Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen -
steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen.
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen -
steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen.
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
1928
Erich Kästner (1899 – 1974), der deutsche Schriftsteller, der
besonders durch seine Kinderbücher und seine humoristischen Gedichte bekannt geworden ist, hat im Jahre 1928, also
während der Weimarer Republik, ein eher untypisches Antikriegsgedicht mit dem
Titel „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“ verfasst, das ich in
folgendem Aufsatz interpretieren werde.
Das Gedicht besteht aus sieben Strophen mit jeweils vier
Versen.
Die Schlüsselwörter in der ersten und in der letzten Strophe
sind die gleichen: „Kanonen“ (I,1 und VII, 3) und „Kasernen“ (I,4 und VII,2).
In der ersten Strophe erinnern die Büros in diesem Land, das im ganzen Gedicht
nicht genannt wird, also anonym bleibt, an Kasernen und die Prokuristen, „stolz
und kühn“ (I,3), die gewöhnlich eher sitzen, hier aber „stehn“ (I,3), an
militärische Befehlshaber, ja an Generäle. In der letzten Strophe wird
behauptet, dass alles, „was man“ in
diesem Land „auch baut“ (VII,2) also nicht nur die Büros, „stets Kasernen (…) werden“
(VII, 2). Es ist also eine deutliche Steigerung von der Aussage in der ersten bis
zur Aussage in der letzten Strophe. Damit ist auch schon das Thema des Gedichts
ausgesprochen. Es geht um Militär und Militarismus.
Die mittlere, also die vierte Strophe, die das Gedicht inhaltlich
deutlich in zwei Teile gliedert, handelt von den „Kindern“ (IV,1), die in
diesem Land geboren werden. Auch dabei wird wieder das Militärische betont,
denn die Kinder werden nicht als „Zivilisten“ (IV,3) geboren, sondern kommen
„mit kleinen Sporen (…) auf die Welt“ (IV, 1+2), also als Mitglieder der
berittenen Einheit, der Kavallerie. Das ist natürlich übertrieben und nur im
metaphorischen Sinne gemeint. Die „gezognen
Scheitel“, die sie ebenfalls mitbringen, wenn sie auf die Welt kommen, erinnern
fatal an den Ausdruck „gezogne Säbel“. Das Gedicht will sagen, schon die Babys
in diesem Land seien geborene Militaristen.
Natürlich werden die Kinder in Wirklichkeit auch in diesem
Land nicht mit Sporen an den Füßen geboren. Aber es ist eben ein Bild, genauso
wie die „unsichtbaren Helme“ (II,2) und die „Gefreitenknöpfe“ die „unterm
Schlips (…) wachsen“ (II,1) in der zweiten Strophe. Die Menschen, die in diesem
Land leben, sind offenbar vom „Scheitel“ (IV,1) bis zu den Füßen (IV,1) auf
Militär geeicht. Denkende „Köpfe“ (II,3) haben diese Menschen offenbar nicht,
wie die zweite Strophe weiter unterstellt, sondern nur „Gesichter“ (II,3).
Dieser Gedanke wird in der dritten Strophe wiederum
gesteigert, indem gesagt wird, dass die „Vorgesetzten“ in diesem Land es am
liebsten hätten, wenn „der Verstand“ der Untergebenen „erst stramm und zweitens
still“ (III,3) stünde. Am besten wäre es, wenn sie sich nicht einmal dagegen
wehren würden, sondern wie beim Militär die Befehle „Augen rechts“ (III,4) und
„Schnauze“ halten (IV,4) ohne
Widerspruch befolgen würden. Dass dazu kein „Rückgrat“ benötigt wird, kann man
ebenfalls der dritten Strophe (III,4) entnehmen. Der aufrechte Gang ist in
diesem Land nicht gefragt.
Dabei hat dieses Land alles, um seine Bewohner „glücklich zu
machen“ (V,3), wie es in der fünften Strophe heißt, die den zweiten Teil des
Gedichtes einleitet, der nach dem negativen nun auch ein positives Bild von dem
Land zeichnet. „Dort“ gibt es nämlich „Äcker, Kohle, Stahl und Stein/ und Fleiß
und Kraft und andre schöne Sachen“ (V,3 + 4).
Also nicht nur materielle Güter und die bürgerliche Tugend
des „Fleißes“ gibt es, sondern neben der „Kraft“ auch noch „Geist“ und „Güte“
(VI,1), wie uns die nächste Strophe beteuert. Allerdings nur „dann und wann“
(VI,1) und „nicht bei vielen“ (VI,2), wie das Gedicht gleich einschränkend
anmerkt. Das Gedicht verweist sogar auf das „wahre Heldentum“ (VI,2), das aber
nichts mit Militarismus zu tun hat. Das falsche Heldentum zieht das Gedicht ins
Lächerlich-Kindische, wenn es davon spricht, dass die Männer dieses Landes am
liebsten wie Kinder „mit Bleisoldaten spielen“ wollen.
Dadurch greift das Gedicht das zentrale Motiv der vierten
Strophe wieder auf und kehrt es um. In der Mitte des Gedichtes ist von den
Kindern die Rede, die schon als Soldaten geboren werden, in der sechsten
Strophe von den Erwachsenen, die wie Kinder werden, die mit Bleisoldaten
spielen.
