Bis heute habe ich gezögert,
darüber zu schreiben; bis heute habe ich gewartet und darüber nachgedacht, was
ich vor einer Woche erleben durfte. Nun will ich es wagen, darüber – wie immer
– stammelnd zu schreiben:
Am vergangenen Freitag stellte
der evangelische Theologe Paul Dieterich seine im Mai 2018 in zweiter Auflage
erschienene umfangreiche Biographie Erhard Epplers[1] im Haller „Haus der
Bildung“ vor.
Natürlich bin ich hingegangen.
Seitdem ich Erhard Epplers
verhältnismäßig dünne Selbstbiographie „Links leben“ gelesen habe, interessiert
mich dieser 1926 in Ulm geborene, in Schwäbisch Hall aufgewachsene und auf dem
Haller Friedensberg wohnhafte SPD-Politiker noch mehr als früher, als ich ihn
kurz nach 9/11 bereits einmal bei einem Vortrag mit anschließender Diskussion
in unserem Ellwanger Gymnasium erleben durfte, wohin ihn Inge Barth-Grötzinger
innerhalb ihrer Reihe „Erzählcafe“ eingeladen hatte.
Nun war der 92-jährige Patriarch
von seinem Berg herabgestiegen und nahm neben dem 77-jährigen ehemaligen Dekan
von Schwäbisch Hall und Prälat von Heilbronn, Paul Dieterich Platz. Auch diesen
hervorragenden Theologen habe ich in meiner Funktion als Laienvorsitzender des
Rechenberger Kirchengemeinderates (von 2001 – 2015) schon einmal persönlich
kennenlernen dürfen.
In dem Raum sitzen etwa 60, meist
ältere Menschen. Ich finde einen Platz in der zweiten Reihe zwischen dem
ehemaligen Stadtrat Dr. Müller und Frau Colette Deutsch, der Witwe des
Kunsthistorikers Wolfgang Deutsch, der insbesondere über Sankt Michael
geforscht und veröffentlicht hat. Unmittelbar vor mir sitzen der
SPD-Vorsitzende und Rechtsanwalt Nikolaos Sakellariou und der Redakteur des
Haller Tagblatts Norbert Acker.
Eigentlich war der Abend als
„Lesung“ angekündigt. Jedermann erwartete, dass Prälat Dieterich aus seinem in
einer Miniauflage von nur 500 Exemplaren vom Nürtinger „Denkhaus-Verlag“ gedrucktem
Buch vorlesen würde. Dann kam es aber ganz anders und der Abend wurde zu einem
faszinierenden Dialog auf höchstem geistigem Niveau: Paul Dieterich, der für
sein Buch 37 Tonbänder mit jeweils durchschnittlich zweistündigen Gesprächen, die
er mit Erhard Eppler in den vergangenen Jahren führen konnte, ausgewertet hat,
gab Erhard Eppler Stichwörter und stellte anhand der Biographie Fragen,
beginnend mit der Mutter, auf die Erhard Eppler in leisem Ton und intellektuell
brillant antwortete.
Das „Gespräch“ dauerte knapp zwei
Stunden und es war vollkommen still im Raum; jedermann konzentrierte sich auf
die Worte des feinsinnigen Menschen, der hier aus seinem Leben erzählte. Keine
Spur von Hochmut war bei ihm zu erleben, sondern nur Bescheidenheit und
Altersweisheit. Keine Polemik, keine Anklage. Nicht einmal die in das Dritte
Reich verstrickten Menschen, die den 15-jährigen in die Waffen-SS holen wollten,
erfuhren eine Abwertung. Sein Redestil war sachlich und ruhig und dabei immer
von einer rhetorischen Brillanz, bei der der Zuhörer gespannt auf die
Schlussformulierung wartete, in der es oft eine überraschende Wendung oder
humorvolle Pointe gab.
Mir wurde klar, dass der Impuls,
den dieser Politiker in sich trug, ein geistiger war, der Deutschland nach dem
Zweiten Weltkrieg in eine ganz andere Richtung geführt hätte, als es dann
geschah.
