Ich schrieb
neulich, mich könne nichts mehr wirklich erschüttern. Ich meinte das im
„negativen“ Sinne, also das erschüttert Sein durch ein schreckliches Ereignis.
Nun wurde
ich gestern doch erschüttert, aber nicht durch ein negatives, sondern durch ein
wunderbares, positives Ereignis. Ja, es war im wörtlichen Sinne ein Wunder.
Alles schien von höheren Mächten „eingefädelt“ zu sein und es blieb zum Schluss
nur noch Staunen bei allen Beteiligten.
Wir sind,
wie geplant, gegen 11.00 Uhr losgefahren in Richtung Lomonossov. Wir wollten
nach Petershof, um die dortige Schloss- und Park-Anlage, die Peter der Große in
Nachahmung von Versailles angelegt hatte, zu besuchen. Wir kamen aber nur bis
Oranienbaum (Lomonossov), das einige Kilometer näher – von Sosnovy Bor aus
gesehen – liegt, wo Peters Freund, Graf Alexander Menschikow, eine ähnliche
Schloss- und Parklandschaft gestalten ließ.
Wir holten
mit Lenas Vater das Auto aus der Garage und brachten ein paar Konserven in die
„Sonnen-Allee“, wo wir den Vater ließen. Da bekam ich den ersten „Schock“ an
diesem Sonntag: der Weg zum Eingang des Plattenbaus war versperrt durch ein
blinkendes oranges Müllauto, das die Berge von ungetrenntem Müll – wie jeden
Tag – einsammelte.
Es
erstaunte mich, dass in dieser Stadt die Müllmänner auch am Sonntag arbeiten.
Als wir dann endlich auf der Straße nach Lomonossow waren, bekam ich meinen
zweiten „Schock“ an diesem Tag: wir kamen an einer Baustelle vorbei, an der ein
Trupp Männer mit großem Gerät dabei war, den alten Straßenbelag abzuhobeln und
das Material in Lastwagen abzutransportieren. Das hatte ich noch nie gesehen:
eine Großbaustelle am Sonntag. Es wäre in Deutschland undenkbar.
Ja, ich
war schockiert und es dämmerte mir, wie gründlich die Kommunisten in ihrer
siebzigjährigen Herrschaft ein von der Anlage her christliches Volk umerzogen
haben und aus dem christlichen Russland ein atheistisches Land gemacht hatten.
Immer mehr drängt sich mir der Verdacht auf, dass das der eigentliche Plan der vorwiegend jüdischen Bolschewiki war. Ich
hoffe, dass ich mich irre.
Der
Fahrstil der Russen ist aggressiv und hektisch. Geschwindigkeitsbegrenzungen
werden grundsätzlich nicht eingehalten. Wenn ich – wie mir Olga bei der Ankunft
empfohlen hatte – die Vorschrift um 20 Stundenkilometer überschreite, sei es in
Ordnung. Das tue ich nun auch. Trotzdem werde ich regelmäßig von Autos mit der
Nummer 178 (Oblast Leningrad) überholt, die die Geschwindigkeitsbegrenzung mit
über 50 Stundenkilometern überschreiten und dann noch in unübersichtlichen
Kurven rechts oder links an mir vorbeirasen. Einer dieser Überholer geriet gestern
unmittelbar vor uns in eine Polizeikontrolle.
Lena sagt,
dass die meisten russischen Männer gerne „auf Risiko“ fahren würden. Sie
bräuchten eben diesen „Adrenalin-Kick“.
Unmittelbar
am Stadtanfang von Lomonossow sah ich ein braunes Schild, dessen Inschrift ich
nicht verstand, das ich aber als Hinweis auf ein Kulturdenkmal erkannte. Ich
bremste etwas scharf ab und bog links in einen kleinen geschotterten Seitenweg
ein, der schon nach wenigen Metern vor drei langgezogenen rechteckigen
Aufschüttungen endete, die Lena sofort als Massengräber identifizierte. Ihr
Verdacht bestätigte sich auch, als wir ausstiegen und die kyrillischen Inschriften
lasen. Später erfuhren wir, dass hier 5000 Einwohner von Lomonossow „ruhen“,
die bei der „Blockade von Sankt Petersburg“ gestorben sind.
