links nach rechts springt. Der Hase war ein altes Rosenkreuzer-Symbol. Rudolf Steiner stellt auch einen Bezug zwischen dem Hasen und dem Buddha her, wenn er im Vortrag vom 19. September 1911 in Locarno ausführt:
„Es war im achten Jahrhundert, da lebte Johann von Damaskus, der da ein Buch geschrieben hat in Romanform. Über was? Er erzählt, es habe einmal gelebt ein bedeutender Lehrer, welcher der Lehrer wurde des Josaphat, der den Josaphat unterrichtete in dem, was die Geheimlehre ist, was die großen christlichen Wahrheiten sind. Und wenn man alledem nachgeht, so findet man in der ganzen Erzählung darauf bezügliche Wahrheiten. Man findet auch Erzählungen aus der buddhistischen Literatur. Wir verfolgen dieselbe Sache und kommen auf eine Legende: jene Legende, die da erzählt, dass der Buddha weitergelebt hat, allerdings nicht in irdischer Menschenform, sondern in tierischer, in der Form eines Hasen. Und als einmal ein Brahmane ging und einen Hasen fand – der die Maske des Buddha war –, da klagte der Brahmane ihm das Elend der Menschen draußen, und da hat der Buddha in einem Feuer, das er selbst bereitete, sich selber gebraten, um der Menschheit zu helfen.“

Diese Abbildung findet sich merkwürdigerweise in dem Wikipedia-Eintrag über Christian Rosenkreutz.[3] Diese Individualität, die mit einer materialistischen Geschichtswissenschaft nicht zu fassen ist, wird in dem Eintrag als eine legendäre Figur bezeichnet.
Auch in Schwäbisch Hall, das im 15. Jahrhundert, also noch zur Lebenszeit von Christian Rosenkreutz, wie bereits erwähnt, eine enge Beziehung zu der Stadt Antwerpen und ihre Heilig-Blut-Reliquie hatte, gibt es eine ähnliche Konstellation wie auf der etwa ein Jahrhundert vor beziehungsweise nachher entstandenen böhmischen Burg Karlstein: Im 15. Jahrhundert wurde die gotische Marienkirche in der Limpurger Vorstadt, die heute Sankt Urban heißt, von Schenk Friedrich V. und seiner Gemahlin Susanna von Thierstein (bei Basel) mit einem kostbaren Marienaltar ausgestattet.[4] Bereits im 13. Jahrhundert entstand auf dem Hohen Comberg bei Schwäbisch Hall eine Klosteranlage, die drei sakrale Gebäude umschließt: Die Nikolauskirche, die Sechseckkapelle und die Michaelskapelle.
Wie ich in meiner Führung durch die Klosteranlage beschrieben habe, wird die Sechseckkapelle auch als „Heiliges Grab“ gesehen, während in der Nikolauskirche der Golgatha-Hügel mit den drei Kreuzen erlebt wurde, so dass am Karfreitag eine Prozession von der Nikolauskirche zur Sechseckkapelle und zurück stattfand, um den Gekreuzigten ins Grab zu legen.[5]
Noch heute wird in der Nikolauskirche der großartige romanische Radleuchter nur zweimal im Jahr erleuchtet: zu den Hochfesten am Heiligabend und in der Nacht von Karsamstag auf den Ostermorgen.
Ich bezeichnete die Komburg als eine Art Gralsburg, so wie Michael Eschborn die Burg Karlstein in einen Zusammenhang mit den Gralserzählungen bringt. Diese kreisen im Grunde um das Mysterium der „Ätherisation des Blutes“, über das ich in meinem nächsten Beitrag im Zusammenhang mit dem Vaterunser noch näher eingehen will.

Dienstag, 11. Dezember 2018

Streit in London, Paris und Brüssel - Vereinbarung in Marrakesch - eine Bestandsaufnahme



