Samariterkirche Berlin, Inneres
Als ich gestern (05.12.19) kurz nach drei
nach J. fuhr, um die gewünschten Tagebücher zu I. zu bringen,
hörte ich eine Sendung aus der Reihe „Leben“ im Radio (SWR2), die mich bis
jetzt beschäftigt.
Es ging um Mietpreiserhöhung und
Investmentfonds. Seitdem die Europäische Zentralbank unter ihrem Chefbanker,
dem Ex-Goldman-Sachs-Mann Mario Draghi, die Sparzinsen auf null reduziert hat,
suchen Menschen, die viel Geld haben, nach neuen Anlagemöglichkeiten. Immer
noch gibt es Menschen, die meinen, sie könnten ihr Geld dadurch vermehren, dass
es angeblich „arbeitet“. Man nennt Gewinne, die man ohne Arbeit generiert,
„Rendite“. Investmentfonds versprechen hohe Renditen, indem sie in Immobilien
investieren, die Mieteinnahmen bringen.
Einen solchen Investmentfonds,
deren Akteure normalerweise völlig im Dunkeln bleiben, schilderte die gestrige
Sendung von Erika Harzer mit dem Titel „Wie der Immobilienmarkt Gewinner und
Verlierer produziert“.[1]
Es geht um Wohnraum im ehemaligen
Osten von Berlin, im „attraktiven Samariterviertel“: „gut erhaltene Altbauten,
kleine Läden, breite Bürgersteige, keine Bäume. Kopfsteinpflaster zwingt die
Autos, langsam zu fahren“, so leitet die Redakteurin die Reportage ein.
Ich höre das Wort „Samariter“ und
musste unwillkürlich an das Gleichnis „Vom barmherzigen Samariter“ denken, von
dem nur das Lukasevangelium berichtet (Luk. 10, 25 – 37)[2].
Samaria war neben Judäa und Galiläa eine der drei Provinzen des Heiligen
Landes. Die Juden und die Galiläer aber sahen immer herab auf die Samariter.
Sie waren die „Verachteten“. Nun stellt Jesus ausgerechnet solch einen
„Outcast“ als Beispiel der aktiven „Nächstenliebe“ dar, um die Frage eines
Schriftgelehrten nach dem „ewigen Leben“ zu beantworten.
Alle Samariter-Dienste und
Samariter-Einrichtungen gehen auf dieses Gleichnis zurück. Das Berliner
Stadtviertel rund um die Samariterkirche befindet sich etwa 3,5 Kilometer
östlich des Alexanderplatzes im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.[3]
Die in den Jahren 1892 – 1894 vom Evangelischen Kirchenverein erbaute
neugotische Kirche ist eine von etwa 70 Kirchen, die auf die Initiative Kaiser
Wilhelms II. in den Jahren 1890 – 1918 von dem Verein in ganz Deutschland errichtet
wurden.
Die Berliner Samariterkirche war
zur Zeit des Nationalsozialismus ein Zentrum des „Pfarrernotbundes“, aus dem
sich im Mai 1934 die „Bekennende Kirche“[4]
formierte, aus der so bekannte Pfarrer-Persönlichkeiten wie Martin Niemöller
und Dietrich Bonhoeffer, der am 4. Februar 1906 in Breslau geboren wurde, aber
seine familiären Wurzeln in Schwäbisch Hall hatte, hervorgingen; Bonhoeffer hat
seine Opposition zu Adolf Hitler am 9. April 1945, also knapp einen Monat vor
der Kapitulation des Dritten Reiches, im KZ Flossenbürg mit dem Leben bezahlt.
In der späteren DDR war das
Gotteshaus unter Rainer Eppelmann und Günter Holwas ein Zentrum der
aufstrebenden Friedensbewegung und DDR-Opposition. Insbesondere durch die
damals (1979 – 1986) politisch hochbrisanten Blues-Messen erlangte die
Samariterkirche landesweite Bekanntheit.
Es geht in der Sendung um ein
vierstöckiges Mietshaus in der Samariterstraße.
Am 28. 12. 2018 hatte die Mieterin Synke Köhler ein
26-seitiges Schreiben mit der Ankündigung (auf Seite 21) bekommen, dass die
Miete nach einer Renovierung von 547,40 Euro auf 1515,64 Euro Netto-Kaltmiete
erhöht werden würde. Das wäre eine Mieterhöhung um 950 Euro. Entsprechende
Schreiben gingen auch bei den 23 anderen Mietparteien ein. Das Mietshaus hat
also 24 Wohnungen. Wieder erinnert mich diese Situation an den Adventskalender.