Ich habe
von dieser Blockade durch die Deutsche Wehrmacht vom 8. September 1941 bis zum
27. Januar 1944 erst durch Lena erfahren. Vorher wusste ich von diesem
„weltweit beispiellosem Kriegsverbrechen der deutschen Regierung unter Hitler und
der Wehrmacht“ (Wikipedia[1]) nichts. Am 22. Juni 1941 hatte
mit dem „Unternehmen Barbarossa“ der
„Russlandfeldzug“ Hitlers begonnen. Was ich darüber auf Wikipedia[2] zu lesen bekomme,
befriedigt mich nicht, denn es ist aus der Sicht der Sieger geschrieben und bezeichnet
den aus sowjetischer Sicht „großen vaterländischen Krieg“ „wegen seiner
verbrecherischen Ziele, Kriegsführung und Ergebnisse als ‚ungeheuerlichsten
Eroberungs-, Versklavungs-, und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte
kennt‘ (Ernst Nolte, „Der Faschismus in seiner Epoche, Piper 1963)“ (Wikipedia).
Am 17.
August 1941 erreichte das XXVI. Armeekorps der 18. Armee die Festung Kingisepp
an der Luga, etwa 140 Kilometer südwestlich von Sankt Petersburg und nicht sehr
weit von der viel später gegründeten Stadt Sosnovy Bor gelegen. Beide Städte
gehören heute zur Oblast Leningrad.
Das 1384
gegründete Kingisepp war eine Festung der Republik Nowgorod und hieß
ursprünglich Jama. Die steinerne Festung diente der Verteidigung der russischen
Fürstentümer gegen die Schweden-Einfälle. Bereits 1395 hielt sie einem
schwedischen Angriff stand. Während der Nordischen Kriege verlor Russland den
Ort zweimal an die Schweden (1583 und 1617) und er wurde über ein Jahrhundert
lang schwedisch, bis ihn Peter der Große 1703 zurückeroberte. Nun hieß er
„Jamburg“ und Peter schenkte die Stadt seinem Freund Alexander Menschikow. Erst
1922 wurde Jamburg von den Bolschewisten in Kingisepp umgetauft. Sie heißt bis
heute nach dem estnischen Revolutionär Viktor Kingisepp (1888 – 1922).
Bei der
„Leningrader Blockade“, die im Süden von deutschen, im Norden von finnischen
Truppen unternommen wurde, sollen schätzungsweise 1,1 Millionen Zivilisten ihr
Leben verloren haben, darunter auch viele Einwohner von Lomonossov.
Diese furchtbaren
Ereignisse kann man mit menschlichen Maßstäben überhaupt nicht verstehen. Dem
Geschehen kann man sich nur vorsichtig annähern, wenn man einen tieferen Blick
für das Karma hat.
Wenn es
auf Wikipedia als „beispielloses Kriegsverbrechen“ bezeichnet wird, dann
blendet der Verfasser bewusst oder unbewusst aus, dass es bereits in den Jahren
1931 – 1933 in der Ukraine zum Tod von bis zu 14 Millionen Menschen durch
Verhungern („Holodomor“)[3] kam, für den die Politik
Josef Stalins verantwortlich war, der 1928 im ersten „Fünfjahresplan“ die
Enteignung der russischen Bauern (Kulaken) und die Zwangskollektivierung der
Landwirtschaft vorsah, um das kommunistische Russland auf die Stufe eines
Industriestaates zu „heben“. Schon zuvor hatte Stalin versucht, den
ukrainischen Freiheitswillen zu brechen, indem er etwa 10000 Geistliche töten und
über 100 Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle nach Sibirien deportieren
ließ.[4] Der Hauptverantwortliche
für die Verbrechen war Stalins damaliger engster Mitarbeiter Lasar
Kaganowitsch, ein Mann mit jüdischen Wurzeln.