Gestern (10.12.2018) Abend hat Marc Kleber im Heute-Journal mit ernster Miene von den Chaostagen in London und Paris erzählt. Der Zuschauer erfährt ja in solchen Nachrichtensendungen nur kleine Ausschnitte aus den Ereignissen, die vor seinen Augen vorüberhuschen.
Was bei mir haften bleibt, sind die Gesichter von Theresa May und Emmanuel Macron. Die Abgeordneten des britischen Unterhauses weigerten sich, dem mit der EU ausgehandelten Austrittsabkommen, das ihnen ihre Premierministerin vorgeschlagen hat, anzunehmen. So musste sie wohl oder übel die Abstimmung nach fünf Tagen Debatte noch einmal verschieben. Bitter war, wie sie von ihren Parlamentariern ausgelacht wurde, wenn sie zu einer neuen Rede anheben wollte. Sie kam gar nicht zu Wort.
Der meistens etwas arrogant wirkende französische Präsident Emmanuel Macron übte sich in seiner Fernsehansprache an das französische Volk in Demut, gestand sogar eigene Fehler ein und kam den Forderungen der „Gelbwesten“ entgegen, indem er einige Punkte aufgriff und versprach, Abhilfe zu schaffen.
Damit gestand er indirekt das Scheitern seiner Reformpläne ein, die den Franzosen noch mehr soziale Härten abverlangt hätten, wie einst die Hartz IV-Reform in Deutschland.
Im Grunde erkennen die Franzosen, was mit ihnen gespielt wird: Die Reichen, die durch zahlreiche Tricks kaum Steuern bezahlen müssen, werden immer reicher, und die Armen, die von der Sozialhilfe kaum noch bis zur Mitte des Monats leben können, immer ärmer. Die Hauptlast tragen die Arbeitenden, denn sie bezahlen brav ihre Steuern.
Genauso ist es hier in Deutschland. Ich muss heute zum vierten Mal in diesem Jahr 1130 Euro ans Finanzamt überweisen. Von Weihnachtsgeld kann ich seit vier Jahren nicht einmal träumen.
Bundeskanzlerin Merkel war gestern in Marrakesch in Marokko und hat die UN-Vereinbarung zur Migration, den sogenannten „Migrationspakt“ unterschrieben. Während sonst nur zweitrangige Politiker bei dem Treffen zugegen waren, stellte sich die Kanzlerin demonstrativ an die Spitze der Befürworter dieser „Vereinbarung“.
Marrakesch bedeutet „Gottesland“ oder auch „Durchzugsland“ und ist unmittelbar verwandt mit dem Namen des Landes Marokko, dessen Namen aus dem Stadtnamen hervorging.
Warum die UNO ausgerechnet diese Stadt und nicht zum Beispiel Casablanca zur Unterzeichnung des „Paktes“ gewählt hat, bleibt mir ein Rätsel. Vielleicht spielt dabei auch die Tatsache eine Rolle, dass es in dieser Stadt einen berühmten Marktplatz gibt, die Djemaa el Fna, der 2001 als erster Ort der Welt in die damals neu geschaffene Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ der UNESCO aufgenommen wurde.
Der Platz, auf dem Touristen Geschichtenerzähler, Wahrsager und Schlangenbeschwörer erleben können, bedeutet auf Deutsch „Platz der Gehenkten“, weil sich hier einst die Hinrichtungsstätte der muslimischen Sultane der Almohaden befand. Diese strenggläubige Berberdynastie kann man als einen Vorläufer der radikalen Islamisten bezeichnen. Sie misstrauten der städtischen Hochkultur und schickten unter anderen den bekannten arabischen Philosophen Averroes (Ibn Ruschd) ins Exil. Ihr Reich dehnte sich zwischen 1147 bis 1269 über die nordafrikanischen Maghrebstaaten (Algerien, Tunesien, Marokko) und den Süden der iberischen Halbinsel (El Andalus) aus. Marrakesch war ihre Hauptstadt, Al Mansur ihr berühmtester Kalif (1184 – 1199). Er residierte in Sevilla und ihm gelang am 19. Juli 1195 ein großer Sieg über das christliche Ritterheer aus Kastilien.
Gestern jährte sich der Tag zum siebzigsten Mal, an dem im Palais de Chaillot in Paris vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“[1] mit 48 Ja-Stimmen und acht Enthaltungen (Sowjetunion, Ukraine, Weißrussland, Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Saudi-Arabien und Südafrika) verabschiedet wurde. Vielleicht ist das der symbolische Zusammenhang mit dem gestrigen Termin in Marrakesch.
Bei der gestrigen Abstimmung über die UN-Vereinbarung zur Migration stimmten von inzwischen 192 Mitgliedstaaten 164 Staaten zu. Folgende zehn Staaten verweigerten ihre Zustimmung: die USA, Ungarn, Österreich, Tschechien, Polen, Israel, Australien, Slowakei, Bulgarien und Lettland. In Belgien zerbrach die Regierungskoalition zwischen Flamen und Wallonen darüber und stürzte das EU-Land in eine Krise.
An der Flüchtlingsfrage droht die Europäische Union zu zerbrechen. Schon die Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU, der  Brexit, entzündete sich 2016 daran.
Wenn man die Bilder von den Verwüstungen in Paris in den letzten Tagen gesehen hat, dann fielen immer wieder die vorwiegend schwarzen Jugendlichen auf, die Schaufensterscheiben einschlugen oder Autos anzündeten. Frankreich hat sich mit den Migranten aus den ehemaligen Kolonien ein großes soziales Problem ins Land geholt, das sich bisher immer wieder in den Vorstädten von Paris durch brennende Autos in Erinnerung gebracht hat und nun – zusammen mit der Gelbwestenbewegung – auch im Zentrum der französischen Hauptstadt angekommen ist.
