Donnerstag, 5. Dezember 2019

"Wohnraum ist keine Ware!" Immobilienfonds und ihre Renditen


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Samariterkirche Berlin, Inneres

Als ich gestern (05.12.19) kurz nach drei nach J. fuhr, um die gewünschten Tagebücher zu I. zu bringen, hörte ich eine Sendung aus der Reihe „Leben“ im Radio (SWR2), die mich bis jetzt beschäftigt.
Es ging um Mietpreiserhöhung und Investmentfonds. Seitdem die Europäische Zentralbank unter ihrem Chefbanker, dem Ex-Goldman-Sachs-Mann Mario Draghi, die Sparzinsen auf null reduziert hat, suchen Menschen, die viel Geld haben, nach neuen Anlagemöglichkeiten. Immer noch gibt es Menschen, die meinen, sie könnten ihr Geld dadurch vermehren, dass es angeblich „arbeitet“. Man nennt Gewinne, die man ohne Arbeit generiert, „Rendite“. Investmentfonds versprechen hohe Renditen, indem sie in Immobilien investieren, die Mieteinnahmen bringen.
Einen solchen Investmentfonds, deren Akteure normalerweise völlig im Dunkeln bleiben, schilderte die gestrige Sendung von Erika Harzer mit dem Titel „Wie der Immobilienmarkt Gewinner und Verlierer produziert“.[1]
Es geht um Wohnraum im ehemaligen Osten von Berlin, im „attraktiven Samariterviertel“: „gut erhaltene Altbauten, kleine Läden, breite Bürgersteige, keine Bäume. Kopfsteinpflaster zwingt die Autos, langsam zu fahren“, so leitet die Redakteurin die Reportage ein.
Ich höre das Wort „Samariter“ und musste unwillkürlich an das Gleichnis „Vom barmherzigen Samariter“ denken, von dem nur das Lukasevangelium berichtet (Luk. 10, 25 – 37)[2]. Samaria war neben Judäa und Galiläa eine der drei Provinzen des Heiligen Landes. Die Juden und die Galiläer aber sahen immer herab auf die Samariter. Sie waren die „Verachteten“. Nun stellt Jesus ausgerechnet solch einen „Outcast“ als Beispiel der aktiven „Nächstenliebe“ dar, um die Frage eines Schriftgelehrten nach dem „ewigen Leben“ zu beantworten.
Alle Samariter-Dienste und Samariter-Einrichtungen gehen auf dieses Gleichnis zurück. Das Berliner Stadtviertel rund um die Samariterkirche befindet sich etwa 3,5 Kilometer östlich des Alexanderplatzes im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.[3] Die in den Jahren 1892 – 1894 vom Evangelischen Kirchenverein erbaute neugotische Kirche ist eine von etwa 70 Kirchen, die auf die Initiative Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1890 – 1918 von dem Verein in ganz Deutschland errichtet wurden.
Die Berliner Samariterkirche war zur Zeit des Nationalsozialismus ein Zentrum des „Pfarrernotbundes“, aus dem sich im Mai 1934 die „Bekennende Kirche“[4] formierte, aus der so bekannte Pfarrer-Persönlichkeiten wie Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, der am 4. Februar 1906 in Breslau geboren wurde, aber seine familiären Wurzeln in Schwäbisch Hall hatte, hervorgingen; Bonhoeffer hat seine Opposition zu Adolf Hitler am 9. April 1945, also knapp einen Monat vor der Kapitulation des Dritten Reiches, im KZ Flossenbürg mit dem Leben bezahlt.
In der späteren DDR war das Gotteshaus unter Rainer Eppelmann und Günter Holwas ein Zentrum der aufstrebenden Friedensbewegung und DDR-Opposition. Insbesondere durch die damals (1979 – 1986) politisch hochbrisanten Blues-Messen erlangte die Samariterkirche landesweite Bekanntheit.
Es geht in der Sendung um ein vierstöckiges Mietshaus in der Samariterstraße.
