Otto Dix, Triptichon "Krieg" (1932), Galerie neuer Meister, Dresden
Als ich gestern die
Autobiographie von Michael Gorbatschow, die ich leider nicht zu Ende gelesen
habe, obwohl ich das Buch um einen Monat verlängert hatte, bei der
Stadtbibliothek zurückgab, fand ich im Regal aussortierter Bücher einen Band,
der mich interessierte: „Iwans Krieg – Die Rote Armee 1939 – 1945“ von der
britischen Historikerin Catherine Merridale (S. Fischer-Verlag, Frankfurt am
Main 2006, Weltbild 2008).
Das Buch beginnt mit einer Schilderung des zentralen Roten Platzes in der Stadt Kursk. Ich weiß schon, dass in oder bei dieser Stadt eine mörderische Panzerschlacht stadtgefunden hat. Was mich aber noch mehr mit dieser Stadt – indirekt – verbindet, ist die Tatsache, dass Lenas Vater Fjodor (Friedrich) dort geboren ist und dass auch ihr Großvater dort gelebt hat, der noch in der Sowjetunion gegen die Deutschen gekämpft und zahlreiche goldene und silberne Tapferkeitsmedaillen bekommen hat, die leider in den chaotischen 90er Jahren bei einem Einbruch gestohlen worden sind. Lena sagte heute Morgen traurig, dass damit sogar die Erinnerung an jene opferreichen Kämpfe ausgelöscht wurde.
Das Buch beginnt mit einer Schilderung des zentralen Roten Platzes in der Stadt Kursk. Ich weiß schon, dass in oder bei dieser Stadt eine mörderische Panzerschlacht stadtgefunden hat. Was mich aber noch mehr mit dieser Stadt – indirekt – verbindet, ist die Tatsache, dass Lenas Vater Fjodor (Friedrich) dort geboren ist und dass auch ihr Großvater dort gelebt hat, der noch in der Sowjetunion gegen die Deutschen gekämpft und zahlreiche goldene und silberne Tapferkeitsmedaillen bekommen hat, die leider in den chaotischen 90er Jahren bei einem Einbruch gestohlen worden sind. Lena sagte heute Morgen traurig, dass damit sogar die Erinnerung an jene opferreichen Kämpfe ausgelöscht wurde.
Immer wieder stehe ich
erschüttert vor der unglaublichen Leidensfähigkeit des russischen Volkes, wenn
ich folgende Zeilen bei Catherine Merridale lese:
„Welchen Maßstab man auch anlegt,
dieser Krieg sprengte die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Schon die
Statistiken wirken erdrückend. Als er im Juni 1941 ausbrach, bereiteten sich
etwa sechs Millionen Soldaten, deutsche und sowjetische, auf den Kampf an der
Front vor, die sich über nahezu zweitausend Kilometer durch Marsch- und
Waldland, Dünenstrände und Steppen wand. Die Sowjets hielten im fernen Osten
bereits weitere zwei Millionen Mann unter Waffen, die dann binnen weniger
Wochen zum Einsatz kamen. Als sich der Konflikt im Laufe der nächsten beiden
Jahre zuspitzte, zogen beide Seiten zusätzliche Truppen zusammen, um sie in
verlustreichen Bodengefechten einzusetzen. 1943 war es nichts Ungewöhnliches,
wenn an der Ostfront insgesamt mehr als elf Millionen Männer und Frauen
gleichzeitig kämpften.
Entsprechend gigantisch stellten
sich die Opferzahlen dar. Im Dezember 1941, sechs Monate nach dem Überfall,
hatte die Rote Armee bereits viereinhalb Millionen Mann verloren. In Massen
führte man Gefangene ab. Dabei besaßen die Deutschen nicht einmal genügend
Wachen, geschweige denn den Stacheldraht, um die in den ersten fünf
Kriegsmonaten gefangenen zweieinhalb Millionen Rotarmisten unter Verschluss zu
halten. Allein die Verteidigung Kiews kostete die sowjetische Seite innerhalb
weniger Wochen beinahe siebenhunderttausend Mann an Gefallenen oder Vermissten.