Auch in Deutschland ist das Thema „Migration“ jeden Tag aktuell, auch wenn es gewisse Politiker von der Agenda nehmen wollen. Gestern las ich in der Zeitung (Haller Tagblatt vom 10.12.2018, S. 5) unter der Überschrift „Härte gegen aggressive Ausländer“, dass sich der CDU-Bundesparteitag in Hamburg auf die Initiative Baden-Württembergs hin für eine Änderung des Aufenthaltsrechts ausgesprochen hat. „Danach sollen ausländische Straftäter, die Polizisten, Vollstreckungsbeamte, Feuerwehrleute oder Rettungskräfte angegriffen haben, künftig konsequent und zügig ausgewiesen werden.“ Weiter heißt es: „Die bundesweite Kriminalstatistik verzeichnet im Bereich ‚Widerstand gegen die Staatsgewalt‘ seit längerem eine Zunahme. Von 2013 bis 2017 stieg die Zahl der Verdächtigen um 11 Prozent. Zeitgleich nahm die Zahl nichtdeutscher Verdächtiger um 57 Prozent zu.“
Eben hat die neu gewählte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer eine „Arbeitsgruppe Migration“ ins Leben gerufen. Sie will damit dem Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit entgegenkommen, denn es haben sich in den letzten Wochen und Monaten die Fälle überdurchschnittlich gehäuft, bei denen muslimische Migranten übergriffig wurden, deutsche Frauen vergewaltigten und töteten oder – wie in Chemnitz am 26. August – einen deutschen Mann ermordeten.
Die deutsche Regierung kann diesen Ereignissen nicht länger tatenlos zuschauen, sonst haben wir bald ähnliche Zustände wie in Frankreich oder England.

Sonntag, 9. Dezember 2018

"Der kostbarste Schatz des Glaubens" - Zur Vaterunser-Auslegung Simone Weils (Fortsetzung)


Pfarrer Becker fährt auf Seite drei des Manuskriptes, das er seinen Hörern vervielfältigt hat, fort:
„Simone Weil ist nach dieser existentiellen Begegnung mit dem Christus im Gebet des Herrn zur Auslegerin des Vaterunsers geworden. – Das Vaterunser als das Gebet des Sohnes zum Vater ist der kostbarste Schatz des Glaubens. Es besitzt, wie die Evangelien selbst, sakramentalen Charakter, und bildet so das Fundament der Kirche als der Gemeinschaft der Liebe. In ihm als dem vollkommensten Gebet sind alle anderen möglichen Gebete enthalten. Spricht man also das Vaterunser mit ungeteilter Aufmerksamkeit in der Hinwendung zu Gott, so macht es den Vater selbst herniedersteigen und der Seele das Gottesreich, den Frieden und die Freude im heiligen Geist schenken und bringen.“
Während in Paris, Berlin, Frankfurt, Heidelberg und vielen anderen Städten auf der ganzen Welt die Studenten gegen den Vietnamkrieg, den US-Imperialismus und gegen die repressive Gesellschaft demonstrierten und protestierten, sprach in der kleinen Provinzstadt Ellwangen ein Pfarrer vom Vaterunser, vom Gottesreich, von Frieden und von Freude. Während sich die Studenten an Karl Marx, Lenin oder Mao orientierten, führte uns Pfarrer Becker in das Denken von Simone Weil ein. Während die Studenten an den „Histomat“ (Historischer Materialismus) glaubten, eröffnete uns Peter Becker den Zugang zur esoterischen Seite des Christentums.
Während die Studenten mit Rudi Dutschke und Danny le Rouge (Daniel Cohn-Bendit) den Weg nach außen gewählt hatten, führte uns Pfarrer Becker auf einen inneren Weg.
Natürlich waren wir auch angehaucht von den Ideen der Studenten, vom Kommunismus in seiner Idealform und von den Utopien einer klassenlosen Gesellschaft, in der nicht mehr die Reichen über die Armen herrschen. Peter Becker stellte daneben das Christentum in einer ihrer edelsten und wahrhaftigsten Vertreterinnen, der Jüdin Simone Weil.
Das war eine Geistestat erster Ordnung.
Peter Beckers Geistestat wirkt offenbar – wenn auch unbewusst – bis heute nach. Mit großer geistiger Gewalt brach sie sich in dieser Adventszeit 2018, wo in Frankreich wieder Menschen demonstrieren und protestieren, ihren Weg durch zu meinem Bewusstsein und – wenn es Gott gefällt – zum Bewusstsein einiger anderer Menschen, die diesen Text, den ich für würdig finde, gelesen zu werden und ihn deshalb dem Vergessen entreiße, gleichzeitig mit mir studieren.
Für mich persönlich war das Wirken Peter Beckers vor 50 Jahren der Beginn eines Weges, der mich – ganz ungeplant – über meinen zweiten[1] und dritten Lehrer[2] zu einer Weltanschauung führte, die mir heute wertvoll ist, weil sie mir Sicherheit im Geiste und einen unerschütterlichen Sinn im Leben gibt.
Peter Becker fährt fort:
„Durch die Berührung mit dem griechischen Vaterunser im Urtext des Evangeliums hat Simone Weil, von dem Christus ergriffen, den Weg der Hingabe im Glauben gefunden und gehen gelernt – bis hinein in den Tod. Der Herr selbst ist zu ihr gekommen und hat sie mit sich genommen. Das Vaterunser wurde der Weg des Christus in ihrer Seele. – Vom Herbst 1941 an hat sie das Gebet des Herrn immer wieder neu ausgelegt (Die umfassendste Auslegung findet sich unter dem Titel ‚A propos du Pater‘ in dem von P. Perrin posthum herausgegebenen Band mit Briefen und Abhandlungen aus der Marseiller Zeit, ‚Attente de Dieu‘, S. 167 – 176. In dem Tagebuchband aus der amerikanischen und englischen Exilzeit, ‚La connaissance surnaturelle‘ (1942 – 1943), finden sich fragmentarische Ansätze zur Vaterunsererklärung S. 262 ff, 102, 261 und endlich in den ‚Lettres de Londres‘ S. 165f).“
Ich habe bisher nie einen Originaltext von Simone Weil gelesen, allerdings auch nie einen Originaltext von Karl Marx. Es erstaunt mich nur, wie jener evangelische Theologe, den es für ein paar entscheidende Jahre als (durchaus nicht unumstrittener) Stadtpfarrer nach Ellwangen verschlagen hat, so gründlich diese Originaltexte studiert hat, sowohl die von Simone Weil als auch die von Karl Marx, wie wir bald erfahren würden. Daneben aber auch die Grundtexte des Buddhismus, Hinduismus und Taoismus.
Dieser Mann öffnete einem kleinen Häufchen von Menschen in der katholischen Kleinstadt einen weiten geistigen Horizont.

