Freitag, 29. März 2019

Eine Begegnung mit einem wirklichen Vertreter des deutschen Volkes - Erhard Eppler


Bis heute habe ich gezögert, darüber zu schreiben; bis heute habe ich gewartet und darüber nachgedacht, was ich vor einer Woche erleben durfte. Nun will ich es wagen, darüber – wie immer – stammelnd zu schreiben:
Am vergangenen Freitag stellte der evangelische Theologe Paul Dieterich seine im Mai 2018 in zweiter Auflage erschienene umfangreiche Biographie Erhard Epplers[1] im Haller „Haus der Bildung“ vor.
Natürlich bin ich hingegangen.



Seitdem ich Erhard Epplers verhältnismäßig dünne Selbstbiographie „Links leben“ gelesen habe, interessiert mich dieser 1926 in Ulm geborene, in Schwäbisch Hall aufgewachsene und auf dem Haller Friedensberg wohnhafte SPD-Politiker noch mehr als früher, als ich ihn kurz nach 9/11 bereits einmal bei einem Vortrag mit anschließender Diskussion in unserem Ellwanger Gymnasium erleben durfte, wohin ihn Inge Barth-Grötzinger innerhalb ihrer Reihe „Erzählcafe“ eingeladen hatte.
Nun war der 92-jährige Patriarch von seinem Berg herabgestiegen und nahm neben dem 77-jährigen ehemaligen Dekan von Schwäbisch Hall und Prälat von Heilbronn, Paul Dieterich Platz. Auch diesen hervorragenden Theologen habe ich in meiner Funktion als Laienvorsitzender des Rechenberger Kirchengemeinderates (von 2001 – 2015) schon einmal persönlich kennenlernen dürfen.
In dem Raum sitzen etwa 60, meist ältere Menschen. Ich finde einen Platz in der zweiten Reihe zwischen dem ehemaligen Stadtrat Dr. Müller und Frau Colette Deutsch, der Witwe des Kunsthistorikers Wolfgang Deutsch, der insbesondere über Sankt Michael geforscht und veröffentlicht hat. Unmittelbar vor mir sitzen der SPD-Vorsitzende und Rechtsanwalt Nikolaos Sakellariou und der Redakteur des Haller Tagblatts Norbert Acker.
Eigentlich war der Abend als „Lesung“ angekündigt. Jedermann erwartete, dass Prälat Dieterich aus seinem in einer Miniauflage von nur 500 Exemplaren vom Nürtinger „Denkhaus-Verlag“ gedrucktem Buch vorlesen würde. Dann kam es aber ganz anders und der Abend wurde zu einem faszinierenden Dialog auf höchstem geistigem Niveau: Paul Dieterich, der für sein Buch 37 Tonbänder mit jeweils durchschnittlich zweistündigen Gesprächen, die er mit Erhard Eppler in den vergangenen Jahren führen konnte, ausgewertet hat, gab Erhard Eppler Stichwörter und stellte anhand der Biographie Fragen, beginnend mit der Mutter, auf die Erhard Eppler in leisem Ton und intellektuell brillant antwortete.
Das „Gespräch“ dauerte knapp zwei Stunden und es war vollkommen still im Raum; jedermann konzentrierte sich auf die Worte des feinsinnigen Menschen, der hier aus seinem Leben erzählte. Keine Spur von Hochmut war bei ihm zu erleben, sondern nur Bescheidenheit und Altersweisheit. Keine Polemik, keine Anklage. Nicht einmal die in das Dritte Reich verstrickten Menschen, die den 15-jährigen in die Waffen-SS holen wollten, erfuhren eine Abwertung. Sein Redestil war sachlich und ruhig und dabei immer von einer rhetorischen Brillanz, bei der der Zuhörer gespannt auf die Schlussformulierung wartete, in der es oft eine überraschende Wendung oder humorvolle Pointe gab.
Mir wurde klar, dass der Impuls, den dieser Politiker in sich trug, ein geistiger war, der Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in eine ganz andere Richtung geführt hätte, als es dann geschah. 
Erhard Eppler hatte bereits als Politiker einen weiten Geist und er sah Entwicklungen beinahe hellsichtig voraus, für die jedoch die meisten anderen Politiker noch gar keinen Sinn hatten. Er war zum Beispiel 1952 bereit, auf die Stalin-Noten einzugehen, mit denen der Diktator das Angebot machte, die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands zuzulassen, wenn sich das wiedervereinigte Deutschland bereit erklärte, neutral zu bleiben, also nicht Mitglied des militärischen Nordatlantik-Paktes (NATO) zu werden.
Leider war die Mehrheit der Abgeordneten, die unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Westbindung bevorzugten, weil sie in den USA den natürlichen Verbündeten sahen, mit dem sie sich gegen den Kommunismus der Sowjetunion zur Wehr setzen konnten, dagegen und schlug jene erste Chance zur deutschen Wiedervereinigung und zur damit verbundenen Neutralität Deutschlands hochmütig aus.  Das aber war genau der Beginn eines Weges, der zum „Kalten Krieg“ führte und in veränderter Form bis heute Mitteleuropa unter dem Einfluss der US-Imperiums in eine unglückselige Rolle gegenüber Russland geführt hat, insbesondere nach der 1990 tatsächlich mit Hilfe Michael Gorbatschows erfolgten Wiedervereinigung, als nämlich kurz darauf das westliche Versprechen an Russland gebrochen wurde, auf eine Osterweiterung der NATO zu verzichten.