Am 28. 12. 2018  hatte die Mieterin Synke Köhler ein 26-seitiges Schreiben mit der Ankündigung (auf Seite 21) bekommen, dass die Miete nach einer Renovierung von 547,40 Euro auf 1515,64 Euro Netto-Kaltmiete erhöht werden würde. Das wäre eine Mieterhöhung um 950 Euro. Entsprechende Schreiben gingen auch bei den 23 anderen Mietparteien ein. Das Mietshaus hat also 24 Wohnungen. Wieder erinnert mich diese Situation an den Adventskalender.
Synke Köhler ist Mieterin seit über 20 Jahren. Sie ist wie die anderen Mieter zufrieden mit der Wohnqualität. Die Heizung funktioniert und die Wohnungen bedürften eigentlich keiner Renovierung.
Synke Köhler ist Ende 40, die Eheleute Fromm, die schon seit 54 Jahren in ihrer Mietwohnung leben, sind schon über 80 Jahre alt. Diese können sich nicht mehr wehren und beide sind seit dem Schock, der durch das Schreiben ausgelöst wurde, traumatisiert.
Synke Köhler hat dagegen einen Rechtsanwalt eingeschaltet und einen Verein ins Leben gerufen. Sie ist Schriftstellerin und hatte bereits zwei Jahre, bevor sie selbst betroffen war, über die Mietsituation am Penzlauer Berg einen Roman geschrieben, der den Titel „Die Entmieteten“[5] trägt. Auszüge aus diesem Buch werden in der Sendung zitiert: „Die Aktionäre freuten sich über die Rendite. Die Aktionäre wedelten auf ihrer Versammlung mit den Anteilsscheinen, wedelten die Mieter wie lästige Fliegen aus ihren Häusern.“ Oder: „Hier, neben dem Wasserturm, war eine Insel der Alteingesessenen. Hier wohnten immer noch viele, die in den 60er Jahren ihre erste Wohnung bekommen hatten und nie weggezogen waren. Ganz Berlin wurde entwohnt. So kam es einem zumindest vor. Die Menschen wurden ausgetauscht, wurden separiert: Hier die mit Geld und hier die ohne.“
Das erinnert mich fatal an die Zeit des Nationalsozialismus, als schon einmal solch eine „Separierung“ stattgefunden hat. Damals betraf es die „mit Geld“, die reichen Juden, die ihre Villen oder Häuser in bester Lage verlassen mussten, damit Parteifunktionäre oder „Reichsdeutsche“ sie günstig erwerben konnten. Diese Geschichte habe ich erst vor kurzem, am Gedenktag der Reichskristallnacht, durch den Dokumentarfilm „Menschliches Versagen“ von Michael Verhoeven erfahren, der sich vorwiegend auf die Stadt München konzentrierte.[6] Das Erschreckende an dem Film war, dass die Mehrheit der Deutschen geschwiegen hat. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer Menschen zeigt sich 80 Jahre später wieder, als sei nichts passiert.
„Wir lieben Altbau. Mit dem richtigen Feingefühl am Puls der Wohnungswirtschaft agieren“, so wirbt die Webseite des Immobilienfonds der „Fortis Group“, die mit offiziellem Namen „Fortis Real Estate Investment GmbH“ heißt und im Jahre 2013 gegründet wurde. [7] „Real Estate“ ist das englische Wort für Immobilie.
Das „Feingefühl“, von dem die Webseite erzählt, bekamen die Mieter und Mieterinnen der Samariterstraße allerdings nicht zu spüren.
In der Sendung kommt schließlich heraus, dass mit dem Fonds der Fortisgroup, deren Geschäftsführer selbst Zahnarzt ist, die Altersversorgung von Zahnärzten gesichert werden soll. Synke Köhler und ihr Verein haben dann 1000 Zahnärzte, die in diesen Fonds einzahlen, per Mail kontaktiert und auf die Situation der durch die Mietpreiserhöhung betroffenen Mieter aufmerksam gemacht. Nur ein einziger hat geantwortet und Verständnis gezeigt.
Das ist das wirklich Erschreckende in unserer Zeit: die allgemeine Gleichgültigkeit der Wohlhabenden gegenüber den Armen.
Seit 2000 Jahren wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt, aber tausende würden heute noch an dem unter die Räuber Gefallenem vorbeigehen.