Das alles
passierte, bevor Adolf Hitler an die Macht kam. Die Öffentlichkeit erfuhr von
diesen Verbrechen gegen die Menschheit erst nach der Auflösung der Sowjetunion
im Jahre 1991, lange, nachdem Deutschland bereits intensiv versucht hatte, die
Verbrechen der eigenen Väter in einer etwa 60-jährigen „Trauerarbeit“
(Alexander Mitscherlich) „aufzuarbeiten“.[5]
Damals
verloren zum Beispiel auch Lenas Großeltern mütterlicherseits, die noch nicht
einmal 14 Jahre alt waren, ihre Heimat am Don und wurden nach Kasachstan
umgesiedelt.
Vor ein
paar Tagen erzählte Lenas Vater, der am 10. Februar 1948 in der Nähe der Stadt
Kursk in eine einfache Bauernfamilie geboren wurde, von der Besetzung der Stadt
durch die deutsche Wehrmacht vom 4. November 1941 bis zum 8. Februar 1943, bei
der etwa 3000 Einwohner erschossen worden sein sollen. Fjodor erzählt, dass es
nicht deutsche, sondern rumänische Wehrmachtskommandos gewesen seien, die diese
Kriegsverbrechen begangen hätten. Immer wieder bin ich erstaunt, wenn ich über
die Taten deutscher Soldaten und Offiziere im Zweiten Weltkrieg lese, so auch
in der Vorbereitung auf unseren gestrigen Ausflug im Polyglott-Reiseführer: „Im
September 1941 besetzten deutsche Truppen Peterhof und wüteten auf
unvorstellbare Weise“ (S 133f).
Ich kann es
gar nicht glauben, dass deutsche Soldaten beziehungsweise ihre Vorgesetzten so
wenig Respekt vor der vergangenen Kultur hatten, die doch im Prinzip auf eine
deutsche Fürstin, Katharina die Große, zurückging. Ein wenig Bildung will ich
zumindest den Offizieren der damaligen Zeit doch zugestehen.
Mein
Vater, der spätere Oberstleutnant zur See, hat seine Schulbildung auf der
Ritterakademie in Liegnitz erhalten und konnte viele Verse aus der“ Ilias“ und der
„Odyssee“ noch in meiner Jugend auswendig in altgriechischer Sprache
rezitieren. Sein Kriegstrauma erlebte er, als er mit ansehen musste, wie etwa 9000
Menschen, die ihre Heimat im Osten verloren und sich in Gotenhafen auf das
Schiff „Wilhelm Gustloff“ gerettet hatten, im eiskalten Wasser der Ostsee
umkamen, nachdem das Lazarett-Schiff von drei Torpedos des sowjetischen
U-Bootes S 13 getroffen worden war.[6]
Daran
musste ich auf unserer Reise um die Ostsee immer wieder denken, ganz besonders,
als wir mit der Fähre vom deutschen Puttgarden auf Fehmarn nach Rödby in
Dänemark übersetzten und ich auf das Spiel der Wellen und der Gischt blickte,
die unser Boot aufwirbelte. Vor meinem inneren Auge erschienen plötzlich all
die Toten und ich fragte mich, wo sie heute sind.
Lena und
ich standen also vor diesen drei Massengräbern und unsere Gedanken wanderten
zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, die wir nur aus Erzählungen und aus
dem Geschichtsunterricht kennen, Lena aus ihrem sowjetisch, ich aus meinem
westlich geprägten.
Wie drei
unbepflanzte riesige Hochbeete lagen die drei „Rabatten“ vor uns. Am nördlichen
Ende war noch ein Sowjetstern vor einem Gedenkstein eingemauert, aus dem einst
eine Flamme züngelte. Sie war inzwischen verloschen.