Für mich war diese Lebensbegegnung in meinem 17. Lebensjahr die Vorbereitung zu der zweiten, die ich in meinem 20. Lebensjahr haben durfte, als ich mit Bertold Hasen-Müller im Herbst 1971 zum ersten Mal von Rudolf Steiner hörte. Ich werde nie vergessen, wie er zum ersten Mal von ihm sprach. Völlig überraschend sagte er in der kleinen Runde, aus der die neu eingerichtete Philosophie-AG bestand, mich dabei anschauend: „In seinen jungen Jahren sah er genauso aus wie Johannes.“



[1] Bertold Hasen-Müller führte mich in seiner Philosophie-AG zur Anthroposophie und zur Dreigliederung.
[2] Professor Heinz Schlaffer eröffnete mir einen Zugang zur esoterischen Seite von Johann Wolfgang Goethe.

Samstag, 8. Dezember 2018

Die Dimensionen der Unendlichkeit - Peter Beckers Text über Simone Weil aus dem Jahr 1968 (Fortsetzung)


Ich wende mich wieder dem Text von Peter Becker zu, dessen Hauptgedanken mich in der Tiefe berühren, 50 Jahre nach seiner Entstehung. Jetzt erst fühle ich mich reif, um ihn zu verstehen und in mich aufzunehmen – voller Dankbarkeit gegenüber meinem verehrten Lehrer, zu dem ich leider den äußeren Kontakt verloren habe (durch die Arbeit an seinem Text versuche ich zumindest den geistigen Kontakt zu pflegen).
Peter Becker fährt fort:
„Nun nimmt sie also mit Thibon das Gebet des Herrn Wort für Wort durch – und führt ihn so zugleich ins Griechische des Neuen Testaments ein. Die beiden versprachen sich – es war im Sommer 1941 – das Gelernte jeweils sich auswendig einzuprägen. Nun folgt die mystische Erfahrung: als sie einige Wochen später im Evangelium blätterte, in das sie sich immer mehr vertieft hatte – da ‚hat die unendliche Süßigkeit dieses griechischen Textes (des Vaterunsers) mich derart ergriffen, dass ich einige Tage lang nicht umhin konnte, ihn mir unaufhörlich zu wiederholen‘. Eine Woche später begann sie als Winzerin auf den Gärten des Weinbauers Rieux in St. Julien de Peyrolas im Tal der wildverschlungenen Ardeche bei der Weinlese mitzuarbeiten. Unter den Weinstöcken liegend rezitierte sie beim Traubenschneiden (sie konnte sich bückend nicht mehr aufrecht halten) den heiligen griechischen Text – und von da an sprach sie Morgen für Morgen vor Arbeitsbeginn mit ‚unbedingter Aufmerksamkeit‘ (avec une attention absolue). Sie erfährt die außerordentliche Kraft dieser Übung – ‚sie übertrifft jedes Mal meine Erwartung‘. Was geschieht ihr, der leidenden Arbeiterin, die von echt jüdischer Glut des Glaubens erfüllt ist?“
Es berührt mich, dass es ausgerechnet eine Jüdin ist, die solche Erfahrungen machen darf. Gestern erfuhr ich bei einer Betrachtung zur „Wiederkunft Christi“ nach der Menschenweihehandlung, dass in der "Offenbarung" (Apok. 1, 7) steht, dass unter den Menschen, die den ätherischen Christus sehen werden (auf Wolken wiederkommend) auch diejenigen sein werden, die ihn „durchstochen“ haben. Damit können nur die Juden gemeint sein, die einst vor Pilatus gerufen haben: „Kreuzige ihn!“ In einer früheren „Betrachtung“ habe ich erfahren, dass man den Ausruf der Juden „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ auch so verstehen kann, dass der Christus auch ihnen „vergibt“, denn sie wussten nicht, was sie taten. Jesus von Nazareth musste ja sterben. Es musste folglich Menschen geben, die diese Tat zur Erlösung der ganzen Menschheit auslösten. Durch das Blut, das auf Golgatha vom Kreuze floss, sind nun auch die, die ihn „durchstochen“ haben, erlöst und werden ihn schauen, auf Wolken kommend, so wie es Simone Weil widerfahren ist.
Wenn Peter Becker in seinem Text erzählt, wie die jüdische Winzerin unter den Weinstöcken der Ardeche liegt, um die Trauben zu lesen, dann kann ich mir vorstellen, wie der „Wein“ auf ihr Gesicht und ihren ganzen Körper tröpfelt. Der Wein ist ja in der Eucharistie das Symbol für Christi Blut.
Der Text von Peter Becker geht weiter:
„Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe los und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Leibes und des Raumes, wo es weder Perspektive noch Blickpunkt gibt. Der Raum tut sich auf. Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten oder manchmal auch dritten Grades. Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, das nicht Abwesenheit von Klang und Ton ist, sondern vielmehr Gegenstand einer positiven Erfahrung, sehr viel positiver und wirklicher als die eines Klanges. Geräusche, wenn welche da sind, erreichen mich erst, nachdem sie durch dieses Schweigen hindurchgegangen sind.“
So beschreibt eine naturwissenschaftlich geschulte Intellektuelle sehr exakt ihre mystische Erfahrung. Das erinnert mich an die Beschreibung der Sphärenharmonien von Johannes Kepler, aber auch an den Klang-Äther, von dem Rudolf Steiner beim Aufstieg der Seele in höhere Welten bei der Schulung spricht. Erst gestern las ich darüber in seinem Mailänder Vortrag vom 21. September 1911 (GA 130):
„In unserer Kulturepoche, der fünften, die bis in das vierte Jahrtausend dauern wird, werden die Seelen allmählich geeignet sein, die Christus-Wesenheit auf dem astralischen Plan zu erleben, und auf dem Astralplan wird die Christus-Wesenheit schon in unserer Epoche vom zwanzigsten Jahrhundert ab in einer Äthergestalt so für die Menschen sichtbar werden, wie sie in der vierten Epoche auf dem physischen Plan in einer physischen Gestalt sichtbar war.“
