Donnerstag, 5. Dezember 2019

"Wohnraum ist keine Ware!" Immobilienfonds und ihre Renditen


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Samariterkirche Berlin, Inneres

Als ich gestern (05.12.19) kurz nach drei nach J. fuhr, um die gewünschten Tagebücher zu I. zu bringen, hörte ich eine Sendung aus der Reihe „Leben“ im Radio (SWR2), die mich bis jetzt beschäftigt.
Es ging um Mietpreiserhöhung und Investmentfonds. Seitdem die Europäische Zentralbank unter ihrem Chefbanker, dem Ex-Goldman-Sachs-Mann Mario Draghi, die Sparzinsen auf null reduziert hat, suchen Menschen, die viel Geld haben, nach neuen Anlagemöglichkeiten. Immer noch gibt es Menschen, die meinen, sie könnten ihr Geld dadurch vermehren, dass es angeblich „arbeitet“. Man nennt Gewinne, die man ohne Arbeit generiert, „Rendite“. Investmentfonds versprechen hohe Renditen, indem sie in Immobilien investieren, die Mieteinnahmen bringen.
Einen solchen Investmentfonds, deren Akteure normalerweise völlig im Dunkeln bleiben, schilderte die gestrige Sendung von Erika Harzer mit dem Titel „Wie der Immobilienmarkt Gewinner und Verlierer produziert“.[1]
Es geht um Wohnraum im ehemaligen Osten von Berlin, im „attraktiven Samariterviertel“: „gut erhaltene Altbauten, kleine Läden, breite Bürgersteige, keine Bäume. Kopfsteinpflaster zwingt die Autos, langsam zu fahren“, so leitet die Redakteurin die Reportage ein.
Ich höre das Wort „Samariter“ und musste unwillkürlich an das Gleichnis „Vom barmherzigen Samariter“ denken, von dem nur das Lukasevangelium berichtet (Luk. 10, 25 – 37)[2]. Samaria war neben Judäa und Galiläa eine der drei Provinzen des Heiligen Landes. Die Juden und die Galiläer aber sahen immer herab auf die Samariter. Sie waren die „Verachteten“. Nun stellt Jesus ausgerechnet solch einen „Outcast“ als Beispiel der aktiven „Nächstenliebe“ dar, um die Frage eines Schriftgelehrten nach dem „ewigen Leben“ zu beantworten.
Alle Samariter-Dienste und Samariter-Einrichtungen gehen auf dieses Gleichnis zurück. Das Berliner Stadtviertel rund um die Samariterkirche befindet sich etwa 3,5 Kilometer östlich des Alexanderplatzes im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.[3] Die in den Jahren 1892 – 1894 vom Evangelischen Kirchenverein erbaute neugotische Kirche ist eine von etwa 70 Kirchen, die auf die Initiative Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1890 – 1918 von dem Verein in ganz Deutschland errichtet wurden.
Die Berliner Samariterkirche war zur Zeit des Nationalsozialismus ein Zentrum des „Pfarrernotbundes“, aus dem sich im Mai 1934 die „Bekennende Kirche“[4] formierte, aus der so bekannte Pfarrer-Persönlichkeiten wie Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, der am 4. Februar 1906 in Breslau geboren wurde, aber seine familiären Wurzeln in Schwäbisch Hall hatte, hervorgingen; Bonhoeffer hat seine Opposition zu Adolf Hitler am 9. April 1945, also knapp einen Monat vor der Kapitulation des Dritten Reiches, im KZ Flossenbürg mit dem Leben bezahlt.
In der späteren DDR war das Gotteshaus unter Rainer Eppelmann und Günter Holwas ein Zentrum der aufstrebenden Friedensbewegung und DDR-Opposition. Insbesondere durch die damals (1979 – 1986) politisch hochbrisanten Blues-Messen erlangte die Samariterkirche landesweite Bekanntheit.
Es geht in der Sendung um ein vierstöckiges Mietshaus in der Samariterstraße.