[7] https://www.fortis-group.de/Die FORTIS Group wurde 2013 aus einem erfahrenen Gesellschafterkreis in enger Zusammenarbeit mit Family Offices gegründet. Der Fokus des Unternehmens ist die Bestandshaltung sowie Privatisierung von ausgewählten, wohnwirtschaftlich nutzbaren Immobilien in Berlin und Potsdam. Seit Gründung hat die FORTIS Group insgesamt 56 Objekte mit einem Umsatzvolumen von ca. 610 Millionen angekauft und vielfältige Projekte, u.a. in Charlottenburg, Tiergarten, Schmargendorf, Friedrichshain, Schöneberg, Kreuzberg, Steglitz und Mitte, umgesetzt.“

Russen und Deutsche - Gedanken zum Weltkrieg



Otto Dix, Triptichon "Krieg" (1932), Galerie neuer Meister, Dresden

Als ich gestern die Autobiographie von Michael Gorbatschow, die ich leider nicht zu Ende gelesen habe, obwohl ich das Buch um einen Monat verlängert hatte, bei der Stadtbibliothek zurückgab, fand ich im Regal aussortierter Bücher einen Band, der mich interessierte: „Iwans Krieg – Die Rote Armee 1939 – 1945“ von der britischen Historikerin Catherine Merridale (S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2006, Weltbild 2008).
Das Buch beginnt mit einer Schilderung des zentralen Roten Platzes in der Stadt Kursk. Ich weiß schon, dass in oder bei dieser Stadt eine mörderische Panzerschlacht stadtgefunden hat. Was mich aber noch mehr mit dieser Stadt – indirekt – verbindet, ist die Tatsache, dass Lenas Vater Fjodor (Friedrich) dort geboren ist und dass auch ihr Großvater dort gelebt hat, der noch in der Sowjetunion gegen die Deutschen gekämpft und zahlreiche goldene und silberne Tapferkeitsmedaillen bekommen hat, die leider in den chaotischen 90er Jahren bei einem Einbruch gestohlen worden sind. Lena sagte heute Morgen traurig, dass damit sogar die Erinnerung an jene opferreichen Kämpfe ausgelöscht wurde.
Immer wieder stehe ich erschüttert vor der unglaublichen Leidensfähigkeit des russischen Volkes, wenn ich folgende Zeilen bei Catherine Merridale lese:
„Welchen Maßstab man auch anlegt, dieser Krieg sprengte die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Schon die Statistiken wirken erdrückend. Als er im Juni 1941 ausbrach, bereiteten sich etwa sechs Millionen Soldaten, deutsche und sowjetische, auf den Kampf an der Front vor, die sich über nahezu zweitausend Kilometer durch Marsch- und Waldland, Dünenstrände und Steppen wand. Die Sowjets hielten im fernen Osten bereits weitere zwei Millionen Mann unter Waffen, die dann binnen weniger Wochen zum Einsatz kamen. Als sich der Konflikt im Laufe der nächsten beiden Jahre zuspitzte, zogen beide Seiten zusätzliche Truppen zusammen, um sie in verlustreichen Bodengefechten einzusetzen. 1943 war es nichts Ungewöhnliches, wenn an der Ostfront insgesamt mehr als elf Millionen Männer und Frauen gleichzeitig kämpften.
Entsprechend gigantisch stellten sich die Opferzahlen dar. Im Dezember 1941, sechs Monate nach dem Überfall, hatte die Rote Armee bereits viereinhalb Millionen Mann verloren. In Massen führte man Gefangene ab. Dabei besaßen die Deutschen nicht einmal genügend Wachen, geschweige denn den Stacheldraht, um die in den ersten fünf Kriegsmonaten gefangenen zweieinhalb Millionen Rotarmisten unter Verschluss zu halten. Allein die Verteidigung Kiews kostete die sowjetische Seite innerhalb weniger Wochen beinahe siebenhunderttausend Mann an Gefallenen oder Vermissten. Fast die gesamte Vorkriegsarmee war 1941 tot oder interniert. Und das Ganze wiederholte sich, als man eine weitere Generation in Uniform steckte, um sie töten, gefangen nehmen oder verstümmeln zu lassen. Insgesamt wurde die Rote Armee im Verlauf des Kriegs mindestens zweimal völlig vernichtet und erneuert. Offiziere – mit einer Verlustrate von fünfunddreißig Prozent, rund dem Vierzehnfachen der zaristischen Armee im Ersten Weltkrieg – musste man fast ebenso schnell rekrutieren wie einfache Soldaten.