Östlich
von den Kriegsgräbern stand die Kirche, auf die uns das Hinweisschild
aufmerksam gemacht hatte. Es war eine Ruine aus Ziegelsteinen. Das Dach der
dreischiffigen Basilika war weitgehend eingebrochen. Aber neben der alten
Kirchenruine stand eine kleine, neugebaute Holzkirche. Frauen und Männer, die an
diesem Sonntagvormittag vom Gottesdient kamen, standen noch um die Kirche herum
und unterhielten sich miteinander oder mit dem Priester, der durch sein
schwarzes Gewand kenntlich war.
Als wir um
die Kirche herumgingen, trat eine Frau zu uns, die bereit war, uns etwas über
den Bau zu erzählen. Sie stellte sich uns als Nadeschda vor und fragte nach
unseren Namen. Als wir uns bekannt gemacht hatten, begann sie ihre
„Kirchenführung“.
Sie sagte
uns, dass es sich um eine Dreifaltigkeitskirche handele, in der sowohl
Reliquien von Alexander Newski, als auch von Wladimir dem Großen aufbewahrt
würden. Die ursprüngliche Kirche war aus Holz und hatte ein paar hundert Meter
weiter nördlich am Ufer des Finnischen Meerbusens gestanden, wo jetzt Wald
wächst, der mit völlig zugewachsenen Gräbern übersät ist.
Ein Grab
auf diesem Friedhof zeigt sie uns. Es handelt sich um eine Persönlichkeit des
18. Jahrhunderts, die vermutlich mit dem Bau der alten Holz-Kirche
zusammenhängt. Ich mache ein Foto von dem Grab.
Die
heutige Kirche, die offensichtlich gerade einer Renovierung unterzogen wird,
wie uns die zahlreichen Tafeln an der Kirchenwand anzeigen, ist erst im Jahr
1903 eingeweiht worden. Sie wurde im neuromanischen Stil auf einem lateinischen
Grundriss erbaut, was mir sofort auffällt.
Wir
erfahren auch, dass das Gebiet einst dem Grafen Alexander Menschikow gehörte.
In Wikipedia lese ich, dass Katharina die Große in Lomonossow vor allem
deutschen Siedlern Land überließ. 1848 sollen hier laut Wikipedia noch 6344
deutschsprachige Siedler gewohnt haben. Die 1710 gegründete Stadt hieß damals
Oranienbaum, weil es hier eine Orangerie gab oder weil Peter der Große eine
Vorliebe für das Oranier-Geschlecht der Nassauer hatte. Auf Wikipedia lese ich,
dass die Stadt als Brückenkopf von der Sowjetarmee während der Blockade
erfolgreich verteidigt wurde und dass hier die Kunstschätze nicht zerstört worden
seien.[7]
Bis zur Perestroika war Oranienbaum, das im
Jahre 1948 nach dem berühmten russischen Gelehrten Michail Wassiljewitsch
Lomonossow (1711 – 1765) umbenannt wurde, eine von der Außenwelt abgeschnittene
Stadt, weil sich hier ein Stützpunkt der sowjetischen Marine befand.
Nadeschda,
eine kräftige Frau mit bereits ins Graue herüber spielenden blonden Haaren, die
sie zu einem Zopf zusammengebunden hat, ist
hier aufgewachsen und war lange Zeit Mitarbeiterin in den Gärten und
Palastanlagen von Oranienbaum. Sie erzählt uns von einer wesentlich älteren
Bekannten, die Augenzeugin eines Leichenberges war, der östlich des Kirchenchores
aufgehäuft worden war.
Die Kirche
war also umgeben von unvorstellbar vielen Toten aus den Zeiten der Leningrader Blockade. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass sie jetzt, gleichsam
als Gedenkstätte, restauriert werden soll.