Wenn Simone Weil von der Unendlichkeit außerhalb der Unendlichkeit des Raumes spricht und dann sogar noch zwischen einer Unendlichkeit ersten Grades und einer Unendlichkeit zweiten Grades unterscheidet, so kann man diese Erlebnisse besser verstehen, wenn man Rudolf Steiners Angaben zu den „höheren Plänen“ zur Hilfe nimmt. Der uns am nächsten stehende übersinnliche Plan ist der Astralplan, der unmittelbar an die physische Welt angrenzt. Ich denke, bei Ohnmachten oder im Traum erreichen wir diesen „Plan“. Darüber gibt es jedoch noch weitere „Dimensionen“. Rudolf Steiner nennt sie in guter theosophischer Tradition, die im Prinzip auf die Geistigkeit des Hinduismus zurückgeht, das „untere Devachan“ und das „obere Devachan“. Er sagt voraus, dass die Menschen, welche in der fünften Kulturepoche den ätherischen Christus auf dem „Astralplan“ wahrnehmen, ihn in der sechsten Kulturepoche auf dem Plan des unteren, in der siebten auf dem Plan des oberen Devachan erleben können werden. Simone Weil spricht von einer Unendlichkeit „zweiten und dritten Grades“. Sie meint damit vermutlich nichts anderes als diese höheren Ebenen, von denen der Geistesforscher Kenntnis hat.
Rudolf Steiner fährt fort:
„Um nun diese ganze folgende Kulturentwickelung, in die unsere Seelen hineinsteuern, zu verstehen, ist es gut, dass wir nun tiefer auf die Eigentümlichkeiten unserer Seele in den folgenden Inkarnationen eingehen. Heute, in unserer intellektuelleren Periode, stehen für alle Seelen Intellektualität und Moralität ziemlich nebeneinander. Es kann heute jemand ein sehr kluger Mensch sein und dabei unmoralisch, umgekehrt kann man sehr moralisch sein und gar nicht klug.“
Das ist eine zentrale Aussage, die ich immer wieder bestätigt finde. In anthroposophischen Einrichtungen von Behinderten bin ich oft auf Menschen gestoßen, die intellektuell nicht auf der Höhe, aber moralisch absolut integer sind, zum Beispiel Anita. Umgekehrt habe ich viele schlaue Menschen getroffen, die intellektuell fit sind, aber in ihrem Leben nicht umsetzten, was sie theoretisch postulieren. Dazu gehören für mich all diejenigen, die „theoretisch“ die Flüchtlinge willkommen heißen, aber nicht bereit sind, einen von ihnen bei sich aufzunehmen. Menschen, die schon heute beide Eigenschaften vereinen, gibt es allerdings auch. So kenne ich einige Frauen aus dem Freundeskreis Asyl, die sich engagiert um einzelne Flüchtlinge kümmern. Der evangelische Pfarrer Peter Becker gehörte ebenfalls dazu, und in noch viel größerem Maße die jüdische Philosophin Simone Weil, die er so bewundert, weil sie eine Seelenverwandte ist.
Rudolf Steiner fährt fort:
„In der vierten Kulturepoche hat ein Volk prophetisch herankommen sehen dieses Nebeneinanderstehen von Moralität und Intellektualität, und dieses Volk ist das althebräische Volk. Daher suchten die Glieder des alten hebräischen Volkes eine künstliche Harmonie herzustellen zwischen Moralität und Intellektualität, während zum Beispiel bei den Griechen eine mehr natürliche Harmonie dazumal bestand. Wir können heute aus den Dokumenten der Akasha-Chronik erkennen, wie die Führer des althebräischen Volkes diese Harmonie zwischen Moralität und Intellektualität herzustellen suchten. Sie hatten Symbole, die sie so genau kannten, dass, wenn sie diese Symbole in einer gewissen Weise anschauten und auf sich wirken ließen, eine gewisse Harmonie zwischen dem, was gut, was moralisch und was weise ist, hergestellt werden konnte. Diese Symbole trugen die priesterlichen Führer des althebräischen Volkes an der Brust. Das Symbolum für die Moralität hieß Urim, das Symbolum für die Weisheit Tummim.“
Bei Simone Weil wirkten die zweimal drei Bitten des Vaterunsers[1], von denen wir später hören werden, wie diese nach innen gekehrten Symbole Urim und Tummim.
Der Text von Peter Becker geht weiter:
„Durch das distanzierende Schweigen hindurch tritt der Christus auf sein Kind zu: ‚Mitunter auch ist während des Aufsagens der Christus in Person anwesend, jedoch mit einer viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, da er mich ergriffen hat.‘ Dies ist, was sie P. Perrin anvertraut – in der Ahnung ihres baldigen Todes (der nur wenig mehr als ein Jahr noch auf sich warten lassen sollte). ‚Dann schließlich‘, fügt sie gleichsam entschuldigend hinzu, ‚handelt es sich bei alledem nicht um mich. Es handelt sich nur um Gott. Ich habe keinen Teil daran.‘ Sie empfindet sich als Abfall, als missratenes Tongefäß, als Auskehricht und Ausschussware, als verschimmelndes Brot und hinwelkendes Laub, gar wie ein Insekt, das infolge seiner Mimikry von dem umgebenden Laub gar nicht mehr unterschieden werden kann. Vor Gott, der göttlichen Gegenwart des Christus, ist sie nichts. Sie ist weniger als der Sklave, der nur tut, was seine Schuldigkeit ist.“
(Ende zweite Seite)



[1] Simone Weil kennt nur sechs Bitten. In Wirklichkeit sind es aber sieben, wenn man die beiden letzten trennt: „Führe uns in der Versuchung“ (6) und „Erlöse uns vom Bösen“ (7). Simone Weil trennt hier nicht. Für sie gehören die beiden Bitten zusammen. So kommt sie zu ihrer Sicht, die zweimal sechs Bitten umfasst und damit die zwei Dreiecke des Hexagramms symbolisch nachzeichnet. Darauf werde ich später noch genauer eingehen.

