Ich bin sehr angespannt.
Die Lektüre des Buches von Reto
Andrea Salvodelli und der Vorträge von Rudolf Steiner haben mich aufgewühlt.
Von dem Buch des Schweitzers bin ich eigentlich eher ein bisschen enttäuscht.
Erstens wimmelt es von Orthographie-Fehlern und zweitens habe ich nicht das
Gefühl, dass Salvodelli meinen Lieblingsregisseur Andrej Tarkowskij, über den
er schreibt, wirklich verstanden hat. Auch sind meine Erfahrungen mit Film
andere, als die, die er theoretisch-abstrakt beschreibt. Salvodelli ist gewiss
ein guter Denker, aber ich habe das Gefühl, dass er immer wieder in den
Intellektualismus zurückfällt.
Ja, ich bin aufgeregt.
Ich spüre meine Ohnmacht in jeder
Beziehung. Die Politiker machen gerade, was sie wollen. Und die Reichen finden
immer wieder Gesetzeslöcher, um ihr gewissenloses Treiben weiterzuführen. Ihr (karmisches)
Konto ist so übervoll und es fällt mir schwer, hier noch Mitleid zu haben.
Am Montag war ich mit Lena in der
Stadt. Während sie ihre Besorgungen im Drogeriemarkt Müller machte, wartete ich
im Untergeschoss des Kocherquartiers in der Nähe des Eingangs zum REWE-Markt
auf sie. Dabei konnte ich einmal wieder in Ruhe die Menschen beobachten. Ich
stellte bald fest, dass in mir ein Gefühl der Geringschätzung, ja der
Verachtung aufkommen wollte. Aber plötzlich konnte ich durch eine Art Eingebung
meine Perspektive wechseln: ich versuchte, die Menschen mit dem Auge Gottes
anzusehen und in diesem Augenblick erlebte ich die ungeheure Liebe zu jedem
einzelnen Mensch, die in Gottes Herzen wohnt. Ich sah sein ins Unermessliche
gesteigertes liebevolles Herz vor mir wie den größten Kreis, den ich mir denken
konnte, und hatte plötzlich – einmal wieder – das Bild der Sonne vor mir. Das,
so schloss ich, muss das Herz Gottes sein.
Gestern Mittag hörte ich beim
Heimfahren im Radiosender SWR2 einen Bericht über den mir bis dahin völlig
unbekannten Künstler Rupprecht Geiger, dem im Sindelfinger Privatmuseum
„Schauberg“ eine Ausstellung („PINC KOMMT!“) gewidmet ist, die ich gerne
besuchen würde. Geiger wurde offenbar 102 Jahre alt und war jeden Tag, auch an
seinem Geburtstag oder an Heilig Abend in seinem Atelier und hat gemalt. Dabei
hat er kaum Gegenstände gemalt, sondern immer wieder Variationen der Farbe
„rot“.
Ich erfahre durch die Sendung
„Journal am Mittag“, dass diese „Besessenheit“ von der Farbe „rot“ auf ein
Erlebnis des Malers in Russland zurückgeht, wo er im Zweiten Weltkrieg an der
Ostfront kämpfen musste: Eines Tages erlebte er da einen Sonnenuntergang und er
konnte gar nicht mehr aufhören hinzuschauen. Seitdem versuchte er diesen
Eindruck, der gewiss auch ein übersinnlicher war, in seinen Bildern
wiederzugeben. Dabei arbeitete er noch mit über 90 Jahren bis zur Erschöpfung.
Manchmal musste man ihn am Abend aus dem Atelier tragen, weil er vor
Erschöpfung nicht mehr gehen konnte.
Irgendwie fühle ich mich diesem
Künstler verwandt. Seitdem ich mit knapp 19 Jahren das Werk Rudolf Steiners,
vermittelt durch Bertold Hasen-Müller kennengelernt habe, brennt in mir eine
Flamme, die ich täglich nähre und hüte. Sie ist bis heute nicht erlöscht und
bringt mich manchmal an die Grenzen meines Verstandes, so dass ich auf Distanz
gehen muss, um nicht zu verbrennen.
Gott sei Dank habe ich meine
Kurse, die mich auf dem Boden festhalten.
Ich war heute richtig sauer.