Lena
versucht, die Mitteilungen Nadeschdas für mich zu übersetzen, aber ich bin
nicht ganz sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Deshalb recherchiere
ich jetzt beim Niederschreiben immer wieder im Internet-Lexikon „Wikipedia“,
das mir Gott sei Dank hier, fern von der Heimat, jederzeit zur Verfügung steht.
Als
nächstes zeigt uns Nadeschda die neue Holz-Kirche und einige Ikonen.
Besonders
auffallend ist ein Heiliger mit langem weißen Bart, der in zwei Teilen bis auf
den Boden reicht. Es ist der Heilige Onophrius, den ich selbst erst am 26. Juni
2017 durch Herrn Rümelin kennen gelernt hatte.
Nadeschda ist
erstaunt, dass ich diesen Heiligen kenne. Ich erfahre später, dass sie mit
einer Reisegruppe unter Vater Andrej in einem Kloster in Israel war, in dem
dieser Anachoret, dessen Körper ganz mit Haaren bewachsen war, gelebt haben
soll. Ich wusste nicht, dass er auch in der orthodoxen Kirche verehrt wird.
Dieser
Heilige, der Schutzpatron des Vetters und Gegenspielers Kaiser Barbarossas,
Heinrich des Löwen, ist sozusagen der „Türöffner“ für die wunderbare Begegnung
mit Vater Andrej, der seit etwa zwei Jahren Priester in dieser Gemeinde ist und
sich tatkräftig, das heißt auch handwerklich, für den Wiederaufbau der
Dreifaltigkeitskirche einsetzt.
Im
Anschluss an den Besuch der Kirche fragt Nadeschda Lena, ob ich Interesse habe,
Vater Andrej, den Priester diese Gemeinde, persönlich kennenzulernen. Ich sage „Ja“.
Und so werden wir beide in einen kleinen Nebenraum der Kirche, gleichsam den
Gemeinderaum, eingeladen, in dem ein gedeckter Tisch steht, an dessen Kopfende
Vater Andrej sitzt. Er teilt das Mal mit etwa acht Gemeindemitgliedern, die
nach dem Gottesdienst noch geblieben sind. Wir werden gebeten, Platz zu nehmen
und sogleich werden uns Tee und Speisen
gereicht. Kaum haben wir uns gesetzt, sind wir schon im Gespräch mit Vater
Andrej, einem sehr sympathischen 58-jährigen Geistlichen mit rötlichem
mittellangen Bart.
Die erste
Frage, die er mir – beziehungsweise Lena – stellt, finde ich sehr wesentlich. Er
fragt, ob das Christentum in Deutschland eher traditionell sei oder aus einem
lebendigen Glauben hervorgehe. Ich versuche zu antworten.
Lena erzählt,
was ich mache, und dass ich mich sehr für die russische Geschichte interessiere,
insbesondere auch für Zar Nikolaus II. und für Rasputin. Da horcht Vater Andrej
auf und fragt mich, was ich von Rasputin halte. Ich sage nur, dass ich mich
schon lange für diesen Heiligen Mann interessiere. Er erwidert, dass sein Tod
bis heute ein ungelöstes Rätsel sei. Ich sage, dass mich auch die tragische
Geschichte der Zarenfamilie interessiere und erwähne, dass genau an diesem 20. August
vor 17 Jahren die russisch-orthodoxe Kirche diesen letzten Romanov-Zaren und
seine ganze Familie als Märtyrer kanonisiert habe. Davon wusste er nichts, aber mehrere der am
Tisch Sitzenden zückten sofort ihr Handy und bestätigten meine Angabe.
Andererseits
war Vater Andrej der erste Mensch, den ich treffe, der Boris Wladimirovitsch
Stürmer kennt und weiß, dass er im Jahre 1916 ein paar Monate lang Premierminister
unter Zar Nikolaus II. war.