Am 28. 12. 2018  hatte die Mieterin Synke Köhler ein 26-seitiges Schreiben mit der Ankündigung (auf Seite 21) bekommen, dass die Miete nach einer Renovierung von 547,40 Euro auf 1515,64 Euro Netto-Kaltmiete erhöht werden würde. Das wäre eine Mieterhöhung um 950 Euro. Entsprechende Schreiben gingen auch bei den 23 anderen Mietparteien ein. Das Mietshaus hat also 24 Wohnungen. Wieder erinnert mich diese Situation an den Adventskalender.
Synke Köhler ist Mieterin seit über 20 Jahren. Sie ist wie die anderen Mieter zufrieden mit der Wohnqualität. Die Heizung funktioniert und die Wohnungen bedürften eigentlich keiner Renovierung.
Synke Köhler ist Ende 40, die Eheleute Fromm, die schon seit 54 Jahren in ihrer Mietwohnung leben, sind schon über 80 Jahre alt. Diese können sich nicht mehr wehren und beide sind seit dem Schock, der durch das Schreiben ausgelöst wurde, traumatisiert.
Synke Köhler hat dagegen einen Rechtsanwalt eingeschaltet und einen Verein ins Leben gerufen. Sie ist Schriftstellerin und hatte bereits zwei Jahre, bevor sie selbst betroffen war, über die Mietsituation am Penzlauer Berg einen Roman geschrieben, der den Titel „Die Entmieteten“[5] trägt. Auszüge aus diesem Buch werden in der Sendung zitiert: „Die Aktionäre freuten sich über die Rendite. Die Aktionäre wedelten auf ihrer Versammlung mit den Anteilsscheinen, wedelten die Mieter wie lästige Fliegen aus ihren Häusern.“ Oder: „Hier, neben dem Wasserturm, war eine Insel der Alteingesessenen. Hier wohnten immer noch viele, die in den 60er Jahren ihre erste Wohnung bekommen hatten und nie weggezogen waren. Ganz Berlin wurde entwohnt. So kam es einem zumindest vor. Die Menschen wurden ausgetauscht, wurden separiert: Hier die mit Geld und hier die ohne.“
Das erinnert mich fatal an die Zeit des Nationalsozialismus, als schon einmal solch eine „Separierung“ stattgefunden hat. Damals betraf es die „mit Geld“, die reichen Juden, die ihre Villen oder Häuser in bester Lage verlassen mussten, damit Parteifunktionäre oder „Reichsdeutsche“ sie günstig erwerben konnten. Diese Geschichte habe ich erst vor kurzem, am Gedenktag der Reichskristallnacht, durch den Dokumentarfilm „Menschliches Versagen“ von Michael Verhoeven erfahren, der sich vorwiegend auf die Stadt München konzentrierte.[6] Das Erschreckende an dem Film war, dass die Mehrheit der Deutschen geschwiegen hat. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer Menschen zeigt sich 80 Jahre später wieder, als sei nichts passiert.
„Wir lieben Altbau. Mit dem richtigen Feingefühl am Puls der Wohnungswirtschaft agieren“, so wirbt die Webseite des Immobilienfonds der „Fortis Group“, die mit offiziellem Namen „Fortis Real Estate Investment GmbH“ heißt und im Jahre 2013 gegründet wurde. [7] „Real Estate“ ist das englische Wort für Immobilie.
Das „Feingefühl“, von dem die Webseite erzählt, bekamen die Mieter und Mieterinnen der Samariterstraße allerdings nicht zu spüren.
In der Sendung kommt schließlich heraus, dass mit dem Fonds der Fortisgroup, deren Geschäftsführer selbst Zahnarzt ist, die Altersversorgung von Zahnärzten gesichert werden soll. Synke Köhler und ihr Verein haben dann 1000 Zahnärzte, die in diesen Fonds einzahlen, per Mail kontaktiert und auf die Situation der durch die Mietpreiserhöhung betroffenen Mieter aufmerksam gemacht. Nur ein einziger hat geantwortet und Verständnis gezeigt.
Das ist das wirklich Erschreckende in unserer Zeit: die allgemeine Gleichgültigkeit der Wohlhabenden gegenüber den Armen.
Seit 2000 Jahren wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt, aber tausende würden heute noch an dem unter die Räuber Gefallenem vorbeigehen.