Peter Becker über Simone Weil - ein Text aus dem Jahre 1968 (Fortsetzung)




Als ich mich vor einigen Tagen an Pfarrer Becker erinnerte, da war es mir einen Moment lang so, als habe ihn das Schicksal nur wegen F. und mir und vielleicht noch zwei oder drei anderen Menschen nach Ellwangen geführt. Ich war damals zu jung, aber ich habe es durchaus mitbekommen, dass ihn die Amtskirche nicht besonders mochte. Er war immer ein freier Geist und hat sich nichts vorschreiben lassen. Er hat seine Arbeit gemacht, ohne jemanden zu fragen. Eigentlich hätte er, seinem Wissen und seiner Begabung nach, in eine Universitätsstadt gehört. In Ellwangen hatte er ja kaum Publikum. Aber das schien ihm nicht wichtig zu sein.
Wenn ich jetzt angefangen habe, sein achtseitiges, gründlich recherchiertes Manuskript zu Simone Weils Vaterunser-Auslegung abzutippen, dann kann ich mir vorstellen, wie viele Stunden er daran gesessen hat, um es zu verfassen.
Ich nehme mir heute Morgen die Zeit, es weiter abzutippen:
„Simone Weil, die zuvor nie ‚die Möglichkeit einer wirklichen Berührung von Person zu Person zwischen Gott und dem Menschen‘ auch nur ins Auge gefasst hatte, erfährt sich bei der Rezitation des Gedichtes ‚Love‘ des englischen ‚metaphysischen‘ Dichters George Herbert (1593 – 1632) von Christus selber ergriffen: ‚Einmal ist … der Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen.‘ – Doch noch verharrt sie bei halber Weigerung, nicht der Liebe, wohl aber der Vernunft. Denn sollte man nicht – bis zuletzt – Gott ‚aus reiner Sorge um die Wahrheit‘ widerstehen? Simone Weil, die denkende Mystikerin, schreibt: ‚Der Christus liebt es, dass man ihm die Wahrheit vorzieht, denn ehe er der Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzufolgen, wird man nicht weit kommen, bis man in seine Arme stürzt.‘ – Simone Weil war zeit ihres Lebens der von ihr erkannten und ergriffenen Wahrheit gefolgt. Sie ging den modernen Weg der wahrhaftigen Redlichkeit bis zuletzt.“
Diese Zeilen erinnern mich an die Devise der Rosenkreutzer, an die Rudolf Steiner anlässlich der Einweihung des Christian-Rosenkreutz-Zweiges in Hamburg am 17. Juni 1911 (GA 130) erinnert:
„In dem Augenblicke, wo nur der Name des Christian Rosenkreutz genannt wird, vertritt man den Grundsatz: Keine Religion sei höher als das Streben nach Wahrheit.“
Diesen Vortrag las ich, angeregt durch den Film „Grand Canyon“, am 4. Dezember 2018, also erst vor wenigen Tagen.
Natürlich schließt sich daran die Frage an: War Simone Weil eine Rosenkreuzerin? Sie ist am 3. Februar 1909 in Paris geboren und war 1937 bei ihrer ersten Christusbegegnung in Assisi gerade 28 Jahre alt, also noch nicht einmal 30.
Pfarrer Becker schreibt weiter:
„Auf diesem Weg unbedingter Wahrhaftigkeit begegnet ihr der Christus, heraustretend aus der Wahrheit. In diesem von ihr ungesuchten Lichte erkannte sie Platon als einen Mystiker, den sie bei ihrem berühmten Lehrer Alain immerhin als eine der Leuchten der Philosophie, des höchsten Preises wert, kennengelernt hatte.“
Das ist wieder solch ein versteckter Hinweis, den man nur mit geisteswissenschaftlicher Schulung richtig einordnen kann. Platon war der große Lehrer des Aristoteles. Er lehrte vermutlich als Alain de Lille (Alanus ab Insulis) auch an der Kathedralschule von Chartres, die zumindest als „platonische Schule“ gilt, während die später kommenden Dominikaner um Albertus Magnus und Thomas von Aquin eher in der aristotelischen Tradition standen.
Bei dem Philosophen Alain handelt es sich um Emile-Auguste Chartier[1], einen französischen Denker und Journalisten, der von 1868 bis 1951 lebte. Der Name „Alain“ ist eines seiner vielen Pseudonyme. Zuvor nannte er sich unter anderem nach einem Dialog von Platon auch „Criton“. Er lehrte eine Zeitlang in Lorient in der Bretagne, wo mein Vater während beziehungsweise nach dem Krieg für den Minenräumdienst der Marine stationiert war, später in Rouen und ab 1909 in Paris am berühmten Lycee Henri IV.
Ich hatte bis heute noch nie etwas von „Alain“ gehört, musste aber beim Abtippen dieses Namens sofort an Alanus ab Insulis denken, der auf Französisch Alain de Lille heißt.
Peter Becker fährt fort:
„Die Ilias schaut sie von christlichem Lichte durchflutet. Ja, sie empfand, dass Dionysos und Osiris in gewisser Weise der Christus selber sind – und meine Liebe (zu ihm) wurde hierdurch verdoppelt‘ (an Perrin)“
Hatte ich nicht erst gestern Rudolf Steiners Hinweis aufgegriffen, dass der Christus als Sonnenwesen bereits in allen nachatlantischen Kulturepochen geschaut werden konnte? Ich will hier die entsprechende Stelle aus dem Vortrag vom 19. September 1911 wörtlich zitieren:
„Während wir in der Buddha-Strömung, wie in jeder anderen, eine solche haben, die uns alle als Menschen betrifft, haben wir in der Christus-Wesenheit einen kosmischen Einschlag. Alle Bodhisattvas gehören zu den Individualitäten, die das Leben hier auf Erden durchmachen, gehören zur Erde. Die Christus-Individualität kommt von der Sonne und betritt die Erde erst mit der Johannestaufe, sie ist nur während drei Jahren in dem physischen Leibe des Jesus von Nazareth. Das Charakteristische dieser Christus-Individualität ist, dass es ihr bestimmt ist, nur während drei Jahren in der irdischen Welt zu wirken. Es ist dieselbe Wesenheit, auf die der Zarathustra hinwies, indem er sie den Ahura mazdao nannte, der hinter der sichtbaren Sonne steht, dieselbe, von der die heiligen Rishis kündeten, und von der die Griechen sprachen als von der Wesenheit, die dem Pleroma zugrunde liegt. Es ist die Wesenheit, die nach und nach zum Geiste unserer Erde geworden ist, zur Aura unserer Erde, seitdem ihr Blut auf Golgatha geflossen ist. Der erste, der sie so sehen durfte, dass er nicht unmittelbar durch das physische Ereignis dazu angeregt war, das war Paulus.“ (Vortrag vom 19.September 1911 in Locarno, GA 130, S 36)[2]
Ich fahre fort mit dem Text von Peter Becker. Je mehr ich mich mit ihm beschäftige, desto interessanter finde ich ihn:
„Dennoch leistete sie Gott noch Widerstand: ‚Niemals legte ich mir die Frage vor, ob der Christus eine Inkarnation Gottes sei oder nicht‘ – aber in der Liebe unterliegt sie dennoch: ‚…aber in der Tat war ich außerstande, an ihn zu denken, ohne ihn als Gott zu denken‘. – Als sie dann noch zur Lektüre der indischen sakralen epischen Dichtung Bhagavad-Gita kam, wurde ihr auch hier Gottes Inkarnation (in der Gestalt des Gottes Krishna, der zu Arjuna redet) deutlich.“
Nun schwenkt Pfarrer Becker an der Hand von Simone Weil zu seinem zweiten großen Thema, dem Hinduismus beziehungsweise Buddhismus über, indem er auf die heiligen Schriften der Inder hinweist, die Simone Weil, die extra Sanskrit gelernt hatte, im Original lesen konnte.
„Simone Weil erkannte die besondere Zustimmung, die wir gemeinhin der religiösen Wahrheit schuldig sind. – Aber noch weigert sie sich der Eröffnung der wesenhaft-lebendigen Gottesgemeinschaft, dem Gebet.“
Das sind Formulierungen, die von einem unglaublich tiefen spirituellen Verständnis zeugen, wie ich es bisher nur bei Rudolf Steiner gefunden habe. Mit dem letzten Satz endet die erste von insgesamt acht eng beschriebenen Seiten des Manuskripts. Zum ersten Mal wird hier mit dem Wort „Gebet“ auf das eigentliche Thema hingewiesen, nämlich auf Simone Weils Vaterunser-Auslegung.
Dennoch bleibt Peter Becker zunächst noch bei der Biografie der französischen Mystikerin und schreibt:
„Simone Weil, unterdessen in die freie Zone ihres französischen Vaterlandes geflohen, hatte mit Hilfe der Dominikaner in Marseille Beschäftigung als Landarbeiterin auf der Ferme des Dichters und Philosophen Gustave Thibon in St. Marcel d’Ardeche im unteren Rhonetal gefunden. Dort arbeitete sie in den Weingärten unerkannt unter den Saisonarbeitern bis zur physischen Erschöpfung ihrer sowieso labilen Gesundheit. Sie lehnte eine Unterkunft im Bauernhaus der Thibons ab und nächtigte stattdessen im verfallenden ‚Haus der vier Winde‘ über dem Flusstal mit einem herrlichen Ausblick auf die unabsehbaren Fruchtgärten des Tales. Im Hintergrund hebt sich der ‚Zeugenberg‘ der Provence, der altehrwürdige Mont Ventoux aus der Ebene.“
Peter Becker schildert die Landschaft und die Natur so, als wäre er bei einer Reise auf den Spuren von Simone Weil selbst einmal dort gewesen. Diese Schilderung erinnert mich wieder an die Worte Rudolf Steiners zu Beginn seines Locarner Vortrages:
„Entweder weiß der Mensch oder er ahnt es, dass in allem, was uns als Natur, als Wald und Gipfel, als Wetter und Gewittersturm umgibt, eine Geistigkeit waltet, die, nach dem Ausspruche einer bedeutenden Persönlichkeit des Abendlandes, schon eine Geistigkeit ist, welche konsequenter ist als das Handeln und Fühlen und Denken des Menschen. Die Ahnung muss uns ja überkommen, dass in alledem, was uns so umgibt als Wald und Gipfel, Berg und See, der Geist spricht. Und in der Geisteswissenschaft werden wir ja immer mehr und mehr gewahr, wie aus allem, was uns in der Natur umgibt, aus allem, was uns als fester Boden trägt, das, was daraus spricht, Geist ist.“ (Rudolf Steiner am 19.09.1911 in Locarno, GA 130)
„Simone Weil war ihren Gastgebern eine unbequeme und eigenwillige Heilige. Aber bald überzeugte sie Gustave Thibon durch ihre immense und tiefgründige Spiritualität nicht nur vom Recht, sondern auch der Notwendigkeit ihres Lebensstiles und versöhnte sie durch Öffnung ihres Inneren den bekannten katholischen Denker auch mit ihrer hartnäckigen Weigerung, die Schwelle der Kirche (in der Taufe) zu überschreiten. Des Abends, auf der Steinbank vor der Ferme an der alten, jetzt versiegten Quelle, führte sie Thibon in das sprachliche und darauf folgend in das mystische Verständnis des Vaterunsers ein. Später schreibt sie an ihren Seelenführer, den Pater Perrin: ‚Niemals hatte ich mich laut oder in Gedanken nur mit Worten an Gott gewandt. Niemals hatte ich – sie besuchte schon seit Jahren hin und wieder die Messe – ein liturgisches Gebet gesprochen (- auch während der Karwoche in Solesmes war sie also nur passive Zuhörerin gewesen -). Hin und wieder kam es wohl vor, dass ich vor mir selbst das Salve Regina aufsagte, doch nur als schönes Gedicht‘ (vierter Brief an Perrin von Mitte Mai 1942).“