Er fragt
mich, wie ich Russland erlebe, ob gläubig oder nicht gläubig. Ich sage, dass
ich Russland erst durch Lena näher kennen gelernt habe, die in der
atheistischen Sowjetunion aufgewachsen ist, und deswegen noch kein zutreffendes
Urteil abgeben könne. Er empfiehlt mir, „Die Dämonen“ von Dostojewski zu lesen,
wenn ich die zwei Seiten der russischen Seele besser kennen lernen will.
Dann stelle
ich ihm meinerseits eine Frage. Ich möchte wissen, welcher Feiertag am Vortag
gewesen sei, und ich erfahre, dass es tatsächlich der Tag der „Verklärung“ war,
wie ich vermutet hatte. Dieser Tag leitet in der orthodoxen Kirche offenbar
eine kleine Fastenzeit ein, weshalb man in dieser Zeit kein Fleisch und keine
tierischen Lebensmittel isst, also auch keine Milch in den Tee nimmt. Das war
wohl der Grund, warum Lenas Vater vorgestern vor dem Essen Apfelschnitze
gereicht hatte.
Dann fragt
mich Vater Andrej, welche Rolle Gott in meinem Unterricht an deutschen Schulen
spiele und ich sage, dass er immer eine wichtige Rolle gespielt habe, weil ich
lange Lehrer an verschiedenen Rudolf-Steiner-Schulen war.
Zuerst
versteht er den Namen „Rudolf Steiner“ nicht, aber dann merke ich an seinem
Gesicht, dass er von ihm schon gehört hatte. Er fragt mich, als was ich Rudolf
Steiner sehe. Es ist fast die identische Frage wie die, welche er zu Rasputin
gestellt hatte.
Ich sage,
dass er nicht nur ein Philosoph war, sondern ein Mann, der den Menschen zum
Beispiel eine neue Pädagogik, eine neue Medizin und eine neue Landwirtschaft gebracht
habe. Ob ich alles gut finde, was Nietzsche geschrieben habe, will Vater Andrej
dann etwas ausweichend wissen. Ich sage: nein. Vater Andrej zitiert Sokrates
und meint, dass alle Philosophie nicht ausreiche, um Gott zu erkennen. Ich sage
die Variante des Sokrates-Ausspruches auf, den ich oft mit meinen Schülern
rezitiere: „Wer weiß, dass er nichts weiß, weiß mehr, als der, der nichts weiß,
und nicht weiß, dass er nichts weiß“ und lasse ihn von Lena, (Neben-) Satz für (Neben-)
Satz ins Russische übersetzen. Da muss Vater Andrej lachen. Das Eis, das vorher
noch zwischen ihm und dem Fremden „Eindringling“ aus Deutschland zu liegen
schien, war nun endgültig gebrochen. Als ich auch noch den Namen von Wladimir
Solowiow nannte, beginnen seine Augen zu leuchten.
Vater
Andrej verlässt den Gemeindesaal kurz und bringt nun ein gerahmtes Bild von der
Zarenfamilie und zwei Reproduktionen von Hiob-Ikonen[8], die seine Schwester, eine
Ikonen-Malerin, geschaffen hatte und schenkt sie mir.
Ich bin so
gerührt, dass ich zu ihm gehe, vor ihm niederknie und ihm die Hand küsse. Er
will mich sofort aufrichten, aber ich bleibe sekundenlang in dieser Haltung und
lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Dann setze ich mich und verberge meine
Tränen mit den Händen. Vater Andrej streichelt mir tröstend den Rücken. In
diesem Augenblick ist unsere Freundschaft besiegelt.
Wir
tauschen unsere E-Mail Adressen aus.
Kurz
darauf holt Vater Andrej noch ein Modell der Kirche und schenkt es mir auch
noch. Als ich Nadeschda bitte, ein Foto von uns beiden mit den Geschenken in
der Hand zu machen, willigt er ein.
Als Lena
und ich uns von Vater Andrej und der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit
verabschieden, spendet er uns den Segen.
Nadeschda
meint, wir müssten wiederkommen und hier heiraten, wenn die Kirche fertig
restauriert sei.