[7] https://www.fortis-group.de/Die FORTIS Group wurde 2013 aus einem erfahrenen Gesellschafterkreis in enger Zusammenarbeit mit Family Offices gegründet. Der Fokus des Unternehmens ist die Bestandshaltung sowie Privatisierung von ausgewählten, wohnwirtschaftlich nutzbaren Immobilien in Berlin und Potsdam. Seit Gründung hat die FORTIS Group insgesamt 56 Objekte mit einem Umsatzvolumen von ca. 610 Millionen angekauft und vielfältige Projekte, u.a. in Charlottenburg, Tiergarten, Schmargendorf, Friedrichshain, Schöneberg, Kreuzberg, Steglitz und Mitte, umgesetzt.“

Russen und Deutsche - Gedanken zum Weltkrieg



Otto Dix, Triptichon "Krieg" (1932), Galerie neuer Meister, Dresden

Als ich gestern die Autobiographie von Michael Gorbatschow, die ich leider nicht zu Ende gelesen habe, obwohl ich das Buch um einen Monat verlängert hatte, bei der Stadtbibliothek zurückgab, fand ich im Regal aussortierter Bücher einen Band, der mich interessierte: „Iwans Krieg – Die Rote Armee 1939 – 1945“ von der britischen Historikerin Catherine Merridale (S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2006, Weltbild 2008).
Das Buch beginnt mit einer Schilderung des zentralen Roten Platzes in der Stadt Kursk. Ich weiß schon, dass in oder bei dieser Stadt eine mörderische Panzerschlacht stadtgefunden hat. Was mich aber noch mehr mit dieser Stadt – indirekt – verbindet, ist die Tatsache, dass Lenas Vater Fjodor (Friedrich) dort geboren ist und dass auch ihr Großvater dort gelebt hat, der noch in der Sowjetunion gegen die Deutschen gekämpft und zahlreiche goldene und silberne Tapferkeitsmedaillen bekommen hat, die leider in den chaotischen 90er Jahren bei einem Einbruch gestohlen worden sind. Lena sagte heute Morgen traurig, dass damit sogar die Erinnerung an jene opferreichen Kämpfe ausgelöscht wurde.
Immer wieder stehe ich erschüttert vor der unglaublichen Leidensfähigkeit des russischen Volkes, wenn ich folgende Zeilen bei Catherine Merridale lese:
„Welchen Maßstab man auch anlegt, dieser Krieg sprengte die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Schon die Statistiken wirken erdrückend. Als er im Juni 1941 ausbrach, bereiteten sich etwa sechs Millionen Soldaten, deutsche und sowjetische, auf den Kampf an der Front vor, die sich über nahezu zweitausend Kilometer durch Marsch- und Waldland, Dünenstrände und Steppen wand. Die Sowjets hielten im fernen Osten bereits weitere zwei Millionen Mann unter Waffen, die dann binnen weniger Wochen zum Einsatz kamen. Als sich der Konflikt im Laufe der nächsten beiden Jahre zuspitzte, zogen beide Seiten zusätzliche Truppen zusammen, um sie in verlustreichen Bodengefechten einzusetzen. 1943 war es nichts Ungewöhnliches, wenn an der Ostfront insgesamt mehr als elf Millionen Männer und Frauen gleichzeitig kämpften.
Entsprechend gigantisch stellten sich die Opferzahlen dar. Im Dezember 1941, sechs Monate nach dem Überfall, hatte die Rote Armee bereits viereinhalb Millionen Mann verloren. In Massen führte man Gefangene ab. Dabei besaßen die Deutschen nicht einmal genügend Wachen, geschweige denn den Stacheldraht, um die in den ersten fünf Kriegsmonaten gefangenen zweieinhalb Millionen Rotarmisten unter Verschluss zu halten. Allein die Verteidigung Kiews kostete die sowjetische Seite innerhalb weniger Wochen beinahe siebenhunderttausend Mann an Gefallenen oder Vermissten. Fast die gesamte Vorkriegsarmee war 1941 tot oder interniert. Und das Ganze wiederholte sich, als man eine weitere Generation in Uniform steckte, um sie töten, gefangen nehmen oder verstümmeln zu lassen. Insgesamt wurde die Rote Armee im Verlauf des Kriegs mindestens zweimal völlig vernichtet und erneuert. Offiziere – mit einer Verlustrate von fünfunddreißig Prozent, rund dem Vierzehnfachen der zaristischen Armee im Ersten Weltkrieg – musste man fast ebenso schnell rekrutieren wie einfache Soldaten.