Als ich merkte, dass meine
Schüler heute wieder nicht die Hausaufgaben gemacht hatten, obwohl es jetzt nur
noch eine Woche bis zur DTZ-Prüfung, dem Deutschtest für Zuwanderer, ist. Sie
sind Arbeiten oder Lernen offenbar überhaupt nicht gewöhnt. Sie fühlen sich in
Deutschland wohl, einmal abgesehen vom Wetter und vom Essen. Es muss ihnen
bisher vorgekommen sein, als seien sie im Paradies gelandet: sie bekommen
Lebensunterhalt, eine kostenlose Wohnung, einen kostenlosen Sprachkurs,
Betreuung durch eine Sozialarbeiterin und vielfältige Hilfe von rührigen Frauen
aus dem Freundeskreis Asyl. Sie können selber nichts: nicht korrekt Deutsch
sprechen, obwohl ich mich jetzt schon über ein Jahr abmühe, nicht pünktlich zum
Unterricht kommen und nicht alleine eine Aufgabe lösen. Sie wollen am liebsten
die Aufgaben, die im Test drankommen, auswendig lernen und dann nur
hinschreiben. Das sind sie offenbar aus ihrer Heimat gewohnt: Reproduktion.
Aber Transferleistungen kann ich nicht von ihnen erwarten, also, dass sie
ähnliche Aufgaben ausführen, wie sie sie schon x-mal gemacht haben. Alles muss
ich ihnen bis auf Punkt und Komma „vorkauen“.
Trotzdem liebe ich meine Schüler
und versuche jedem einzelnen zu helfen.
Ich kenne sie und kenne ihre
Schicksale, obwohl ich bis heute ihre wahren Beweggründe für das Verlassen
ihrer Heimat nicht herausgefunden habe. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass die
meisten einfach nur Wirtschaftsflüchtlinge sind. Aber ich kann mich irren.
Heute kam in der Zeitung eine
Notiz, nachdem ein Washingtoner Institut, das mir völlig unbekannte „Pew Research
Center“, ausgerechnet hat, dass der „Bevölkerungsanteil der Muslime in
Deutschland (…) bis 2050 deutlich ansteigen“ wird, auch wenn keine weiteren
muslimischen Einwanderer hinzukommen sollten. Auf der anderen Seite sinkt der
Anteil der Deutschen, und es gibt immer weniger "Christen", die den christlichen Glauben als Grundlage ihres Lebens
betrachten, die im Gegenteil mit „Jesus“ und der Kirche gar nichts mehr anfangen können.
Die christlichen Kirchen haben
eklatant versagt, weil sie es nicht geschafft haben, ein spirituelles
Christentum zu verkünden und zu leben. Sie kennen den „lebendigen Christus“ so
wenig, wie die Juden vor 2000 Jahren den Messias erkannt haben, weil sie
in ihren schriftlichen Aufzeichnungen forschten und blind waren für die
sinnlich-übersinnliche Realität. Es ist eine jüdische Zeitung, die heute in
einem Leitartikel uns Christen daran erinnert, dass der Heilige Nikolaus nicht türkisch und
dass Jesus kein "Palästinenser", sondern ein Jude war.
Die Deutschen kennen nicht nur
die grundlegenden Tatsachen des Christentums, sondern auch – bis auf wenige
Spezialisten – die abendländische Geschichte nicht mehr. Man kann ihnen, wie es
in den 80er Jahren geschehen ist, ohne Widerspruch zu bekommen, erklären, dass
Jesus gar nicht am Kreuz gestorben und anschließend auferstanden sei, sondern
dass er von seinen Anhängern versteckt
wurde
und dann mit Maria Magdalena Kinder zeugte, deren Nachkommen noch heute in der
Welt leben würden.
Vom „Mysterium von Golgatha“, das
durch Rudolf Steiner seit nunmehr über hundert Jahren geisteswissenschaftlich in
seinen Evangelien-Zyklen (ab 1908) umfassend dargestellt wurde, wollen weder
die Kirchen noch die Intellektuellen etwas wissen.
Das ist heute so und das war
schon zu Rudolf Steiners Zeiten so.
Im Vortrag vom 1. November 1918
(GA 185) macht Rudolf Steiner seiner Seele einmal ähnlich Luft, wie ich es in den
letzten Tagen getan habe.
Er zählt in deutlich polemischem
Grundton auf, was ihn alles nicht interessiert, weil es für die Gegenwart und
die Zukunft überhaupt keine Bedeutung mehr habe.
Als erstes nennt er den Adel,
dann die Jesuiten und schließlich die Freimaurer. Es waren Dinge, die ihn
eigentlich nichts „angingen“. Auch die gymnasiale Bildung konnte ihm nichts
Neues bringen, eher schon die Realschule, wo er immerhin die moderne
naturwissenschaftliche Denkungsart kennenlernte. Auch die Universitäten konnten
ihm nicht viel geben. Er nennt die Universitätsgelehrsamkeit „antediluvianisch“,
also vorsintflutlich veraltet.
