Vorgestern und vorvorgestern
erreichten mich zwei antiquarische Bücher von Friedrich Hiebel, die ich
bestellt hatte. „Der Tod des Aristoteles“ und „Boethius, der römische Retter
des Aristoteles“. Der im Jahre 1903 geborene Germanistikprofessor, der ab 1963
auch Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und ab 1966 Leiter
der „Sektion für Schöne Wissenschaften“ am Goetheanum war, verarbeitet die
Biographien der beiden großen Philosophen in zwei Romanen, die ich noch vor
unserer Reise auf die Insel Samothrake lesen möchte.
Gestern nun las ich das erste
Drittel des neuesten „Anthroblog“ von Lorenzo Ravaglio (vom 5.März 2019,
aktualisiert am 9. März 2019) über „Anthroposophie im 21. Jahrhundert“, in dem
er sich kritisch mit dem 1982 erschienenen ersten Buch von Sergej O. Prokofieff
(1954 – 2014) auseinandersetzt, das ich auch mit zwiespältigem Interesse
gelesen habe: „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“.
Lorenzo Ravaglio, der sich
ebenfalls erstaunlich gut im Werk Rudolf Steiners auskennt und in seinem Büchlein
„Zanders Erzählungen“ dem Religionswissenschaftler Helmut Zander in seiner
zweibändigen kritischen Untersuchung über „Anthroposophie in Deutschland“ einige
Irrtümer und Fehler nachgewiesen hat, beginnt seinen Essay mit folgender
Feststellung:
„Prokofieffs Buch über die
Grundlegung der neuen Mysterien stellt den Höhepunkt der Ausgestaltung jenes
spirituell-sozialen Mythos dar, dessen Ausgangspunkt und Gravitationszentrum
bis heute Rudolf Steiner bildet“[1]
Neben diesem Einleitungssatz, der
in kürzester Form das Leitmotiv des ganzen Essays anreißt, steht ein Foto des
jungen Russen aus dem Jahr 1982, das ihn so traurig und ernst zeigt, wie später
die Fotos des Vorstandsvorsitzenden, der 2013 – nach einer bitteren
Auseinandersetzung mit Judith von Halle, die er nicht persönlich empfangen
wollte – schwer erkrankt und am 26. Juli 2014 im Alter von nur 60 Jahren verstorben
ist.
Dieser Neffe des Musikers
gleichen Namens hat schon mit 28 Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er
zeigt, wie sehr er sich in die Gesamtausgabe Rudolf Steiners eingelesen hat. Ich
glaube durchaus, dass es sich dabei um ein inspiriertes Werk handelt, das aus seiner idealistischen Seele entsprungen ist. Wenn man es jedoch in der
Übersetzung von Ursula Preuß[2] liest, so kommt es einem
streckenweise gezwungen intellektuell vor. Die von seinen eigenen unmittelbaren
Christuserfahrungen inspirierte (russische) Seele versucht, ihre Erlebnisse mit
oder an Rudolf Steiner mit der Hilfe westlicher Intellektualität darzustellen. Er
hatte nicht den „Mut“ – wie Wladimir Solofieff – die künstlerische Form zu wählen.
Ich glaube, das ist seine ganze Tragik.
Manche hielten den jungen Mann,
der Ende der 70er Jahre durch die Straßen von Moskau ging und die Menschen
ansprach, die er für geeignet hielt, in der Metropole der Sowjetunion einen –
damals noch verbotenen – „Zweig“ zu gründen, der dann auch zustande kam und jahrelang
im Untergrund wirken musste, für die Reinkarnation Rudolf Steiners. Das deutet
Ravaglio in einer Fußnote auch an, indem er zunächst vorbereitend schreibt:
„Steiners ‚eigener Lebensgang‘
muss als ‚Urbild des modernen Einweihungsweges‘ betrachtet werden (PR, 19). Wer
diesen Einweihungsweg, den Steiner wohlgemerkt in persona verkörpert (und nicht nur in unterschiedlicher Form
schriftlich sowie mündlich geschildert hat), verstehen und womöglich
beschreiten will, muss ‚die Schleier von den verborgenen Schichten seines
Lebens‘ ‚lüften‘.“
Rudolf Steiner werde, so
Ravaglio, durch Sergej Prokofieff zum „Welterlöser“ stilisiert, der von Christi
Schüler zum Lehrer geworden sei. Er vermochte ab dem Zeitpunkt seiner
persönlichen Begegnung mit dem Christus „als persönlicher Zeuge und Diener
Christi“ Seelen „zu jener heiligen Pforte zu führen, durch die sich der vom
Christus gesandte Heilige Geist ausgießt“ (PR, 20)
Immer mehr wird Rudolf Steiner unter
der Feder Prokofieffs jener „Übermensch“, von dem schon Nietzsche und Solowieff
sprachen, der mit nahezu übermenschlicher Anstrengung seine (mehrfache)
Erdenmission zu erfüllen sucht.
Ich kann Prokofieff trotz aller
Kritik gut verstehen: Er sieht in Rudolf Steiner die außergewöhnliche
Individualität, die er tatsächlich war. Aber in all seinen späteren Werken und
Vorträgen trägt Prokofieff leider dazu bei, Rudolf Steiner, den er mit Recht
verehrt, zu einem unnahbaren Heiligen zu erheben. Er folgt dabei dem
verhängnisvollen Beispiel der Kirche, die aus Christus, seinen Jüngern und
seinen Nachfolgern unnahbare Wesen gemacht hat, die weit über dem Menschen
stehen und zu denen man nur noch durch fromme Verehrung und Gebet Zugang finden
kann. Dass sie in Wirklichkeit alle auch Menschen mit ihren Fehlern und mit
ihren Schwächen waren, wird dabei ausgeblendet. Dabei muss man nur an den
Apostel Petrus denken, der seinen Herrn dreimal verleugnet hat, oder an Judas,
der seinen Herrn im besten Glauben verraten hat, weil er meinte, Jesus sei so
unverwundbar, dass er seine Feinde ohne Problem besiegen könne.
All diese Projektionen beruhen
auf Missverständnissen.
Durch solche Missverständnisse,
die durch Prokofieff tüchtig befördert wurden, erwartet die Mehrheit der
Anthroposophenschaft die Reinkarnation Rudolf Steiners als eines genialen
Geistes, der in der Öffentlichkeit wirkt.
Vielleicht ist er jedoch genau
das Gegenteil. So wie der große Eingeweihte Manu als „tumber Narr“ Parzival
wiedergeboren wurde, der vergaß, die richtige Frage zu stellen und deshalb
fünfeinhalb Jahre durch halb Europa irren musste, bis er seine Mission, den
bisherigen Gralskönig zu erlösen, vollenden konnte, so wird auch Rudolf
Steiner, wenn er wiederkommt, kaum als „Genie“ in der Öffentlichkeit auftreten
und „Vorträge“ halten.
Er wird nur jenen als der,
welcher er ist, erscheinen, die ihn innerlich als solchen wahrnehmen. Und das
wird mit Sicherheit nur ein kleines Häuflein sein.
[2]
Ursula Preuß war Lehrerin an der Stuttgarter Waldorfschule am Kräherwald. Ich
habe bei ihr Ende 1979, während meiner Ausbildung zum Waldorflehrer, ein
Praktikum gemacht.
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