Synke Köhler ist Mieterin seit
über 20 Jahren. Sie ist wie die anderen Mieter zufrieden mit der Wohnqualität. Die
Heizung funktioniert und die Wohnungen bedürften eigentlich keiner Renovierung.
Synke Köhler ist Ende 40, die
Eheleute Fromm, die schon seit 54 Jahren in ihrer Mietwohnung leben, sind schon
über 80 Jahre alt. Diese können sich nicht mehr wehren und beide sind seit dem
Schock, der durch das Schreiben ausgelöst wurde, traumatisiert.
Synke Köhler hat dagegen einen
Rechtsanwalt eingeschaltet und einen Verein ins Leben gerufen. Sie ist
Schriftstellerin und hatte bereits zwei Jahre, bevor sie selbst betroffen war,
über die Mietsituation am Penzlauer Berg einen Roman geschrieben, der den Titel
„Die Entmieteten“[5] trägt.
Auszüge aus diesem Buch werden in der Sendung zitiert: „Die Aktionäre freuten
sich über die Rendite. Die Aktionäre wedelten auf ihrer Versammlung mit den
Anteilsscheinen, wedelten die Mieter wie lästige Fliegen aus ihren Häusern.“ Oder:
„Hier, neben dem Wasserturm, war eine Insel der Alteingesessenen. Hier wohnten
immer noch viele, die in den 60er Jahren ihre erste Wohnung bekommen hatten und
nie weggezogen waren. Ganz Berlin wurde entwohnt. So kam es einem zumindest
vor. Die Menschen wurden ausgetauscht, wurden separiert: Hier die mit Geld und
hier die ohne.“
Das erinnert mich fatal an die
Zeit des Nationalsozialismus, als schon einmal solch eine „Separierung“
stattgefunden hat. Damals betraf es die „mit Geld“, die reichen Juden, die ihre
Villen oder Häuser in bester Lage verlassen mussten, damit Parteifunktionäre
oder „Reichsdeutsche“ sie günstig erwerben konnten. Diese Geschichte habe ich
erst vor kurzem, am Gedenktag der Reichskristallnacht, durch den Dokumentarfilm
„Menschliches Versagen“ von Michael Verhoeven erfahren, der sich vorwiegend auf
die Stadt München konzentrierte.[6]
Das Erschreckende an dem Film war, dass die Mehrheit der Deutschen geschwiegen
hat. Diese Gleichgültigkeit gegenüber
dem Schicksal anderer Menschen zeigt sich 80 Jahre später wieder, als sei
nichts passiert.
„Wir lieben Altbau. Mit dem
richtigen Feingefühl am Puls der Wohnungswirtschaft agieren“, so wirbt die
Webseite des Immobilienfonds der „Fortis Group“, die mit offiziellem Namen
„Fortis Real Estate Investment GmbH“ heißt und im Jahre 2013 gegründet wurde. [7]
„Real Estate“ ist das englische Wort für Immobilie.
Das „Feingefühl“, von dem die
Webseite erzählt, bekamen die Mieter und Mieterinnen der Samariterstraße
allerdings nicht zu spüren.
In der Sendung kommt schließlich
heraus, dass mit dem Fonds der Fortisgroup, deren Geschäftsführer selbst
Zahnarzt ist, die Altersversorgung von Zahnärzten gesichert werden soll. Synke
Köhler und ihr Verein haben dann 1000 Zahnärzte, die in diesen Fonds einzahlen,
per Mail kontaktiert und auf die Situation der durch die Mietpreiserhöhung betroffenen
Mieter aufmerksam gemacht. Nur ein einziger hat geantwortet und Verständnis
gezeigt.
Das ist das wirklich
Erschreckende in unserer Zeit: die allgemeine Gleichgültigkeit der Wohlhabenden
gegenüber den Armen.
Seit 2000 Jahren wird das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt, aber tausende würden heute noch
an dem unter die Räuber Gefallenem vorbeigehen.
[6] Siehe
meine Filmkritik: https://johannesws.blogspot.com/2019/11/ideologische-verblendung-gedanken-zum.html
[7] https://www.fortis-group.de/ „Die FORTIS Group wurde 2013 aus einem
erfahrenen Gesellschafterkreis in enger Zusammenarbeit mit Family Offices
gegründet. Der Fokus des Unternehmens ist die Bestandshaltung sowie
Privatisierung von ausgewählten, wohnwirtschaftlich nutzbaren Immobilien in
Berlin und Potsdam. Seit Gründung hat die FORTIS Group insgesamt 56 Objekte mit
einem Umsatzvolumen von ca. 610 Millionen angekauft und vielfältige Projekte,
u.a. in Charlottenburg, Tiergarten, Schmargendorf, Friedrichshain, Schöneberg,
Kreuzberg, Steglitz und Mitte, umgesetzt.“
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