Salve Regina
mater misericordiae;
Vita, dulcedo et spes nostra, salve.
Ad te clamamus, exsulses filii Hevae
Ad te suspiramus,
Gementes et flentes in hac lacrimarum valle.
Eia ergo, Advocata nostra
ilos tuos misericordes oculos
ad nos converte.
Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.

(Sei gegrüßt, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit
Unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt
Zu die rufen wir, die verbannten Töchter Evas;
Zu dir seufzen wir
Trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsere Fürsprecherin
Wende uns deine barmherzigen Augen zu
Und zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes
Nach dieser Verbannung.)


[2] Eben fällt mir ein, dass ich Peter Becker zum ersten Mal in einem Tagebucheintrag vom 18. September 1968 erwähnt habe (siehe dort). Das sind 57 Jahre, also etwa drei Mondknoten nach Rudolf Steiners Vortrag vom 19. September 1911).

Donnerstag, 6. Dezember 2018

Schwerkraft und Gnade - zur Christus-Erfahrung Simone Weils


Wie aus meinem 68er Tagebuch hervorgeht, das ich Tag für Tag abtippe, habe ich im Herbst 1968 Herrn Pfarrer Peter Becker kennengelernt, den ersten meiner drei „großen“ Lehrer. Ich wusste schon immer, dass er eine bedeutende Persönlichkeit war, aber wie groß sein Geist war, das kann ich mir erst jetzt – nach 50 Jahren – klar machen. Ich habe gestern zwischen 23.00 und 24.00 Uhr vor dem Schlafen einen seiner Texte gelesen, die er im Zusammenhang mit seinen Seminaren verfasst und hektografiert hat. Gott sei Dank habe ich diese Texte aufgehoben.
Im Grunde war Peter Becker viel zu groß für das kleine Ellwangen. Das wusste ich schon früher. In Ellwangen fand er als Stadtpfarrer und Religionslehrer überhaupt nicht das Publikum, das dieser bedeutende Theologe gebraucht hätte. Ich war viel zu jung und hatte kaum Begriffe, um seine Texte zu verstehen. Ich konnte nur mit offenem Mund dasitzen und staunen.
Erst jetzt beginne ich, diese Texte zu lesen und mir diesen Mann, der vielleicht schon gestorben ist, zu vergegenwärtigen. Ich sehe sein Gesicht wieder vor mir, in dem immer ein freundliches Lächeln war. Er lehrte nicht nur, sondern er setzte sich auch für Menschen ein. Er war ein gütiger und ein guter Mensch. Jedes Wort, das er sprach, lebte er auch.
Gestern wurde mir  – mit der Anthroposophie im Hintergrund – bewusst, wie spirituell Peter Becker tatsächlich war.
Deshalb möchte ich den Text, den ich gestern las, hier abtippen, auch, um diese Perle dem Vergessen zu entreißen (er umfasst acht dicht beschriebene Seiten. Ich tippe zunächst nur die biographische Einleitung ab). Ich weiß nicht, ob dieser evangelische Theologe, der versucht hat, den wenigen Ellwangern, die sich dafür interessierten, mit seinen Seminaren den Buddhismus und den Taoismus näher zu bringen, je ein Buch veröffentlicht hat.
Durch Pfarrer Becker habe ich die Jüdin Simone Weil (1909 – 1944) kennen gelernt. Über ihre Vaterunser-Auslegung hielt Pfarrer Becker am Sonntag, den 24. November 1968 ein Referat, das mit den Worten begann:
“Simone Weil bezeichnet den Einbruch der Mystik in die moderne Welt.“
Schon solch ein Satz steht vor mir wie das Portal einer Kathedrale, in die ich gleich eintreten werde. Und es erinnert mich natürlich an eines der ersten Bücher Rudolf Steiners, das auf Vorträgen kurz nach der Jahrhundertwende basiert: „Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung.“
Ich weiß nicht, ob Pfarrer Becker damals bereits Rudolf Steiner kannte. Viel später, 2002, an meinem 50. Geburtstag, erfuhr ich, dass seine Frau, ebenfalls Theologin, an Waldorfschulen evangelische Religion unterrichtet hat.
Der Text, den ich auch stilistisch für besonders gelungen erachte, fährt fort:
„Als Frau führte sie ein hartes, entbehrungsvolles Leben.“
Auch dieser Satz ist kurz und bündig wie eine Statue am Portal. Vor mir sehe ich also nicht einen Mann, sondern diese bestimmte Frau. Die Attribute genügen, um die Biographie dieses Menschen nahezu umfassend zu beschreiben: „hart und entbehrungsreich“.
„Im Spanienkrieg kämpfte die im Jahre 1909 geborene Anarcho-Marxistin und Philosophieprofessorin an verschiedenen Lyceen besten Glaubens auf der Seite der Unterdrückten.“
Auch hier scheint nicht nur das Wesen von Simone Weil durch die Worte, sondern auch das Wesen Peter Beckers, der – wie ich immer spürte – geradezu eine Art höherer Liebe zu der bereits Verstorbenen empfand. Noch an meinem 50. Geburtstag, zu dem ich ihn eingeladen hatte, erwähnte er sie in einer Art und Weise, als würde alle Welt diese außergewöhnliche Frau kennen. Er war immer noch begeistert von der ursprünglichen „Anarcho-Marxistin“, der „Kämpferin für die Unterdrückten“ und der mutigen Teilnehmerin am Spanischen Bürgerkrieg, in dem zum Beispiel auch Ernest Hemingway auf Seiten der Republikaner gegen die Faschisten gekämpft hatte, wie mir schon damals aus der Hollywood-Verfilmung seines Romans „Wem die Stunde schlägt“ mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann bekannt war.
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Peter Becker, der bei einer eben durchgeführten Recherche im Internet einfach nicht aufzufinden war, schreibt weiter:
„Doch lernte sie unmenschliche Grausamkeit auf beiden Seiten der Bürgerkriegsfronten kennen. Davor schauderte sie zurück. Der gerechte Krieg wurde ihr fragwürdig.“
Solche Worte muss man aus dem Kontext der 68er Jahre lesen. Damals tobte der Vietnam-Krieg. Die linken Studenten kämpften zwar nicht an der Seite der kommunistischen Vietcong, aber sie bewunderten den südamerikanischen Revolutionär Che Guevara, der forderte: „Schafft ein, zwei viele Vietnams!“ und damit meinte, dass es richtig sei, auf der Seite der Unterdrückten gegen den US-Imperialismus auch mit Waffen vorzugehen, wie er es in Kuba und später auch in Bolivien tat. Pfarrer Becker distanziert sich in diesem Text sowohl von den linken wie den rechten Kämpfern und stellt mit der Verneinung des „gerechten Krieges“ jeden Krieg an den Pranger. Pfarrer Becker war im Herzen Pazifist.
„Sie musste sich fragen, wie der Frieden zusammen mit der Menschlichkeit errungen werden könne. Die Naziherrschaft breitete sich über Europa aus. 1940 musste Simone Weil auf die Flucht vor der Judenvernichtung gehen. Unterdessen hatte ihr Leben eine Wende erfahren: Nach vorbereitenden Begegnungen mit christlicher Spiritualität und christlicher Armut war der besessen Arbeitenden und Suchenden während der Karwoche 1937 in der Abtei Solesmes (…) anlässlich der Exerzitien eine erste Christuserfahrung widerfahren, von der sie in zwei Briefen aus dem Jahre 1942 verhüllt Kunde gibt. Die unendliche Schönheit der gregorianischen Choräle reißt ihren Geist in Verzückung hinweg. Die von fast unerträglichen Kopfschmerzen gefolterte Intellektuelle, die sich bereits während eines Fabrikjahres in den Renaultwerken körperlich bis an den Rand des Ruins abgearbeitet hatte, erfährt aus der Finsternis der ‚Schwerkraft‘ (pesanteur) heraus die hinaufreißende Kraft der ‚Gnade‘ (grace). Die mit dem Feuerstempel der Sklavin gezeichnete Kreatur fand kraft einer unendlichen Anstrengung der ‚Aufmerksamkeit‘ (attente) den Ausweg ins Freie: Sie vermochte ‚aus diesem elenden Fleische herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden.‘ (In einem Brief an P. Perrin O.P. vom 15. Mai 1942 aus Casablanca). So begriff sie auf analoge Weise die Möglichkeit, die ‚göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben‘. Der Gedanke an die ‚Passion des Christus‘ fand ‚ein für allemal Eingang‘ in sie.“