Aufgeben kam nie in Betracht. Obwohl britische und amerikanische Bomber die Deutschen weiter aus der Luft angriffen, war den Soldaten der Roten Armee von 1941 an schmerzlich bewusst, dass es an ihnen als der letzten großen Streitkraft hängen würde, die Hitler’schen Armeen niederzukämpfen. Sie warteten sehnlich auf die Nachricht, dass die Alliierten in Frankreich eine zweite Front eröffneten, kämpften jedoch weiter, in dem Wissen, keine andere Wahl zu haben. Dies war kein bloßer Handels- oder Gebietskonflikt. Sein Leitprinzip war die Ideologie, sein Ziel, eine Lebensweise auszulöschen. Zu unterliegen hätte das Ende der Sowjetunion bedeutet und den Genozid an Slawen und Juden. Das zähe Durchhalten forderte einen schrecklichen Preis: Die Sowjets kostete der Krieg mehr als siebenundzwanzig Millionen Menschenleben, die Mehrzahl davon Zivilisten, unglückliche Opfer von Deportationen, Hunger, Krankheiten oder direkter Gewalt. Doch von dieser grausigen Gesamtzahl entfielen allein auf die Rote Armee mehr als acht Millionen Gefallene. Das sind weit mehr als die militärischen Toten aller Parteien des Ersten Weltkriegs und steht im auffallenden Kontrast zu den Verlusten der britischen und der amerikanischen Streitkräfte von 1939 bis 1945, die nicht über eine Viertelmillion hinausgingen“ (S 13f)
Es ist erschütternd, solche Sätze zu lesen und zu versuchen, all das menschliche Leid, das sich hinter der Statistik verbirgt, in der Vorstellung aufzurufen. Jeder einzelne Gefallene war das völlig sinnlose Opfer einer Politik, in der sich zwei Ideologien feindlich gegenüberstanden, deren Repräsentanten zwei Völker waren, die eigentlich zur Freundschaft veranlagt sind.
Natürlich muss man, um die Ursachen dieser widernatürlichen „Feindschaft“ zu verstehen, erforschen, wer die beiden Völker aufeinander gehetzt hat. Diese Geschichte wird immer ausgeblendet.
Das Karma jener gewiss sehr wenigen Politiker, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zu verantworten haben, ist so ungeheuerlich, dass ich nicht weiß, wie es jemals ausgeglichen werden kann. Es ist vermutlich eine höhere Kategorie des Bewusstseins vom Karma nötig, um den Sinn solcher Kriege zu begreifen. Hier kann man nicht mehr nur den britischen „Tommys“, den deutschen „Fritz‘“ oder den russischen „Iwans“, also den tausenden und abertausenden einfachen Soldaten die Schuld zuschieben. Sie waren die Opfer, die – vermutlich in der unbewussten Nachfolge Christi – den Gang nach Golgatha angetreten sind, um die Taten jener wenigen, die sie in den Krieg gehetzt haben, karmisch zu sühnen. Nur so kann man das historische Geschehen von einem spirituellen Standpunkt aus verstehen. Dazu fällt mir das 24. Kapitel aus Martin Walsers neuester Erzählung „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“ ein, die im ganz kleinen Maßstab eine Ahnung von der Dimension solcher Opfer geben kann. Denn nur in einem kleinen Maßstab kann man sich dem größeren annähern
Dort heißt es:
„Gestern kam Sirte zu mir und sagte: Lieber Anton, es ist vollbracht. Entschuldige, anders kann ich es nicht sagen.
Jetzt ist es mein – bald hätte ich gesagt – Amt, es auszusprechen. Sozusagen öffentlich. Tatsächlich zittert mir die Hand, die das jetzt schreiben soll, darf, muss.
Die Wahrheit. Die Wahrheit ist etwas Paradiesisches. Sagen dürfen, was man will. Schöner kann nichts sein.