Fast die gesamte Vorkriegsarmee war 1941 tot oder interniert. Und das Ganze
wiederholte sich, als man eine weitere Generation in Uniform steckte, um sie töten,
gefangen nehmen oder verstümmeln zu lassen. Insgesamt wurde die Rote Armee im
Verlauf des Kriegs mindestens zweimal völlig vernichtet und erneuert. Offiziere
– mit einer Verlustrate von fünfunddreißig Prozent, rund dem Vierzehnfachen der
zaristischen Armee im Ersten Weltkrieg – musste man fast ebenso schnell
rekrutieren wie einfache Soldaten.
Aufgeben kam nie in Betracht.
Obwohl britische und amerikanische Bomber die Deutschen weiter aus der Luft
angriffen, war den Soldaten der Roten Armee von 1941 an schmerzlich bewusst,
dass es an ihnen als der letzten großen Streitkraft hängen würde, die
Hitler’schen Armeen niederzukämpfen. Sie warteten sehnlich auf die Nachricht,
dass die Alliierten in Frankreich eine zweite Front eröffneten, kämpften jedoch
weiter, in dem Wissen, keine andere Wahl zu haben. Dies war kein bloßer Handels-
oder Gebietskonflikt. Sein Leitprinzip war die Ideologie, sein Ziel, eine
Lebensweise auszulöschen. Zu unterliegen hätte das Ende der Sowjetunion
bedeutet und den Genozid an Slawen und Juden. Das zähe Durchhalten forderte
einen schrecklichen Preis: Die Sowjets kostete der Krieg mehr als
siebenundzwanzig Millionen Menschenleben, die Mehrzahl davon Zivilisten,
unglückliche Opfer von Deportationen, Hunger, Krankheiten oder direkter Gewalt.
Doch von dieser grausigen Gesamtzahl entfielen allein auf die Rote Armee mehr
als acht Millionen Gefallene. Das sind weit mehr als die militärischen Toten
aller Parteien des Ersten Weltkriegs und steht im auffallenden Kontrast zu den
Verlusten der britischen und der amerikanischen Streitkräfte von 1939 bis 1945,
die nicht über eine Viertelmillion hinausgingen“ (S 13f)
Es ist erschütternd, solche Sätze
zu lesen und zu versuchen, all das menschliche Leid, das sich hinter der
Statistik verbirgt, in der Vorstellung aufzurufen. Jeder einzelne Gefallene war
das völlig sinnlose Opfer einer Politik, in der sich zwei Ideologien feindlich
gegenüberstanden, deren Repräsentanten zwei Völker waren, die eigentlich zur
Freundschaft veranlagt sind.
Natürlich muss man, um die
Ursachen dieser widernatürlichen „Feindschaft“ zu verstehen, erforschen, wer
die beiden Völker aufeinander gehetzt hat. Diese Geschichte wird immer
ausgeblendet.
Das Karma jener gewiss sehr
wenigen Politiker, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zu verantworten
haben, ist so ungeheuerlich, dass ich nicht weiß, wie es jemals ausgeglichen
werden kann. Es ist vermutlich eine höhere Kategorie des Bewusstseins vom Karma
nötig, um den Sinn solcher Kriege zu begreifen. Hier kann man nicht mehr nur den
britischen „Tommys“, den deutschen „Fritz‘“ oder den russischen „Iwans“, also den tausenden und abertausenden einfachen Soldaten die Schuld zuschieben. Sie waren
die Opfer, die – vermutlich in der
unbewussten Nachfolge Christi – den Gang nach Golgatha angetreten sind, um die
Taten jener wenigen, die sie in den Krieg gehetzt haben, karmisch zu sühnen.
Nur so kann man das historische Geschehen von einem spirituellen Standpunkt aus
verstehen. Dazu fällt mir das 24. Kapitel aus Martin Walsers neuester Erzählung
„Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“ ein, die im ganz kleinen Maßstab eine Ahnung
von der Dimension solcher Opfer geben kann. Denn nur in einem kleinen Maßstab kann
man sich dem größeren annähern
Dort heißt es:
„Gestern kam Sirte zu mir und
sagte: Lieber Anton, es ist vollbracht. Entschuldige, anders kann ich es nicht
sagen.
Jetzt ist es mein – bald hätte
ich gesagt – Amt, es auszusprechen. Sozusagen öffentlich. Tatsächlich zittert
mir die Hand, die das jetzt schreiben soll, darf, muss.