Aber auch hier wird einschränkend konstatiert, dass dies in
jenem Land ja „nur“ bei „jedem zweiten Mann“ (VI, 3) der Fall ist. Das ist
aber, wenn man genau rechnet, genau die Hälfte aller Männer. Mit dieser
versteckten Ironie relativiert Erich Kästner in seiner bekannten Weise den
Inhalt der zweiten Hälfte (fünfte und sechste Strophe) seines Gedichtes, welche
die positiven Aspekte jenes Landes andeutet. Der streng symmetrische Aufbau des
Gedichtes bekommt dadurch „Schlagseite“. Die „Militaristen“ sind in dem Land
offensichtlich in der Mehrheit gegenüber den wenigen „Pazifisten“. Deshalb kann
in diesem Land auch nicht „die Freiheit“ reifen (VII,1), wie in der letzten
Strophe resignierend festgestellt wird.
Das Gedicht ist also streng gegliedert in einen Rahmen (erste
und siebte Strophe), in eine Mittelachse (vierte Strophe) und in zwei
antithetische Teile, die jeweils aus zwei Strophen bestehen (Strophen zwei und
drei und Strophen fünf und sechs). Die formale Strenge des Gedichts drückt sich
auch aus in dem konsequenten Kreuzreim nach dem Schema abab mit abwechselnd
männlichen und weiblichen Kadenzen.
Die Form des Gedichtes entspricht also dem Inhalt und damit
gleichzeitig dem Wesen des Militärs, wo es auf Ordnung und Perfektion ankommt.
Dieses Ordnungsschema wird in der mittleren Strophe geschickt angedeutet, wo
von dem „gezognem Scheitel“ (IV,2) die Rede ist, mit dem die Kinder dieses
Landes geboren würden. Das ist natürlich eine ironische Übertreibung, weil die
meisten Kinder in Wirklichkeit haarlos, geschweige denn mit „gezognem Scheitel“
auf die Welt kommen. Aber dieses Bild des „Scheitels“ ist ein Bild der Ordnung.
Hiermit wird angezeigt, dass das zunächst wild wachsende Haar durch die
ordnungsliebenden Eltern gebändigt wird. Es dürfte kein Zufall sein, dass der
Autor die Metaphern des „Wachsens“ (II,2), „Blühens“ (I,1 und VI, 3) und
„Reifens“ (VII,3), die er aus der Natur entlehnt, durchgängig in seinem ganzen
Gedicht verwendet. Auch der Ausdruck, „bleibt grün“ (VII,1), der in der letzten
Strophe vorkommt, gehört in diesen Bildzusammenhang.
Eine gewisse Verfremdung entsteht dadurch, dass er den Begriff
des „Blühens“ schon im Titel des Gedichtes mit „Kanonen“ in Verbindung bringt.
Das passt doch gar nicht, will man als Leser sofort einwenden. Erich Kästner
bezieht sich dabei auf ein in Deutschland seiner Zeit sehr bekanntes
Goethe-Gedicht, das die Sehnsucht der Deutschen nach dem südlichen Italien
thematisiert: „Mignons Lied“ aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ beginnt mit der
Zeile „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Dieses Gedicht dient Kästner
gleichsam als Blaupause für sein eigenes Gedicht. Mit diesem Gedicht im
Hintergrund stellt er gleichsam die Frage: Was ist aus dem Land geworden, in
dem einmal solch berühmte Gedichte das Bildungsbürgertum erfreuten. Wieso hat
sich die Kulturnation des 18. Jahrhunderts in das militaristisch geprägte Land
der Gegenwart verwandelt?
Natürlich meint Kästner mit dem Land, das er im Gedicht nur
mit dem Adverb „dort“ näher bezeichnet, Deutschland, ja das Deutschland der
Zwanziger Jahre, das bereits absehbar auf die Barbarei des Dritten Reiches
zusteuert. Italien, das Land, auf welches das Goethe-Gedicht anspielt, ist zu
dieser Zeit schon ein faschistisches Land (seit 1925). Die zweimal gestellte
Frage, „Du kennst es nicht?“ ist in Wirklichkeit gar keine Frage, sondern eine
Aufforderung, genau hinzuschauen. Wenn der Leser das anhand des Gedichtes tut,
dann wird er das Land schon kennenlernen.
So klingt der letzte Satz gleichsam wie eine Aufforderung,
die einen drohenden Unterton hat: Schau nur hin, wo sich in diesem Land überall
Anzeichen des wachsenden Militarismus zeigen, dann wirst Du schon merken,
welches das Land ist, in dem die „Kanonen blühn“.
Es ist gut, dass Kästner das Land nicht mit Namen nennt,
sondern die Frage offen lässt. Dadurch bleibt das Gedicht auch heute noch
aktuell, denn es kann jedes Land gemeint sein, in dem Militarismus herrscht. Die
Aufforderung, das Land kennenzulernen, „in dem die Kanonen blühn“, ist auch
heute noch notwendig. Leider aber verschließen auch in der Gegenwart immer noch
allzu viele Menschen die Augen vor den warnenden Signalen. Diese gibt es zum
Beispiel in den Beziehungen zwischen Amerika und Russland, so, dass der
russische Ministerpräsident bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz (am 13.02.2016)
schon vor einem „neuen kalten Krieg“ warnte, der schnell zu einem heißen werden
kann, wenn die NATO in den einstigen Staaten des Warschauer Paktes, also an der
unmittelbaren Grenze zu Russland, immer öfters Manöver durchführt und die
militärischen „Muskeln spielen“ lässt.
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