Es war der Alkoholiker, der die Sensation schaffte. Ludwig Proll, dem Sirte täglich diente, dass er sie und nicht Lisa, seine Frau, schlage. Plötzlich hörte er auf mit dem Schlagen und Trinken. Und sagte es uns allen, dass er es nicht mehr für möglich gehalten habe: Eine Frau lässt sich täglich schlagen, um zu verhindern, dass eine andere geschlagen wird. Das habe ihn so gerührt, sagte der Alkoholiker, dass er spürte, er könne dieses tägliche Opfer einer gewissen Sirte Zürn nicht ertragen, ohne durch und durch bewegt zu werden. Ja, wenn das möglich ist, dass eine Frau sich täglich schlagen lässt für eine andere, dann entstehe in ihm eine Kraft, die er nicht gekannt habe. Warum noch Alkohol, wenn so etwas möglich ist. Und das sei ihm passiert. Er habe plötzlich nicht mehr trinken können. Diese Sirte Zürn sei ihm spürbar geworden als eine bis dahin unbekannte Kraft.“
Diese „unbekannte Kraft“ erleben immer mehr Menschen, die einst Opfer der verfehlten Politik der wenigen waren, die die Völker aufeinander gehetzt haben. Von Lenas Vater weiß ich, dass die russischen Soldaten jeden Tag eine Ration Wodka bekamen, um in den Kampf zu ziehen. Am Ende des Krieges waren viele ehemaligen Kämpfer Alkoholiker.
Die Kriegstreiber und die Opfer sind wieder unter uns und ich habe die Hoffnung, dass die Menschen sich nicht wieder als Soldaten auf die Schlachtbank eines Dritten Weltkriegs lenken lassen, der dann noch mehr Menschenleben fordern würde als beide Weltkriege zusammen. Doch die Kriegstreiber versuchen es wieder: Ein im August 2019 im Berliner Tiergarten von einem Berufskiller getöteter tschetschenischer Terrorist dient ausgerechnet in dem Augenblick, als die Bundeskanzlerin sich mit 28 weiteren Staatschefs zum 70-jährigen Jubiläum der NATO in London aufhält, zum Vorwand, die „russische Aggression“ anzuprangern, von der Lena und ich nichts wissen, weil wir über russische und deutsche (Alternativ-) Medien davon nichts erfahren. Es gibt diese „russische Aggression“ in Wirklichkeit gar nicht, auch wenn sie immer wieder von den westlichen Medien (wie gestern Abend wieder durch Klaus Kleber im Heute-Journal) beschworen wird.
Catherine Merridale fährt fort:
„Seit dem Sieg der Roten Armee sind sechzig Jahre verstrichen, und sogar der Staat, für den die sowjetischen Soldaten kämpften, ist untergegangen; Iwan aber, der russische Schütze, das Pendant zum britischen Tommy und dem deutschen Fritz, bleibt uns ein Geheimnis. Uns, die wir von ihrem Sieg profitierten, erscheinen die Millionen sowjetischen Rekruten als eine anonyme Masse. Wir wissen zum Beispiel nicht, woher sie kamen, geschweige denn, woran sie glaubten oder aus welchen Gründen sie kämpften. Wir wissen auch nicht, wie das Erlebnis dieses Kriegs sie veränderte, wie seine unmenschliche Gewalt ihre Auffassung von Leben und Tod prägte. Wir wissen nicht, wie Soldaten miteinander sprachen, welche Lehren, Witze oder Lebensweisheiten sie austauschten. Und wir haben keine Vorstellung davon, zu welchen Gedanken sie innerlich Zuflucht nahmen, von welchen Inseln sie träumten, wen und wie sie liebten.