Die Wahrheit. Die Wahrheit ist
etwas Paradiesisches. Sagen dürfen, was man will. Schöner kann nichts sein.
Es war der Alkoholiker, der die
Sensation schaffte. Ludwig Proll, dem Sirte täglich diente, dass er sie und
nicht Lisa, seine Frau, schlage. Plötzlich hörte er auf mit dem Schlagen und
Trinken. Und sagte es uns allen, dass er es nicht mehr für möglich gehalten
habe: Eine Frau lässt sich täglich schlagen, um zu verhindern, dass eine andere
geschlagen wird. Das habe ihn so gerührt, sagte der Alkoholiker, dass er
spürte, er könne dieses tägliche Opfer einer gewissen Sirte Zürn nicht
ertragen, ohne durch und durch bewegt zu werden. Ja, wenn das möglich ist, dass
eine Frau sich täglich schlagen lässt für eine andere, dann entstehe in ihm
eine Kraft, die er nicht gekannt habe. Warum noch Alkohol, wenn so etwas
möglich ist. Und das sei ihm passiert. Er habe plötzlich nicht mehr trinken
können. Diese Sirte Zürn sei ihm spürbar geworden als eine bis dahin unbekannte
Kraft.“
Diese „unbekannte Kraft“ erleben
immer mehr Menschen, die einst Opfer der verfehlten Politik der wenigen waren,
die die Völker aufeinander gehetzt haben. Von Lenas Vater weiß ich, dass die russischen
Soldaten jeden Tag eine Ration Wodka bekamen, um in den Kampf zu ziehen. Am Ende
des Krieges waren viele ehemaligen Kämpfer Alkoholiker.
Die Kriegstreiber und die Opfer
sind wieder unter uns und ich habe die Hoffnung, dass die Menschen sich nicht wieder
als Soldaten auf die Schlachtbank eines Dritten Weltkriegs lenken lassen, der
dann noch mehr Menschenleben fordern würde als beide Weltkriege zusammen. Doch die
Kriegstreiber versuchen es wieder: Ein im August 2019 im Berliner Tiergarten von
einem Berufskiller getöteter tschetschenischer Terrorist dient ausgerechnet in
dem Augenblick, als die Bundeskanzlerin sich mit 28 weiteren Staatschefs zum 70-jährigen
Jubiläum der NATO in London aufhält, zum Vorwand, die „russische Aggression“
anzuprangern, von der Lena und ich nichts wissen, weil wir über russische und
deutsche (Alternativ-) Medien davon nichts erfahren. Es gibt diese „russische Aggression“ in Wirklichkeit
gar nicht, auch wenn sie immer wieder von den westlichen Medien (wie gestern Abend
wieder durch Klaus Kleber im Heute-Journal) beschworen wird.
Catherine Merridale fährt fort:
„Seit dem Sieg der Roten Armee
sind sechzig Jahre verstrichen, und sogar der Staat, für den die sowjetischen
Soldaten kämpften, ist untergegangen; Iwan aber, der russische Schütze, das
Pendant zum britischen Tommy und dem deutschen Fritz, bleibt uns ein Geheimnis.
Uns, die wir von ihrem Sieg profitierten, erscheinen die Millionen sowjetischen
Rekruten als eine anonyme Masse. Wir wissen zum Beispiel nicht, woher sie
kamen, geschweige denn, woran sie glaubten oder aus welchen Gründen sie
kämpften. Wir wissen auch nicht, wie das Erlebnis dieses Kriegs sie veränderte,
wie seine unmenschliche Gewalt ihre Auffassung von Leben und Tod prägte. Wir
wissen nicht, wie Soldaten miteinander sprachen, welche Lehren, Witze oder
Lebensweisheiten sie austauschten. Und wir haben keine Vorstellung davon, zu
welchen Gedanken sie innerlich Zuflucht nahmen, von welchen Inseln sie
träumten, wen und wie sie liebten.