Erhard Eppler hatte bereits als Politiker einen weiten Geist und er sah Entwicklungen
beinahe hellsichtig voraus, für die jedoch die meisten anderen Politiker noch
gar keinen Sinn hatten. Er war zum Beispiel 1952 bereit, auf die Stalin-Noten
einzugehen, mit denen der Diktator das Angebot machte, die Wiedervereinigung
der beiden Teile Deutschlands zuzulassen, wenn sich das wiedervereinigte
Deutschland bereit erklärte, neutral zu bleiben, also nicht Mitglied des
militärischen Nordatlantik-Paktes (NATO) zu werden.
Leider war die Mehrheit der
Abgeordneten, die unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Westbindung
bevorzugten, weil sie in den USA den natürlichen Verbündeten sahen, mit dem sie
sich gegen den Kommunismus der Sowjetunion zur Wehr setzen konnten, dagegen und
schlug jene erste Chance zur deutschen Wiedervereinigung und zur damit
verbundenen Neutralität Deutschlands hochmütig aus. Das aber war genau der Beginn eines Weges,
der zum „Kalten Krieg“ führte und in veränderter Form bis heute Mitteleuropa
unter dem Einfluss der US-Imperiums in eine unglückselige Rolle gegenüber
Russland geführt hat, insbesondere nach der 1990 tatsächlich mit Hilfe Michael
Gorbatschows erfolgten Wiedervereinigung, als nämlich kurz darauf das westliche
Versprechen an Russland gebrochen wurde, auf eine Osterweiterung der NATO zu
verzichten.
Erhard Eppler hat also früh
erkannt, dass die Rolle Deutschlands nur eine vermittelnde zwischen Ost und
West sein kann.
Als der 21-jährige Student der
Germanistik und Geschichte 1947 für zunächst zwei Semester zusammen mit elf
weiteren ausgesuchten Studenten aus ganz Deutschland von Schweizer Demokraten
in die Hauptstadt Bern eingeladen wurde, hörte er 1948 im Berner Münster auch
den bekannten evangelischen Theologen Karl Barth (1886 – 1968)[2], der „über die Kirche in
Ost und West“ sprach. Dieser Vortrag hat ihm „großen Eindruck“ gemacht. Paul
Dieterich meint sogar, dass dieser Berner Vortrag „im Leben Epplers Weichen
gestellt“ habe (S 104):
„Barth sieht, dass beide Mächte,
Amerika und Russland, miteinander um die Macht kämpfen. Sie spielten sich als
‚Lehrer, Gönner, Beschützer, Wohltäter – oder sagen wir es deutlich: Herren‘
auf. (…) ‚Nicht mittun bei diesem Gegensatz‘, rät Barth. ‚Mit dem Evangelium im
Herzen und auf den Lippen können wir zwischen jenen beiden streitenden Riesen
nur mitten hindurch gehen mit der Bitte: Erlöse uns von dem Bösen‘. Barth
plädiert für christliche Ernüchterung und dafür, nicht auf der einen Seite das
Gute, auf der anderen Seite das Böse zu sehen, nicht Partei zu ergreifen für
die eine oder andere Seite; der Weg der Gemeinde könne nur ein dritter, ihr
eigener sein.“
Auch dem späteren
Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899 – 1976)[3] begegnet Eppler damals in Bern
zum ersten Mal. Später wird Erhard Eppler Mitglied in der durch Heinemann
gegründeten „Gesamtdeutschen Volkspartei“ (GVP), einem leider ebenfalls
gescheiterten Versuch, eine christliche Alternative zu den etablierten Parteien
zu schaffen. Heinemann, der 1949 Innenminister im ersten Kabinett Adenauer
gewesen war, hatte die CDU und sein Amt 1952 verlassen, als der Kanzler seinen
Ministern Andeutungen über eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands gemacht
hatte. Auch die anthroposophische Historikerin Renate Riemek (1920 – 2003)[4] wurde wie Erhard Eppler
Mitglied in der GVP.