Das war keine alltägliche Generation. Bis 1941 hatte die 1918 gegründete Sowjetunion bereits ein beispielloses Maß an Gewalt erlitten. Nach den sieben Krisenjahren ab 1914 folgte der Bürgerkrieg (1918 – 1921) mit weiteren grauenhaften Kämpfen. Dieser brachte einen verzweifelten Mangel an allem, Brennstoff, Brot oder Decken, und Seuchen, gefolgt von jener Geißel, die Lenin als ‚Klassenkrieg‘ bezeichnete. Die daran anschließende Hungersnot war zwar ebenfalls in jeder Hinsicht schrecklich, doch als 1932/33 weit über sieben Millionen Menschen verhungerten, erschien das Elend von 1921, so ein Zeitzeuge, dagegen ‚wie ein Kinderspiel‘. Auch hatte der Kraftakt des ersten Fünfjahresplanes für Wirtschaftswachstum die Sowjetgesellschaft gespalten, zumal das Regime die Bauern in Kollektive trieb, politische Gegner vernichtete und einige Bürger zur Sklavenarbeit zwang. Jene Männer und Frauen, die 1941 kämpfen sollten, waren die Überlebenden einer Ära des Aufruhrs, der in kaum mehr als zwei Jahrzehnten weit über fünfzehn Millionen Menschenleben forderte.“ (S 16)
Die britische Historikerin, die den Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal aus der Perspektive des einfachen russischen Soldaten schildert, kommt damit an die Grundfrage: an das Geheimnis, wieso die Russen für einen Staat und eine Ideologie kämpften, die ihnen alles genommen hat: Land, Freiheit und Leben.
Sie spricht von „Martern“, die eine „außergewöhnliche Generation“ geschaffen haben und fährt fort:
„Viele Historiker unterstützen diese Deutung oder respektieren zumindest den Nachweis von stoischer Geduld und Selbstaufopferung einer ganzen Nation. ‚Rein materielle Erklärungen des sowjetischen Sieges sind nie recht überzeugend‘, schreibt Richard Overy in seiner maßgeblichen Studie über Russlands Krieg. ‚Man kann eine solche Geschichte nicht schreiben, ohne in irgendeiner Form die ‚Seele‘ oder das ‚Gemüt‘ des russischen Volkes mit einzubeziehen: Sie spielen eine viel zu große Rolle, als dass man sie als bloße Sentimentalität abtun könnte…‘“ (S 16f)
Meine Frage geht weiter: Für wen und wofür hat sich diese Generation, zu der Lenas aber auch meine Großeltern gehörten, aufgeopfert? Denn nicht nur die slawischen Menschen östlich der Elbe haben sich aufgeopfert, sondern auch die deutschen Menschen westlich des Schicksalsflusses, an dem sich vor 74 Jahren bei der Stadt Torgau russische und amerikanische Offiziere nach der Kapitulation des Dritten Reiches die Hände reichten. Beide Völker waren Opfer von falschen Ideologien und wurden von den beiden Vertretern dieser Ideologien – Adolf Hitler und Joseph Stalin – aufeinander gehetzt.
Ich bin meinem Schicksal dankbar, dass ich nun, zwei Generationen später, eine Frau als Freundin habe, deren Großeltern mütterlicherseits aus Rostov am Don und deren Großeltern väterlicherseits aus Kursk stammen. Die Don-Kosaken wurden von den Sowjets nach Sibirien und in die kasachische Steppe deportiert, weil sie Angst hatten, dass sie sich mit den vorrückenden Deutschen verbündeten. Die Russen aus Kursk kämpften in einer mörderischen Schlacht gegen die Deutschen. Schon in den Großeltern waren also sowohl freundliche als auch feindliche Beziehungen zu den Deutschen veranlagt. Der Untergang des Sowjetimperiums führte dazu, dass in den 90erJahren etwa vier Millionen Russlanddeutsche und ihre zum Teil russischen Ehepartner in die Bundesrepublik umsiedelten, darunter auch Lena.
Das Schicksal führte im Jahre 2016, hundert Jahre nach der Friedenschance im Ersten Weltkrieg, die von den Alliierten ausgeschlagen wurde, und 100 Jahre nach dem irischen Aufstand gegen das britische Empire, zwei zusammen, die noch vor zwei Generationen miteinander gekämpft und einander getötet hätten, weil es der Alkoholiker Winston Churchill so wollte.

Dienstag, 26. November 2019

Kunst oder "Ramsch"? - Erlebnisse nach einem medialen "Overkill"


Wassily Kandinsky, Das jüngste Gericht, 1911, Privatbesitz

Auch gestern haben Lena und ich wieder viel Zeit vor dem Fernseher verbracht, eine Art „medialer Overkill“.