Das einzige, was er noch gelten
lässt, weil es die Menschheit weiterbringen kann, ist der Goetheanismus. Dabei
führt er ausdrücklich aus, dass der Goetheanismus kein genuin deutscher Impuls
sei, sondern einer, der die ganze Menschheit betrifft: Goethe konnte weder
etwas mit der protestantischen, noch mit der katholischen Kirche anfangen. Die
drei Persönlichkeiten, die ihn am meisten beeinflusst hätten, waren der
englische Dichter William Shakespeare, der schwedische Naturforscher Carl von
Linne und der holländische Philosoph Spinoza.
Rudolf Steiner klagt insbesondere
das „verschlafene“ Bürgertum, das „philiströse Bourgeoistum“ an, das bereits 1848
den Aufbruch verschlafen habe, indem es sich in seiner Mehrheit nicht für die
„liberalen“ Ideen begeistern konnte. In den 33 Jahren von 1845 bis 1878 hätte
das Bürgertum die Chance gehabt, aufzuwachen und den Goetheanismus zu
ergreifen. Stattdessen wurde unter Ausklammerung (Nietzsche: „Exstirpation“)
des Geistes 1871 das glorreiche zweite deutsche Kaiserreich gegründet, das
schließlich in den Abgrund des Ersten Weltkrieges schlitterte. Dabei tat sich
besonders das deutsche Bürgertum als „Schlafwandler“
hervor,
obwohl es eigentlich besonders wach hätte sein können, wenn es 1848 ernst
genommen hätte.
Rudolf Steiners einzige Hoffnung
lag 1918 auf dem Proletariertum
und so
begrüßte er in gewisser Weise sogar zunächst die Russische Revolution, wo er
noch echte sozialreformerische Ideen ausmachte. Dass es heute selbst innerhalb
des gesättigten Proletariertums kein wahres Interesse mehr an
„Weltanschauungsfragen“ gibt, konnte Rudolf Steiner so noch nicht voraussehen.
Aber anstatt den Goetheanismus zu
pflegen, ließ sich das Bürgertum seiner Zeit vom „Weltenschulmeister“ Woodrow
Wilson
inspirieren. Der „Wilsonismus“ steht noch heute dem Goetheanismus verhängnisvoll
entgegen, obwohl er längst bewiesen hat, dass durch die schönen Ideen von der
„Selbstbestimmung der Völker“ kein Friedenszeitalter auf der Erde angebrochen
ist, sondern ganz im Gegenteil seit hundert Jahren ein Zerfall der Staaten in
kleine Nationalitäten stattfindet, der immerzu mit Krieg verbunden ist, wie man
am Beispiel Jugoslawien hervorragend studieren kann. Auch die Zertrümmerung
staatlicher Gebilde in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in der Ukraine durch
die Amerikaner hat dort nur zu Krieg und Chaos geführt. Bis heute wirkt der
„Wilsonismus“ verheerend.
Wie Rudolf Steiner die gleiche
Sache auch von einer anderen Perspektive anschauen kann, beweisen folgende
Ausführungen:
„Aber alles das, was hier
vorgebracht wird, ist (…) nicht wie eine Kritik gemeint, sondern ist gesagt zur
Charakteristik, ist dazu gesagt, dass man einsieht, welche Kräfte und Impulse
gewaltet haben. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus betrachtet haben ja diese
Impulse notwendigerweise gewaltet. Man könnte auch beweisen, dass es notwendig
war, dass das Bürgertum der zivilisierten Welt die Jahrzehnte von den vierziger
Jahren bis zum Ende der siebziger Jahre verschlafen hat; man könnte diesen
Schlaf als eine welthistorische Notwendigkeit dartun.“ (S 106)
Rudolf Steiner sieht durchaus die
heraufziehenden Gefahren dieser „welthistorischen Notwendigkeit“:
„Sehen Sie, wenn man von diesen
Dingen spricht, dann muss man sehr nah an den Nerv der Menschheitsentwicklung
herangehen. Alle diese Dinge hängen ja zu gleicher Zeit mit den Verhängnissen
zusammen, die in der Gegenwart die Menschheit getroffen haben. Denn die
Verhängnisse, die in der Gegenwart die Menschheit getroffen haben und noch
treffen werden, die sind ja nur ein Wetterleuchten für ganz andere Dinge, die
über die Menschheit kommen sollen; ein Wetterleuchten, das heute oftmals das
Gegenteil von dem zeigt, was da kommen soll. Nicht zum Pessimismus ist aus
allen diesen Dingen heraus ein Anlass, wohl aber zum tatkräftigen Impulse, zum
Aufwachen. Nicht zum Pessimismus, sondern zum Aufwachen ist Anlass vorhanden.
Alle diese Dinge werden nicht gesagt, um Pessimismus zu erzeugen, sondern um
Aufwachen zu bewirken.“ (S 112).