Dieses Christuserlebnis berührt mich tief, entspricht es doch genau der Voraussage, die Rudolf Steiner ab dem Jahre 1910, also nur ein Jahr nach der Geburt der jüdischen Mystikerin, gemacht hat, nämlich dass ab dem Jahre 1930 zuerst einige wenige, dann immer mehr Menschen eine übersinnliche Christuserfahrung machen werden.
Im Vortrag vom 17. September 1911, den ich gestern ebenfalls „zufällig“ las, führt Rudolf Steiner diese Tatsache vor einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich in Lugano zusammengefunden hat, noch einmal auf. Rudolf Steiner war auf dem Weg nach Genua, wo ein theosophischer Kongress stattfinden sollte, der allerdings „in letzter Stunde“ abgesagt wurde. Es war die Zeit, als die theosophische Führung unter Annie Besant die Wiedergeburt Christi im Leibe eines indischen Knaben (Jidu Krishnamurti) verkündete. In der (lückenhaften) Mitschrift dieses Vortrages lese ich:
„Vor anderthalb Jahrtausenden war der physische Leib wesentlich weicher und biegsamer. Der physische Leib ist immer härter geworden. Dagegen ist auch in dem Ätherleib etwas ganz anderes geschehen, etwas, was der Mensch eben darum weniger erleben konnte, weil dieser Ätherleib eine Entwicklung nach aufwärts durchgemacht hat. Es ist bedeutsam, dass wir an dem wichtigen Zeitpunkte stehen, wo der Mensch gewahr werden muss, dass sein Ätherleib ein anderer werden soll. Das ist das Ereignis, welches gerade im zwanzigsten Jahrhundert sich abspielen wird. Während auf der einen Seite das Stärkerwerden des intellektuellen Elementes sich geltend macht, wird auf der anderen Seite der Ätherleib so viel selbständiger, dass die Menschen es werden merken müssen. Noch haben die Menschen eine Zeitlang nach dem Christus-Ereignis nicht so intellektuell gedacht wie die heutigen Menschen. Dieses Denken im Intellektuellen bewirkt, dass der Ätherleib immer selbständiger wird, dass er auch als selbständiges Instrument gebraucht wird. Und dabei kann bemerkt werden, dass er im geheimen eine Entwicklung durchgemacht hat, welche das Gewahrwerden des Christus im Ätherleib ermöglicht. So wie der Christus dazumal physisch gesehen wurde, wird er jetzt ätherisch geschaut werden können. So dass in diesem zwanzigsten Jahrhundert wie ein natürliches Ereignis ein Schauen des Christus eintritt, wie Paulus ihn gesehen hat. Es wird eine Anzahl von Menschen im Ätherischen den Christus sehen können. So dass man ihn auch kennen wird, den Christus, wenn alle Bibeln verbrannt wären. Wir brauchen dann keine Überlieferung, denn wir sehen ihn, wir schauen ihn. Und das ist ein Ereignis von einer  ähnlichen Bedeutung wie dasjenige, das sich auf Golgatha abgespielt hat. Immer mehr und mehr Menschen werden in den nächsten Jahrhunderten dazu kommen, den Christus zu schauen.“[1]
Interessant ist, dass Simone Weil die Ausdrücke „Schwerkraft“ (pesanteur) und „Gnade“ (grace) immer wieder benützt. Ihrem ersten Werk, das 1952 auf Deutsch erschien, gab sie den Titel „Schwerkraft und Gnade“. Ihre Aufzeichnungen aus dem Exil nennt sie „La connaissance surnaturelle“ (Die übernatürliche Erkenntnis). Der Ausdruck „die hinaufreißende Kraft der Gnade“ beschreibt exakt das, was Rudolf Steiner mit dem Ätherleib meint.
Es ist bekannt, dass die mosaische Religion als Buchreligion von ihren Anhängern lange vor den bibellesenden Protestanten eine intellektuelle Schulung verlangte, die Mitglieder dieses monotheistischen Glaubens bis heute vor allen anderen auszeichnet. Wenn Rudolf Steiner vor allem Menschen im Auge hat, die ihren Intellekt hervorragend ausgebildet haben, so sind die jüdische Philosophin Simone Weil und der jüdische Schriftsteller Joseph Roth, mit dem ich mich zurzeit intensiv beschäftige, hervorragende Beispiele unter tausenden. Bei beiden kann man eine Christuserfahrung konstatieren, die sie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht haben. In der „Legende vom heiligen Trinker“, Joseph Roths letzter Erzählung, die er kurz vor seinem Tode im Jahr 1939 vollendete, spielt die Heilige Therese von Lisieux eine ähnlich erweckende Rolle wie die Chorgesänge der Mönche von Solesmes im Leben der Simone Weil.
Es war immer meine Überzeugung, dass gerade die jüdischen Menschen prädestiniert sind, solche Christus-Erfahrungen zu machen, insbesondere jene, die in die Lager verbracht wurden. Das Leben der Simone Weil war im Grunde der Nachvollzug der Passion Christi. Das sehe ich als unbedingte Voraussetzung für die Christuserfahrung, die Rudolf Steiner prophezeit hat. Es ist gewiss kein historischer Zufall, sondern Menschheitskarma, dass gerade Angehörige der Religion, aus der auch Jesus von Nazareth hervorging, im 20. Jahrhundert solche Erfahrungen machen mussten, zweitausend Jahre, nachdem ihre Oberen den Messias im Fleische abgelehnt haben. In Israel warten die Zionisten heute noch auf das Kommen des Messias im Fleische, wie wir aus der neuen Biographie David Ben Gurions aus der Feder von Tom Segev  erfahren können, wenn der Autor schreibt:
„In seiner ganz eigenen Weise war er (Ben Gurion) auch in seinen Traum verliebt und hatte Angst, sich von ihm zu verabschieden. ‚Die messianischen Zeiten sind wichtiger als der Messias‘, sagte er. ‚Sobald der Messias da ist, hört er auf, Messias zu sein. Wenn man die Anschrift des Messias im Telefonbuch findet, ist er kein Messias mehr:‘ Und so erhoffte er dessen Ankunft – und auch wieder nicht.“[2]
Mit diesem Widerspruch müssen im Grunde alle Zionisten leben, die den leiblichen Messias in Jerusalem erwarten. Sie haben in Palästina mit Gewalt („um jeden Preis“) einen Staat geschaffen, weil es eine Prophezeiung gibt, dass der Messias in Zion auf einem Esel durch ein ganz bestimmtes Tor einreiten werde. Vielleicht haben im Gegensatz dazu jene Menschen jüdischen Glaubens die Ankunft des Messias ganz real erlebt, als sie in den Lagern im Angesicht des Todes lebten. Aber es war nicht die Wiederkunft im Leibe, wie sie auch die Britin Annie Besant verkündete, sondern das Wiedererscheinen Christi im Ätherischen, von dem Rudolf Steiner spricht. Seine Anschrift wird man nie im Telefonbuch finden und die messianischen Zeiten werden auch nicht auf ein Leben von Geburt bis zum Tod beschränkt sein, sondern, wie Rudolf Steiner voraussagt, dreitausend Jahre dauern:
„Hellseherisch wahrnehmen den Christus, ist immer möglich gewesen. Aber ihm zu begegnen, weil er jetzt anders zur Menschheit steht, nämlich so, dass er einem von der Ätherwelt aus hilft, das ist etwas, was (…) eine von unserer hellseherischen Entwicklung unabhängige Tatsache ist. Vom zwanzigsten Jahrhundert an, in den nächsten dreitausend Jahren werden gewisse Menschen ihm begegnen können, ihm objektiv als ätherischer Gestalt dann begegnen.“[3]



[1]  Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit, Ga 130 (Taschenbuchausgabe 2001, S 20f)
[2] Tom Segev, David Ben Gurion – Ein Staat um jeden Preis,, Siedler Verlag, München 2018, S 15
[3] A.a.O. S 23f