Erhard Eppler hat also früh erkannt, dass die Rolle Deutschlands nur eine vermittelnde zwischen Ost und West sein kann.
Als der 21-jährige Student der Germanistik und Geschichte 1947 für zunächst zwei Semester zusammen mit elf weiteren ausgesuchten Studenten aus ganz Deutschland von Schweizer Demokraten in die Hauptstadt Bern eingeladen wurde, hörte er 1948 im Berner Münster auch den bekannten evangelischen Theologen Karl Barth (1886 – 1968)[2], der „über die Kirche in Ost und West“ sprach. Dieser Vortrag hat ihm „großen Eindruck“ gemacht. Paul Dieterich meint sogar, dass dieser Berner Vortrag „im Leben Epplers Weichen gestellt“ habe (S 104):
„Barth sieht, dass beide Mächte, Amerika und Russland, miteinander um die Macht kämpfen. Sie spielten sich als ‚Lehrer, Gönner, Beschützer, Wohltäter – oder sagen wir es deutlich: Herren‘ auf. (…) ‚Nicht mittun bei diesem Gegensatz‘, rät Barth. ‚Mit dem Evangelium im Herzen und auf den Lippen können wir zwischen jenen beiden streitenden Riesen nur mitten hindurch gehen mit der Bitte: Erlöse uns von dem Bösen‘. Barth plädiert für christliche Ernüchterung und dafür, nicht auf der einen Seite das Gute, auf der anderen Seite das Böse zu sehen, nicht Partei zu ergreifen für die eine oder andere Seite; der Weg der Gemeinde könne nur ein dritter, ihr eigener sein.“
Auch dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899 – 1976)[3] begegnet Eppler damals in Bern zum ersten Mal. Später wird Erhard Eppler Mitglied in der durch Heinemann gegründeten „Gesamtdeutschen Volkspartei“ (GVP), einem leider ebenfalls gescheiterten Versuch, eine christliche Alternative zu den etablierten Parteien zu schaffen. Heinemann, der 1949 Innenminister im ersten Kabinett Adenauer gewesen war, hatte die CDU und sein Amt 1952 verlassen, als der Kanzler seinen Ministern Andeutungen über eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands gemacht hatte. Auch die anthroposophische Historikerin Renate Riemek (1920 – 2003)[4] wurde wie Erhard Eppler Mitglied in der GVP.
Es kann eigentlich gar nicht anders sein, als dass sich die beiden Repräsentanten des wahren deutschen Volksgeistes, die unter Gustav Heinemann nach der zukünftigen Bestimmung Deutschlands suchten[5], damals getroffen haben: die Breslauerin Renate Riemek und der Ulmer Erhard Eppler. Aber diesen Teil der Geschichte verschweigt der evangelische Theologe in seiner umfangreichen Biographie, die sonst nur Bundeskanzlern in solcher Ausführlichkeit gewidmet werden, wie Erhard Eppler im Gespräch selbstironisch anmerkt. Außerdem bleibt selbstverständlich die Tatsache unerwähnt, dass die Stadt Bern im September 1910 das Forum bot für den Zyklus, den Rudolf Steiner über das Matthäus-Evangelium hielt.
Dafür erwähnt Paul Dieterich die starke Prägung Epplers durch den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1815 – 1855), dessen Schriften der Student durch seinen Berner Lehrer und Hausvater Arnold Gilg (1887 – 1967)[6], einen „Altkatholiken“, der im Jahre 1925 an der Berner Universität eine Vorlesung über Kierkegaard gehalten hatte, die 1926 als Buch veröffentlicht wurde, kennen lernte.
In seiner vor drei Jahren (2016) erschienenen Autobiografie „Links leben“ betont Erhard Eppler selbst, wie wichtig ihm das „Neue Testament“ damals geworden ist. Paul Dieterich ergänzt: „Umso erstaunlicher, dass der 89-Jährige in Erinnerung an seine Lektüre des Neuen Testaments in Bern seine Stellung zu Jesus Christus thematisiert. Natürlich sei es bisher immer misslungen, aus den vier Evangelien so etwas wie eine Biographie Jesu abzuleiten. ‚Und doch trat aus diesen vier großen Predigten ein Mensch hervor, der mich faszinierte.‘“ (S 103)
Das erinnert mich unmittelbar an den Anfang des ersten Vortrages, den Rudolf Steiner am 1. September 1910 in Bern hielt:
„Es ist jetzt das dritte Mal, dass mir hier in der Schweiz die Möglichkeit geboten ist, von einer gewissen Seite her das größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte zu besprechen. Das erste Mal war es, als in Basel gesprochen werden durfte über dieses Ereignis von jener Seite her, zu der das Johannes-Evangelium die Veranlassung bietet; das zweite Mal, als jene Charakteristik dieses Ereignisses gegeben werden durfte, zu welcher das Lukas-Evangelium die Unterlage bietet; und dieses Mal, also zum dritten Mal, soll der Impuls zu dieser Schilderung ausgehen vom Matthäus-Evangelium. Es ist von mir des öftern angedeutet worden, dass gerade darin etwas Bedeutungsvolles liegt, dass uns dieses Ereignis in vier, scheinbar in einer gewissen Weise sich unterscheidenden Urkunden aufbewahrt ist. Was gewissermaßen der heutigen äußeren materialistischen Gesinnung Veranlassung gibt, mit einer negativen, zersetzenden Kritik einzugreifen, das ist gerade das, was nach unserer anthroposophischen Überzeugung als bedeutungsvoll erscheint.“[7]
Rudolf Steiner hat, wenn er vom Christusereignis spricht, eine viel weitere Perspektive als die in ihren menschlichen Anschauungen und Widersprüchen gefangenen Theologen, wenn er es als „das größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte“ bezeichnet.
Karl Barth war einer der führenden protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der als schweizerischer Dorfpfarrer das „Erschrecken“ durch den Ersten Weltkrieg erlebt hatte, das viele andere Theologen, so auch der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer, der spätere Begründer der Christengemeinschaft, auch erleben mussten. Gerhard Wehr charakterisiert Karl Barth in seiner Rittelmeyer-Biographie[8] so:
„Wie Rittelmeyer, so hatte auch der knapp 15 Jahre jüngere Barth einst die Schule von Adolf von Harnack durchlaufen. Doch dessen theologische Position befremdete ihn mehr und mehr, zumal Harnack sowie andere gefeierte Theologen und Philosophen zu jenen 93 deutschen Intellektuellen gehörten, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs 1914 die Machtpolitik Kaiser Wilhelms II. als das Gebot der Stunde priesen und den Kampf ‚gegen eine Welt von Feinden‘ moralisch geradezu als von Gott geboten ansahen. (…) Epochemachend sollte die Römerbrief-Auslegung Barths werden. (…) Die in dieser Predigt zum Ausdruck kommende Botschaft lässt sich auf die knappe Formel bringen: Gott ist im Himmel, der Mensch auf der Erde. - Es gibt vom Menschen her keinen Weg zu Gott, nur den Weg Gottes zu den Menschen, nämlich durch Christus. Kierkegaard folgend spricht Barth vom ‚unendlichen qualitativen Unterschied‘ zwischen Zeit und Ewigkeit. Mithin sei alles religiöse Bemühen zum Scheitern verurteilt. Ja, ‚Religion ist Unglaube‘, ein Irrweg menschlicher Hybris. Religiöse Erfahrung ist wie jedes spirituelle Streben verpönt, weil es dem menschlichen Leistungswillen entstamme, mithin ‚unevangelisch‘ und antireformatorisch sei.“
Interessant ist noch folgende Bemerkung Gerhard Wehrs:
„Und wie Barth selbst über das dachte, was in Dornach – also in seiner relativen Nachbarschaft – vorging, verrät einer seiner Rundbriefe an die Gesinnungsgenossen. Da liest man unter dem 23. Januar 1923: ‚Von dem Brande des Goetheanums haben wir mit Genugtuung Kenntnis genommen.“
Anthroposophie ist demnach „Ketzerei“ und wird bis heute leider von den meisten Theologen der beiden Konfessionen abgelehnt.
Aber Gott hat einen langen Atem und er kann auch warten, bis selbst die Theologen der christlichen Konfessionen wieder zu ihm finden…
Für mich ist es ein Wink höherer Geistesmächte, dass der feinsinnige Geist und klarsichtige Politiker Erhard Eppler, der heute auf einem Berg über der Michaels-Stadt Schwäbisch Hall wohnt, der einst der „Galgenberg“ genannt wurde, und der auf seine eigene Initiative hin heute „Friedensberg“ heißt, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Haller Unternehmerehepaars lebt, das zu den Mitbegründern der hiesigen Christengemeinschaft gehört.
Diese Signatur des Schicksals ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein, die sein zukünftiges Schicksal in positiver Weise lenken wird.



[1] Erhard Eppler, Leben, Denken und Wirken, eine Biographie bis zum Wendejahr 1989, denkhaus-Verlag, Nürtingen
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Barth Leider ist der Film „Gottes fröhlicher Partisan“ von Peter Reichenbach (Deutschland 2017) nicht mehr verfügbar. Siehe auch: https://www.evangelische-aspekte.de/gottes-froehlicher-partisan/  https://www.medienzentralen.de/medium41791/Gottes-froehlicher-Partisan-Karl-Barth
[5] Eppler: „Das ist der Typ von Politiker, den wir jetzt brauchen.“ (Dieterich, S 103)
[7] GA 123, 1. Vortrag.
[8] Gerhard Wehr, Friedrich Rittelmeyer, Sein Leben, Religiöse Erneuerung als Brückenschlag, Verlag Urachhaus, Stuttgart, 1998, S 136f

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