Es kann eigentlich gar nicht
anders sein, als dass sich die beiden Repräsentanten des wahren deutschen
Volksgeistes, die unter Gustav Heinemann nach der zukünftigen Bestimmung
Deutschlands suchten[5], damals getroffen haben:
die Breslauerin Renate Riemek und der Ulmer Erhard Eppler. Aber diesen Teil der
Geschichte verschweigt der evangelische Theologe in seiner umfangreichen
Biographie, die sonst nur Bundeskanzlern in solcher Ausführlichkeit gewidmet
werden, wie Erhard Eppler im Gespräch selbstironisch anmerkt. Außerdem bleibt
selbstverständlich die Tatsache unerwähnt, dass die Stadt Bern im September
1910 das Forum bot für den Zyklus, den Rudolf Steiner über das
Matthäus-Evangelium hielt.
Dafür erwähnt Paul Dieterich die
starke Prägung Epplers durch den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1815
– 1855), dessen Schriften der Student durch seinen Berner Lehrer und Hausvater
Arnold Gilg (1887 – 1967)[6], einen „Altkatholiken“,
der im Jahre 1925 an der Berner Universität eine Vorlesung über Kierkegaard
gehalten hatte, die 1926 als Buch veröffentlicht wurde, kennen lernte.
In seiner vor drei Jahren (2016)
erschienenen Autobiografie „Links leben“ betont Erhard Eppler selbst, wie
wichtig ihm das „Neue Testament“ damals geworden ist. Paul Dieterich ergänzt:
„Umso erstaunlicher, dass der 89-Jährige in Erinnerung an seine Lektüre des
Neuen Testaments in Bern seine Stellung zu Jesus Christus thematisiert.
Natürlich sei es bisher immer misslungen, aus den vier Evangelien so etwas wie
eine Biographie Jesu abzuleiten. ‚Und doch trat aus diesen vier großen
Predigten ein Mensch hervor, der mich faszinierte.‘“ (S 103)
Das erinnert mich unmittelbar an
den Anfang des ersten Vortrages, den Rudolf Steiner am 1. September 1910 in
Bern hielt:
„Es ist jetzt das dritte Mal,
dass mir hier in der Schweiz die Möglichkeit geboten ist, von einer gewissen
Seite her das größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte zu besprechen.
Das erste Mal war es, als in Basel gesprochen werden durfte über dieses
Ereignis von jener Seite her, zu der das Johannes-Evangelium die Veranlassung
bietet; das zweite Mal, als jene Charakteristik dieses Ereignisses gegeben
werden durfte, zu welcher das Lukas-Evangelium die Unterlage bietet; und dieses
Mal, also zum dritten Mal, soll der Impuls zu dieser Schilderung ausgehen vom
Matthäus-Evangelium. Es ist von mir des öftern angedeutet worden, dass gerade
darin etwas Bedeutungsvolles liegt, dass uns dieses Ereignis in vier, scheinbar
in einer gewissen Weise sich unterscheidenden Urkunden aufbewahrt ist. Was
gewissermaßen der heutigen äußeren materialistischen Gesinnung Veranlassung
gibt, mit einer negativen, zersetzenden Kritik einzugreifen, das ist gerade
das, was nach unserer anthroposophischen Überzeugung als bedeutungsvoll
erscheint.“[7]
Rudolf Steiner hat, wenn er vom
Christusereignis spricht, eine viel weitere Perspektive als die in ihren
menschlichen Anschauungen und Widersprüchen gefangenen Theologen, wenn er es
als „das größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte“ bezeichnet.