Aufgeben kam nie in Betracht. Obwohl britische und amerikanische Bomber die Deutschen weiter aus der Luft angriffen, war den Soldaten der Roten Armee von 1941 an schmerzlich bewusst, dass es an ihnen als der letzten großen Streitkraft hängen würde, die Hitler’schen Armeen niederzukämpfen. Sie warteten sehnlich auf die Nachricht, dass die Alliierten in Frankreich eine zweite Front eröffneten, kämpften jedoch weiter, in dem Wissen, keine andere Wahl zu haben. Dies war kein bloßer Handels- oder Gebietskonflikt. Sein Leitprinzip war die Ideologie, sein Ziel, eine Lebensweise auszulöschen. Zu unterliegen hätte das Ende der Sowjetunion bedeutet und den Genozid an Slawen und Juden. Das zähe Durchhalten forderte einen schrecklichen Preis: Die Sowjets kostete der Krieg mehr als siebenundzwanzig Millionen Menschenleben, die Mehrzahl davon Zivilisten, unglückliche Opfer von Deportationen, Hunger, Krankheiten oder direkter Gewalt. Doch von dieser grausigen Gesamtzahl entfielen allein auf die Rote Armee mehr als acht Millionen Gefallene. Das sind weit mehr als die militärischen Toten aller Parteien des Ersten Weltkriegs und steht im auffallenden Kontrast zu den Verlusten der britischen und der amerikanischen Streitkräfte von 1939 bis 1945, die nicht über eine Viertelmillion hinausgingen“ (S 13f)
Es ist erschütternd, solche Sätze zu lesen und zu versuchen, all das menschliche Leid, das sich hinter der Statistik verbirgt, in der Vorstellung aufzurufen. Jeder einzelne Gefallene war das völlig sinnlose Opfer einer Politik, in der sich zwei Ideologien feindlich gegenüberstanden, deren Repräsentanten zwei Völker waren, die eigentlich zur Freundschaft veranlagt sind.
Natürlich muss man, um die Ursachen dieser widernatürlichen „Feindschaft“ zu verstehen, erforschen, wer die beiden Völker aufeinander gehetzt hat. Diese Geschichte wird immer ausgeblendet.
Das Karma jener gewiss sehr wenigen Politiker, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zu verantworten haben, ist so ungeheuerlich, dass ich nicht weiß, wie es jemals ausgeglichen werden kann. Es ist vermutlich eine höhere Kategorie des Bewusstseins vom Karma nötig, um den Sinn solcher Kriege zu begreifen. Hier kann man nicht mehr nur den britischen „Tommys“, den deutschen „Fritz‘“ oder den russischen „Iwans“, also den tausenden und abertausenden einfachen Soldaten die Schuld zuschieben. Sie waren die Opfer, die – vermutlich in der unbewussten Nachfolge Christi – den Gang nach Golgatha angetreten sind, um die Taten jener wenigen, die sie in den Krieg gehetzt haben, karmisch zu sühnen. Nur so kann man das historische Geschehen von einem spirituellen Standpunkt aus verstehen. Dazu fällt mir das 24. Kapitel aus Martin Walsers neuester Erzählung „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“ ein, die im ganz kleinen Maßstab eine Ahnung von der Dimension solcher Opfer geben kann. Denn nur in einem kleinen Maßstab kann man sich dem größeren annähern
Dort heißt es:
„Gestern kam Sirte zu mir und sagte: Lieber Anton, es ist vollbracht. Entschuldige, anders kann ich es nicht sagen.
Jetzt ist es mein – bald hätte ich gesagt – Amt, es auszusprechen. Sozusagen öffentlich. Tatsächlich zittert mir die Hand, die das jetzt schreiben soll, darf, muss.