Das war keine alltägliche
Generation. Bis 1941 hatte die 1918 gegründete Sowjetunion bereits ein
beispielloses Maß an Gewalt erlitten. Nach den sieben Krisenjahren ab 1914 folgte
der Bürgerkrieg (1918 – 1921) mit weiteren grauenhaften Kämpfen. Dieser brachte
einen verzweifelten Mangel an allem, Brennstoff, Brot oder Decken, und Seuchen,
gefolgt von jener Geißel, die Lenin als ‚Klassenkrieg‘ bezeichnete. Die daran
anschließende Hungersnot war zwar ebenfalls in jeder Hinsicht schrecklich, doch
als 1932/33 weit über sieben Millionen Menschen verhungerten, erschien das
Elend von 1921, so ein Zeitzeuge, dagegen ‚wie ein Kinderspiel‘. Auch hatte der
Kraftakt des ersten Fünfjahresplanes für Wirtschaftswachstum die
Sowjetgesellschaft gespalten, zumal das Regime die Bauern in Kollektive trieb,
politische Gegner vernichtete und einige Bürger zur Sklavenarbeit zwang. Jene
Männer und Frauen, die 1941 kämpfen sollten, waren die Überlebenden einer Ära
des Aufruhrs, der in kaum mehr als zwei Jahrzehnten weit über fünfzehn
Millionen Menschenleben forderte.“ (S 16)
Die britische Historikerin, die
den Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal aus der Perspektive des einfachen
russischen Soldaten schildert, kommt damit an die Grundfrage: an das Geheimnis,
wieso die Russen für einen Staat und eine Ideologie kämpften, die ihnen alles
genommen hat: Land, Freiheit und Leben.
Sie spricht von „Martern“, die
eine „außergewöhnliche Generation“ geschaffen haben und fährt fort:
„Viele Historiker unterstützen
diese Deutung oder respektieren zumindest den Nachweis von stoischer Geduld und
Selbstaufopferung einer ganzen Nation. ‚Rein materielle Erklärungen des
sowjetischen Sieges sind nie recht überzeugend‘, schreibt Richard Overy in
seiner maßgeblichen Studie über Russlands Krieg. ‚Man kann eine solche
Geschichte nicht schreiben, ohne in irgendeiner Form die ‚Seele‘ oder das
‚Gemüt‘ des russischen Volkes mit einzubeziehen: Sie spielen eine viel zu große
Rolle, als dass man sie als bloße Sentimentalität abtun könnte…‘“ (S 16f)
Meine Frage geht weiter: Für wen
und wofür hat sich diese Generation, zu der Lenas aber auch meine Großeltern
gehörten, aufgeopfert? Denn nicht nur die slawischen Menschen östlich der Elbe
haben sich aufgeopfert, sondern auch die deutschen Menschen westlich des
Schicksalsflusses, an dem sich vor 74 Jahren bei der Stadt Torgau russische und
amerikanische Offiziere nach der Kapitulation des Dritten Reiches die Hände
reichten. Beide Völker waren Opfer von falschen Ideologien und wurden von den
beiden Vertretern dieser Ideologien – Adolf Hitler und Joseph Stalin –
aufeinander gehetzt.
Ich bin meinem Schicksal dankbar,
dass ich nun, zwei Generationen später, eine Frau als Freundin habe, deren
Großeltern mütterlicherseits aus Rostov am Don und deren Großeltern
väterlicherseits aus Kursk stammen. Die Don-Kosaken wurden von den Sowjets nach
Sibirien und in die kasachische Steppe deportiert, weil sie Angst hatten, dass sie
sich mit den vorrückenden Deutschen verbündeten. Die Russen aus Kursk kämpften
in einer mörderischen Schlacht gegen die Deutschen. Schon in den Großeltern
waren also sowohl freundliche als auch feindliche Beziehungen zu den Deutschen
veranlagt. Der Untergang des Sowjetimperiums führte dazu, dass in den
90erJahren etwa vier Millionen Russlanddeutsche und ihre zum Teil russischen
Ehepartner in die Bundesrepublik umsiedelten, darunter auch Lena.
Das Schicksal führte im Jahre 2016,
hundert Jahre nach der Friedenschance im Ersten Weltkrieg, die von den Alliierten
ausgeschlagen wurde, und 100 Jahre nach dem irischen Aufstand gegen das britische
Empire, zwei zusammen, die noch vor zwei Generationen miteinander gekämpft und
einander getötet hätten, weil es der Alkoholiker Winston Churchill so wollte.
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