Karl Barth war einer der führenden
protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der als schweizerischer
Dorfpfarrer das „Erschrecken“ durch den Ersten Weltkrieg erlebt hatte, das
viele andere Theologen, so auch der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer,
der spätere Begründer der Christengemeinschaft, auch erleben mussten. Gerhard
Wehr charakterisiert Karl Barth in seiner Rittelmeyer-Biographie[8] so:
„Wie Rittelmeyer, so hatte auch
der knapp 15 Jahre jüngere Barth einst die Schule von Adolf von Harnack
durchlaufen. Doch dessen theologische Position befremdete ihn mehr und mehr,
zumal Harnack sowie andere gefeierte Theologen und Philosophen zu jenen 93
deutschen Intellektuellen gehörten, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs 1914
die Machtpolitik Kaiser Wilhelms II. als das Gebot der Stunde priesen und den
Kampf ‚gegen eine Welt von Feinden‘ moralisch geradezu als von Gott geboten
ansahen. (…) Epochemachend sollte die Römerbrief-Auslegung Barths werden. (…)
Die in dieser Predigt zum Ausdruck kommende Botschaft lässt sich auf die knappe
Formel bringen: Gott ist im Himmel, der Mensch auf der Erde. - Es gibt vom
Menschen her keinen Weg zu Gott, nur den Weg Gottes zu den Menschen, nämlich
durch Christus. Kierkegaard folgend spricht Barth vom ‚unendlichen qualitativen
Unterschied‘ zwischen Zeit und Ewigkeit. Mithin sei alles religiöse Bemühen zum
Scheitern verurteilt. Ja, ‚Religion ist Unglaube‘, ein Irrweg menschlicher
Hybris. Religiöse Erfahrung ist wie jedes spirituelle Streben verpönt, weil es
dem menschlichen Leistungswillen entstamme, mithin ‚unevangelisch‘ und
antireformatorisch sei.“
Interessant ist noch folgende
Bemerkung Gerhard Wehrs:
„Und wie Barth selbst über das
dachte, was in Dornach – also in seiner relativen Nachbarschaft – vorging, verrät
einer seiner Rundbriefe an die Gesinnungsgenossen. Da liest man unter dem 23.
Januar 1923: ‚Von dem Brande des Goetheanums haben wir mit Genugtuung Kenntnis
genommen.“
Anthroposophie ist demnach
„Ketzerei“ und wird bis heute leider von den meisten Theologen der beiden
Konfessionen abgelehnt.
Aber Gott hat einen langen Atem
und er kann auch warten, bis selbst die Theologen der christlichen Konfessionen wieder
zu ihm finden…
Für mich ist es ein Wink höherer
Geistesmächte, dass der feinsinnige Geist und klarsichtige Politiker Erhard
Eppler, der heute auf einem Berg über der Michaels-Stadt Schwäbisch Hall wohnt,
der einst der „Galgenberg“ genannt wurde, und der auf seine eigene Initiative
hin heute „Friedensberg“ heißt, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Haller
Unternehmerehepaars lebt, das zu den Mitbegründern der hiesigen
Christengemeinschaft gehört.
Diese Signatur des Schicksals ist
nicht die erste und wird nicht die letzte sein, die sein zukünftiges Schicksal
in positiver Weise lenken wird.
[1]
Erhard Eppler, Leben, Denken und Wirken, eine Biographie bis zum Wendejahr 1989,
denkhaus-Verlag, Nürtingen
[2]
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Barth
Leider ist der Film „Gottes fröhlicher Partisan“ von Peter Reichenbach
(Deutschland 2017) nicht mehr verfügbar. Siehe auch: https://www.evangelische-aspekte.de/gottes-froehlicher-partisan/ https://www.medienzentralen.de/medium41791/Gottes-froehlicher-Partisan-Karl-Barth
[5]
Eppler: „Das ist der Typ von Politiker, den wir jetzt brauchen.“ (Dieterich, S
103)
[7]
GA 123, 1. Vortrag.
[8]
Gerhard Wehr, Friedrich Rittelmeyer, Sein Leben, Religiöse Erneuerung als
Brückenschlag, Verlag Urachhaus, Stuttgart, 1998, S 136f