Die Wahrheit. Die Wahrheit ist etwas Paradiesisches. Sagen dürfen, was man will. Schöner kann nichts sein.
Es war der Alkoholiker, der die Sensation schaffte. Ludwig Proll, dem Sirte täglich diente, dass er sie und nicht Lisa, seine Frau, schlage. Plötzlich hörte er auf mit dem Schlagen und Trinken. Und sagte es uns allen, dass er es nicht mehr für möglich gehalten habe: Eine Frau lässt sich täglich schlagen, um zu verhindern, dass eine andere geschlagen wird. Das habe ihn so gerührt, sagte der Alkoholiker, dass er spürte, er könne dieses tägliche Opfer einer gewissen Sirte Zürn nicht ertragen, ohne durch und durch bewegt zu werden. Ja, wenn das möglich ist, dass eine Frau sich täglich schlagen lässt für eine andere, dann entstehe in ihm eine Kraft, die er nicht gekannt habe. Warum noch Alkohol, wenn so etwas möglich ist. Und das sei ihm passiert. Er habe plötzlich nicht mehr trinken können. Diese Sirte Zürn sei ihm spürbar geworden als eine bis dahin unbekannte Kraft.“
Diese „unbekannte Kraft“ erleben immer mehr Menschen, die einst Opfer der verfehlten Politik der wenigen waren, die die Völker aufeinander gehetzt haben. Von Lenas Vater weiß ich, dass die russischen Soldaten jeden Tag eine Ration Wodka bekamen, um in den Kampf zu ziehen. Am Ende des Krieges waren viele ehemaligen Kämpfer Alkoholiker.
Die Kriegstreiber und die Opfer sind wieder unter uns und ich habe die Hoffnung, dass die Menschen sich nicht wieder als Soldaten auf die Schlachtbank eines Dritten Weltkriegs lenken lassen, der dann noch mehr Menschenleben fordern würde als beide Weltkriege zusammen. Doch die Kriegstreiber versuchen es wieder: Ein im August 2019 im Berliner Tiergarten von einem Berufskiller getöteter tschetschenischer Terrorist dient ausgerechnet in dem Augenblick, als die Bundeskanzlerin sich mit 28 weiteren Staatschefs zum 70-jährigen Jubiläum der NATO in London aufhält, zum Vorwand, die „russische Aggression“ anzuprangern, von der Lena und ich nichts wissen, weil wir über russische und deutsche (Alternativ-) Medien davon nichts erfahren. Es gibt diese „russische Aggression“ in Wirklichkeit gar nicht, auch wenn sie immer wieder von den westlichen Medien (wie gestern Abend wieder durch Klaus Kleber im Heute-Journal) beschworen wird.
Catherine Merridale fährt fort:
„Seit dem Sieg der Roten Armee sind sechzig Jahre verstrichen, und sogar der Staat, für den die sowjetischen Soldaten kämpften, ist untergegangen; Iwan aber, der russische Schütze, das Pendant zum britischen Tommy und dem deutschen Fritz, bleibt uns ein Geheimnis. Uns, die wir von ihrem Sieg profitierten, erscheinen die Millionen sowjetischen Rekruten als eine anonyme Masse. Wir wissen zum Beispiel nicht, woher sie kamen, geschweige denn, woran sie glaubten oder aus welchen Gründen sie kämpften. Wir wissen auch nicht, wie das Erlebnis dieses Kriegs sie veränderte, wie seine unmenschliche Gewalt ihre Auffassung von Leben und Tod prägte. Wir wissen nicht, wie Soldaten miteinander sprachen, welche Lehren, Witze oder Lebensweisheiten sie austauschten. Und wir haben keine Vorstellung davon, zu welchen Gedanken sie innerlich Zuflucht nahmen, von welchen Inseln sie träumten, wen und wie sie liebten.