Es ist einer der vielen Versuche
Rudolf Steiners, die Menschen aufzurütteln, wenn er dreimal das Wort
„Aufwachen“ benützt. Und mit dem Wort vom „Pessimismus“ setzt er sich bewusst
ab von Oswald Spengler, der im September 1918, also nur wenige Wochen vor den
Dornacher Vorträgen zur „Geschichtlichen Symptomatologie“, den ersten Band
seiner pessimistischen Geschichtsphilosophie „Der Untergang des Abendlandes –
Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ erscheinen ließ.
Rudolf Steiner kommt schließlich
auf die vier Impulse zu sprechen, die er als Heilmittel für eine positive
Weiterentwicklung der Menschheit ansieht.
Im Vortrag vom 25. Oktober 1918
hat er schon auf die Positivitäts-Übung aus seinem Grundwerk „Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?“ hingewiesen. Dabei ist es vor allem wichtig,
wie man sich gegenüber einem Menschen verhält, an dem man Fehler entdeckt. Er
sagt: „Denn nach und nach, in diesen drei letzten Epochen, die noch folgen, der
fünften, sechsten und siebten Kulturepoche, da wird sich der eine Mensch ganz
besonders immer mehr und mehr mit den Fehlern des anderen Menschen liebevoll zu
befassen haben.“ (S 96f)
Das Interesse des Menschen an
seinem Nächsten ist nichts anderes als das, was der Christus als das vornehmste
Gebot neben der Gottesliebe nennt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.
Beides gehört zusammen: die Gottesliebe und das Interesse für den anderen. Im
Grunde geht es darum, im anderen Menschen das Göttliche zu entdecken, auch wenn
er äußerlich noch so fehlerhaft erscheint. So führt Rudolf Steiner im nächsten
Vortrag aus, worum es geht: „Denn das wird es sein, was in diesem Zeitalter der
Bewusstseinsseele über die Menschen kommen muss: den Menschen bildhaft
auffassen zu können. (…) Das geistige Urbild des Menschen müssen wir
durchschauen lernen durch die Bildnatur.“ (S 113)
Der zweite Impuls, der kommen
soll, ist zu lernen, durch die Sprache des Menschen hindurch seine Seele zu
hören: „Da werden sich die Menschen aneignen müssen, in der Sprache die Gebärde
zu erfassen.“ Dabei geht es auch um das Wahrheitsgefühl, also um die Frage, ob
der Mensch lügt oder ob er die Wahrheit spricht. Man kann lernen, das
unmittelbar wahrzunehmen.
Leider habe ich bei unseren
Politikern oder Medienleuten selten das Gefühl, dass sie in ihrem Sprechen die
Gebärde der Wahrheit zum Ausdruck bringen. Oft muss ich vermuten, dass sie
etwas zu verbergen haben, nicht offen und ehrlich sind, ja, dass sie vor
laufenden Kameras nur inhaltslose Phrasen von sich geben und nur hinter den
Kulissen zur Sache kommen, leider allerdings selten zur Wahrheit. Niemand will
seine Schwäche, oder wie Josef Beuys sagte: seine „Wunde“ zeigen.
Der dritte Impuls hängt mit dem
Atem zusammen. Die Menschen werden lernen müssen, die Gefühle ihrer Mitmenschen
im eigenen Atem wahrzunehmen.
Der vierte Impuls schließlich ist
das, was am weitesten in der Zukunft liegt: Der Mensch muss seinen Mitmenschen
gleichsam verdauen, wenn er sein Wollen wahrnehmen will.
Ich habe nun über ein Jahr
lang vier bis fünfmal in der Woche
Menschen aus anderen Kulturkreisen unterrichtet, aus Afghanistan, aus dem Iran,
aus Nigeria, aus Kamerun und aus Mazedonien. Dabei habe ich in jedem einzelnen
trotz all seiner Schwächen das Göttliche erkennen können. Ich habe durch den Sprachunterricht
ihre Schwierigkeiten mit der für sie vollkommen fremden deutschen Sprache
erfahren, von denen ich vorher nicht die geringste Ahnung hatte und ich habe
einige, die Tendenz zu kleinen harmlosen Lügen hatten, sofort „erwischt“ und
ihnen ein Gefühl für das, was ein Arbeitgeber später von ihnen erwartet:
Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, beizubringen versucht.
Dadurch dass wir jeden Vormittag
die Luft im gemeinsamen Klassenzimmer eingeatmet haben, habe ich, sicher noch
recht unbewusst, die Gefühle meiner Schüler kennengelernt.
Auch etwas von ihrem Wollen –
oder Nichtwollen – ist mir vertraut geworden, wenn ich nach dem Unterricht
versucht habe, meine Eindrücke von ihnen zu verdauen.