Für die
geplante Restaurierung ist die Gemeinde allerdings auf Spenden und
Unterstützung des Staates angewiesen. Eine Organisation gibt es bereits, die
das Projekt unterstützt: Es ist die Besatzung des U-Bootes „Alexander Newski“,
das hier offenbar vor Lomonossow liegt. Ein Modell dieses U-Bootes findet sich
im Vorraum der Holzkirche.
Nun fahren
wir mit dem Auto ein Stückchen weiter zu einem Parkplatz, von wo aus wir zu
einem anderthalbstündigen Rundgang durch die Parkanlagen mit den Palästen Menschikows
und Katharinas (Chinesisches Schloss) gehen.
Da
Nadeschda jahrelang hier gearbeitet hat, weiß sie viele Details zu erzählen,
die man sonst eher nicht erfährt, so zum Beispiel, dass Alexander Menschikov,
der Sohn eines Stallknechts, der unter Peter dem Großen zu unvorstellbarem
Reichtum gelangt war, verschiedene Sorten von Steinpilzen aus Deutschland
importieren und sie in den Parkanlagen ausbringen ließ. Bis heute wachsen hier
die schmackhaftesten Pilze, die Nadeschda und andere Mitarbeiter oftmals gesammelt
haben. Auch zeigt sie uns beim „Chinesischen Palast“, einem Schmuckstück an
einem künstlichen See, eine aus Granit gehauene Bank, auf der alte Bäume
wachsen. Diese Bank wurde, wie eine eingemeißelte Inschrift verrät, für
Katharina die Große geschaffen, die sich oft in ihr Schlösschen zurückzog. Wir
erfahren auch, dass rund um das Schlösschen Szenen des russischen Films „Tschaikowski“
von Igor Wassiliewitsch Talankin (1969) gedreht wurden, der sogar zwei Oscarnominierungen
erhalten hatte und in Russland sehr bekannt ist.
Die
weitläufige Anlage vereinigt französische und englische Gartenbaukunst. Der barocke
Hauptpalast allerdings folgt einem streng symmetrischen Grundriss und steht auf
einer ausgedehnten Nord-Süd-Sichtachse, die auf den Marine-Dom der von Peter
dem Großen 1703 gegründeten Festung Kronstadt auf der Ostseeinsel Kotlin im
Finnischen Meerbusen zeigt. Über diese Insel führt die erst im letzten Jahr fertiggestellte
Autobahn, auf der wir – von Finnland kommend – am Mittwochabend, den 9. August 2017,
nach Sosnovy Bor gelangt waren.
Auch ein
Atelier des italienischen Bildhauers und Architekten Bartolomeo Rastrelli gibt
es in der Parkanlage. Er ist der Hauptbaumeister des barocken Sankt Petersburg
und hat zum Beispiel den Winterpalast entworfen, den wir am Donnerstag
vergangener Woche besucht haben.
Zum
Abschluss laden wir Nadeschda bei einem Imbissstand mit Sitzplätzen am
Tiergehege des Parks zu einem Kaffee ein. Dabei erzählt sie uns auf meine
Nachfrage mehr von Vater Andrej. Ich erfahre zum Beispiel, dass er seit 36
Jahren verheiratet ist. Auch Nadeschda ist verheiratet und engagiert sich aus
Liebe zu ihrem Mann, der Afghanistankrieg-Veteran und gläubig ist, für die
Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche.
Nicht weit
von der in Weiß erstrahlenden schön restaurierten Hauptkirche von Lomonossow,
die dem Erzengel Michael geweiht ist, verabschieden wir uns von unserer freundlichen
Führerin und fahren zurück nach Sosnovy Bor.
Noch immer
sind die Bauarbeiten auf der Straße im Gange. Am Abend wollen Olga und Lena
noch einkaufen. Ich kutschiere sie zu drei Einkaufszentren, die rund um die
Uhr, also auch am Sonntag, geöffnet haben: zu „Lenta“, zu „Carusel“ und zu „Spar“.