Das war keine alltägliche Generation. Bis 1941 hatte die 1918 gegründete Sowjetunion bereits ein beispielloses Maß an Gewalt erlitten. Nach den sieben Krisenjahren ab 1914 folgte der Bürgerkrieg (1918 – 1921) mit weiteren grauenhaften Kämpfen. Dieser brachte einen verzweifelten Mangel an allem, Brennstoff, Brot oder Decken, und Seuchen, gefolgt von jener Geißel, die Lenin als ‚Klassenkrieg‘ bezeichnete. Die daran anschließende Hungersnot war zwar ebenfalls in jeder Hinsicht schrecklich, doch als 1932/33 weit über sieben Millionen Menschen verhungerten, erschien das Elend von 1921, so ein Zeitzeuge, dagegen ‚wie ein Kinderspiel‘. Auch hatte der Kraftakt des ersten Fünfjahresplanes für Wirtschaftswachstum die Sowjetgesellschaft gespalten, zumal das Regime die Bauern in Kollektive trieb, politische Gegner vernichtete und einige Bürger zur Sklavenarbeit zwang. Jene Männer und Frauen, die 1941 kämpfen sollten, waren die Überlebenden einer Ära des Aufruhrs, der in kaum mehr als zwei Jahrzehnten weit über fünfzehn Millionen Menschenleben forderte.“ (S 16)
Die britische Historikerin, die den Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal aus der Perspektive des einfachen russischen Soldaten schildert, kommt damit an die Grundfrage: an das Geheimnis, wieso die Russen für einen Staat und eine Ideologie kämpften, die ihnen alles genommen hat: Land, Freiheit und Leben.
Sie spricht von „Martern“, die eine „außergewöhnliche Generation“ geschaffen haben und fährt fort:
„Viele Historiker unterstützen diese Deutung oder respektieren zumindest den Nachweis von stoischer Geduld und Selbstaufopferung einer ganzen Nation. ‚Rein materielle Erklärungen des sowjetischen Sieges sind nie recht überzeugend‘, schreibt Richard Overy in seiner maßgeblichen Studie über Russlands Krieg. ‚Man kann eine solche Geschichte nicht schreiben, ohne in irgendeiner Form die ‚Seele‘ oder das ‚Gemüt‘ des russischen Volkes mit einzubeziehen: Sie spielen eine viel zu große Rolle, als dass man sie als bloße Sentimentalität abtun könnte…‘“ (S 16f)
Meine Frage geht weiter: Für wen und wofür hat sich diese Generation, zu der Lenas aber auch meine Großeltern gehörten, aufgeopfert? Denn nicht nur die slawischen Menschen östlich der Elbe haben sich aufgeopfert, sondern auch die deutschen Menschen westlich des Schicksalsflusses, an dem sich vor 74 Jahren bei der Stadt Torgau russische und amerikanische Offiziere nach der Kapitulation des Dritten Reiches die Hände reichten. Beide Völker waren Opfer von falschen Ideologien und wurden von den beiden Vertretern dieser Ideologien – Adolf Hitler und Joseph Stalin – aufeinander gehetzt.
Ich bin meinem Schicksal dankbar, dass ich nun, zwei Generationen später, eine Frau als Freundin habe, deren Großeltern mütterlicherseits aus Rostov am Don und deren Großeltern väterlicherseits aus Kursk stammen. Die Don-Kosaken wurden von den Sowjets nach Sibirien und in die kasachische Steppe deportiert, weil sie Angst hatten, dass sie sich mit den vorrückenden Deutschen verbündeten. Die Russen aus Kursk kämpften in einer mörderischen Schlacht gegen die Deutschen. Schon in den Großeltern waren also sowohl freundliche als auch feindliche Beziehungen zu den Deutschen veranlagt. Der Untergang des Sowjetimperiums führte dazu, dass in den 90erJahren etwa vier Millionen Russlanddeutsche und ihre zum Teil russischen Ehepartner in die Bundesrepublik umsiedelten, darunter auch Lena.
Das Schicksal führte im Jahre 2016, hundert Jahre nach der Friedenschance im Ersten Weltkrieg, die von den Alliierten ausgeschlagen wurde, und 100 Jahre nach dem irischen Aufstand gegen das britische Empire, zwei zusammen, die noch vor zwei Generationen miteinander gekämpft und einander getötet hätten, weil es der Alkoholiker Winston Churchill so wollte.