Samstag, 9. März 2019

Zu Ravaglios Kritik an Prokofieff


Vorgestern und vorvorgestern erreichten mich zwei antiquarische Bücher von Friedrich Hiebel, die ich bestellt hatte. „Der Tod des Aristoteles“ und „Boethius, der römische Retter des Aristoteles“. Der im Jahre 1903 geborene Germanistikprofessor, der ab 1963 auch Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und ab 1966 Leiter der „Sektion für Schöne Wissenschaften“ am Goetheanum war, verarbeitet die Biographien der beiden großen Philosophen in zwei Romanen, die ich noch vor unserer Reise auf die Insel Samothrake lesen möchte.
Gestern nun las ich das erste Drittel des neuesten „Anthroblog“ von Lorenzo Ravaglio (vom 5.März 2019, aktualisiert am 9. März 2019) über „Anthroposophie im 21. Jahrhundert“, in dem er sich kritisch mit dem 1982 erschienenen ersten Buch von Sergej O. Prokofieff (1954 – 2014) auseinandersetzt, das ich auch mit zwiespältigem Interesse gelesen habe: „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“.
Lorenzo Ravaglio, der sich ebenfalls erstaunlich gut im Werk Rudolf Steiners auskennt und in seinem Büchlein „Zanders Erzählungen“ dem Religionswissenschaftler Helmut Zander in seiner zweibändigen kritischen Untersuchung über „Anthroposophie in Deutschland“ einige Irrtümer und Fehler nachgewiesen hat, beginnt seinen Essay mit folgender Feststellung:
„Prokofieffs Buch über die Grundlegung der neuen Mysterien stellt den Höhepunkt der Ausgestaltung jenes spirituell-sozialen Mythos dar, dessen Ausgangspunkt und Gravitationszentrum bis heute Rudolf Steiner bildet“[1]
Neben diesem Einleitungssatz, der in kürzester Form das Leitmotiv des ganzen Essays anreißt, steht ein Foto des jungen Russen aus dem Jahr 1982, das ihn so traurig und ernst zeigt, wie später die Fotos des Vorstandsvorsitzenden, der 2013 – nach einer bitteren Auseinandersetzung mit Judith von Halle, die er nicht persönlich empfangen wollte – schwer erkrankt und am 26. Juli 2014 im Alter von nur 60 Jahren verstorben ist.
Dieser Neffe des Musikers gleichen Namens hat schon mit 28 Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er zeigt, wie sehr er sich in die Gesamtausgabe Rudolf Steiners eingelesen hat. Ich glaube durchaus, dass es sich dabei um ein inspiriertes Werk handelt, das aus seiner idealistischen Seele entsprungen ist. Wenn man es jedoch in der Übersetzung von Ursula Preuß[2] liest, so kommt es einem streckenweise gezwungen intellektuell vor. Die von seinen eigenen unmittelbaren Christuserfahrungen inspirierte (russische) Seele versucht, ihre Erlebnisse mit oder an Rudolf Steiner mit der Hilfe westlicher Intellektualität darzustellen. Er hatte nicht den „Mut“ – wie Wladimir Solofieff – die künstlerische Form zu wählen. Ich glaube, das ist seine ganze Tragik.

Manche hielten den jungen Mann, der Ende der 70er Jahre durch die Straßen von Moskau ging und die Menschen ansprach, die er für geeignet hielt, in der Metropole der Sowjetunion einen – damals noch verbotenen – „Zweig“ zu gründen, der dann auch zustande kam und jahrelang im Untergrund wirken musste, für die Reinkarnation Rudolf Steiners. Das deutet Ravaglio in einer Fußnote auch an, indem er zunächst vorbereitend schreibt:
„Steiners ‚eigener Lebensgang‘ muss als ‚Urbild des modernen Einweihungsweges‘ betrachtet werden (PR, 19). Wer diesen Einweihungsweg, den Steiner wohlgemerkt in persona verkörpert (und nicht nur in unterschiedlicher Form schriftlich sowie mündlich geschildert hat), verstehen und womöglich beschreiten will, muss ‚die Schleier von den verborgenen Schichten seines Lebens‘ ‚lüften‘.“
Rudolf Steiner werde, so Ravaglio, durch Sergej Prokofieff zum „Welterlöser“ stilisiert, der von Christi Schüler zum Lehrer geworden sei. Er vermochte ab dem Zeitpunkt seiner persönlichen Begegnung mit dem Christus „als persönlicher Zeuge und Diener Christi“ Seelen „zu jener heiligen Pforte zu führen, durch die sich der vom Christus gesandte Heilige Geist ausgießt“ (PR, 20)
Immer mehr wird Rudolf Steiner unter der Feder Prokofieffs jener „Übermensch“, von dem schon Nietzsche und Solowieff sprachen, der mit nahezu übermenschlicher Anstrengung seine (mehrfache) Erdenmission zu erfüllen sucht.
Ich kann Prokofieff trotz aller Kritik gut verstehen: Er sieht in Rudolf Steiner die außergewöhnliche Individualität, die er tatsächlich war. Aber in all seinen späteren Werken und Vorträgen trägt Prokofieff leider dazu bei, Rudolf Steiner, den er mit Recht verehrt, zu einem unnahbaren Heiligen zu erheben. Er folgt dabei dem verhängnisvollen Beispiel der Kirche, die aus Christus, seinen Jüngern und seinen Nachfolgern unnahbare Wesen gemacht hat, die weit über dem Menschen stehen und zu denen man nur noch durch fromme Verehrung und Gebet Zugang finden kann. Dass sie in Wirklichkeit alle auch Menschen mit ihren Fehlern und mit ihren Schwächen waren, wird dabei ausgeblendet. Dabei muss man nur an den Apostel Petrus denken, der seinen Herrn dreimal verleugnet hat, oder an Judas, der seinen Herrn im besten Glauben verraten hat, weil er meinte, Jesus sei so unverwundbar, dass er seine Feinde ohne Problem besiegen könne.
All diese Projektionen beruhen auf Missverständnissen.
Durch solche Missverständnisse, die durch Prokofieff tüchtig befördert wurden, erwartet die Mehrheit der Anthroposophenschaft die Reinkarnation Rudolf Steiners als eines genialen Geistes, der in der Öffentlichkeit wirkt.
Vielleicht ist er jedoch genau das Gegenteil. So wie der große Eingeweihte Manu als „tumber Narr“ Parzival wiedergeboren wurde, der vergaß, die richtige Frage zu stellen und deshalb fünfeinhalb Jahre durch halb Europa irren musste, bis er seine Mission, den bisherigen Gralskönig zu erlösen, vollenden konnte, so wird auch Rudolf Steiner, wenn er wiederkommt, kaum als „Genie“ in der Öffentlichkeit auftreten und „Vorträge“ halten.
Er wird nur jenen als der, welcher er ist, erscheinen, die ihn innerlich als solchen wahrnehmen. Und das wird mit Sicherheit nur ein kleines Häuflein sein.



[2] Ursula Preuß war Lehrerin an der Stuttgarter Waldorfschule am Kräherwald. Ich habe bei ihr Ende 1979, während meiner Ausbildung zum Waldorflehrer, ein Praktikum gemacht.

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