Ich suche vergeblich in den drei Läden nach einem essbaren Hartkäse. Dafür gibt
es frischen Fisch in Hülle und Fülle. Und eine riesige Fleischtheke. Natürlich
dürfen die russischen Bonbons (Konfetti) nicht fehlen, die sich über mehrere
Regale verteilen und mit ihren buntglitzernden Verpackungen vor allem russische
Frauen verführen.
Russland
steht inzwischen an vierter Stelle bei dem Bevölkerungsanteil an
übergewichtigen Menschen.
Im Bereich
des Einkaufens steht Sosnovy Bor einem deutschen Einkaufszentrum in nichts
nach. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass die ehemaligen Sowjetbürger ein
ungeheures Nachholbedürfnis nach den Gütern des „Goldenen Westen“ haben. Russische
Lebensmittel gibt es zwar auch, aber die meisten kenne ich aus Deutschland, unter
anderem die Milchprodukte von Danone und
Getränke von Nestle, aber auch all die Industrieprodukte anderer
Nahrungsmittelkonzerne.
Die
Russen, die hier einkaufen, haben davon offenbar noch kein Bewusstsein, genauso wenig, wie bei der
Müllentsorgung. Immer wieder muss ich mich überwinden, wenn ich bei Lenas
Eltern Teebeutel, Lebensmittelreste, Plastikflaschen oder Papier ungetrennt in
den gleichen Mülleimer werfen muss.
Dieser
unbewusste Umgang mit industriell gefertigten Lebensmitteln und der
umweltbelastenden Müllentsorgung ist der
dritte "Schock", den ich an diesem Sonntag erfahre.
[3]
„Nach Berechnungen der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, die im
November 2008 veröffentlicht wurden, betrug die Opferzahl in der Ukraine ca. 3,5
Millionen Menschen. Andere Schätzungen gehen von 2,4 bis 7,5 Millionen
Hungertoten aus. Der britische Historiker Robert Conquest beziffert die Gesamtopferzahl
auf bis zu 14,5 Millionen Menschen. Hierbei wurden neben den Hungertoten auch
die Opfer der Kollektivierung und Entkulakisierung und der Geburtenverlust
hinzugerechnet“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Holodomor
).
[4]
„Stalin verfolgte das politische Ziel, den ukrainischen Freiheitswillen zu
unterdrücken und die sowjetische Herrschaft in der Ukraine zu festigen. Die
Sowjets waren bereits zuvor radikal gegen die ukrainische Intelligenzija und
den ukrainischen Klerus vorgegangen. Zwischen 1926 und 1932 wurden durch die
Kommunisten 10000 Kleriker liquidiert. Allein im Jahr 1931 wurden mehr als
50000 Intellektuelle nach Sibirien deportiert, darunter die 114 wichtigsten
Dichter, Schriftsteller und Künstler des Landes. Hiernach wandten sich die
Sowjets nun gegen die Bauernschaft, die sich weiterhin hartnäckig der
Kollektivierung und Umerziehung widersetzte. Im Sinne der Russifizierung sollte
die ukrainische Kultur ausgemerzt werden, so dass nur noch sowjetische Kultur
übrigbliebe (ebenda).
[5]
Der deutsche Journalist Paul Scheffer hatte, wie ich Wikipedia entnehme, schon
im Jahre 1929 darüber im „Berliner Tageblatt“ berichtet und ging 1930, also
ebenfalls vor der Machtergreifung Hitlers, in seinem Buch „Sieben Jahre
Sowjetunion“ „sachlich, aber erstmals ausführlich auf Stalins Methoden und
Vertuschungsversuche zum ‚millionenfachen Hungertod‘“ (Wikipedia) ein.
[7]
„Die Kunstschätze der Stadt blieben vor der Zerstörung
bewahrt.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Lomonossow
[8]
Hiob war auch der Lieblingsheilige von Dostojewski
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