Zuerst schauten wir den Film über die Russlanddeutschen („Russlanddeutsche – zwischen Tradition, Freiheit und Frust“)[1] an, der am Sonntagabend im ZDF ausgestrahlt worden war. Dann zeigte ich Lena den australischen Film „Embrace“ von Taryn Brumfitt (2016) aus der Arte-Mediathek[2], den ich am Sonntagabend nach dem Film „Carol“ noch angeschaut hatte, und schließlich sah ich mir allein noch das Porträt der jüdischen Galeristin und Mäzenin Peggy Guggenheim an, das ebenfalls in der Nacht auf Montag auf Arte ausgestrahlt worden war.[3]
Nachdem ich gestern Nacht kurz vor 22.00 Uhr von meinem Kurs in Crailsheim zurück gekommen war, sah ich noch ca. eine Stunde des britischen Films „Mission“ von Roland Joffe aus dem Jahre 1986 mit den beiden noch recht jungen Schauspielern Jeremy Irons und Robert de Niro.
In dem Film über die Russlanddeutschen lerne ich den Youtuber Sergey Filbert kennen, der mit Leuten wie Owe Schattauer und Ken Jebsen befreundet ist, die stark für die russisch-deutsche Freundschaft („Druschba“) und gegen die NATO eintreten, also im Prinzip die gleiche Haltung vertreten, die auch ich einnehme, wenn auch vielleicht nicht ganz so aggressiv wie der Rapper Owe Schattauer oder der Friedensaktivist Ken Jebsen. Aber vielleicht muss man so plakativ argumentieren, wie diese Männer, die den Weltfrieden durch einen drohenden Krieg zwischen der NATO unter amerikanischer Führung und Russland stark gefährdet sehen.
Sergey Filbert ist – so erfahre ich in dem Film – 2002 mit 19 Jahren als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Er lebt wohl im sächsischen Dresden und wehrt sich gegen die „Hetze“ gegen Russland. Einen Augenblick kommt gleich zu Beginn des Films auch das vergoldete  Reiterstandbild Friedrich Augusts (des Starken) in Dresden ins Bild, dessen aufsteigende Geste mich sofort an die Statue Peters des Großen in Sankt Petersburg erinnert hat. Das ist insofern aktuell, als ausgerechnet am gestrigen „schwarzen“ Montag die „Kronjuwelen“ dieses Herrschers aus dem „Grünen Gewölbe“ seiner Residenz in Dresden gestohlen worden sind, die einen unschätzbaren Wert haben.
Der Herzog von Sachsen und König von Polen ist eine schillernde Figur im Zirkel der absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts, zu denen er neben Ludwig XIV. von Frankreich, Katharina II. von Russland, Friedrich II, von Preußen und Maria Theresia von Österreich gehörte. Nicht zu vergessen ist allerdings auch Herzog Karl-Eugen von Württemberg, der rund um seine Hauptresidenz, die bereits sein Vater von Stuttgart nach Ludwigsburg verlegt hatte, eine Reihe von „Liebesnestern“ angelegt hatte, die er dann in gut französischer Manier „Favorite“, „Monrepos“ oder „Solitude“ nannte.
Sergey Filbert ist von Beruf Servicetechniker für Kaffee-Automaten, hat eine ukrainische Frau und zwei Kinder, verbringt jedoch den größten Teil seiner Freizeit damit, kleine Videos aus dem deutschen Fernsehen ins Russische zu übersetzen und auf seinen tausendfach angeklickten Youtube-Kanal[4] „Golos Germanii“ (Stimme Deutschlands) zu stellen. Ken Jebsen präzisiert: „Sie sind die russische Synchronstimme von KenFM“. [5]
Interessant ist, dass der Film über die Russlanddeutschen in einer Szene russlanddeutsche Friedensdemonstranten in Dresden zeigt, die mit dem Lied der schwarzen Bürgerrechtsbewegung „We shall overcome“ durch die Stadt laufen. Das Lied hörten wir ebenfalls am Sonntag, als wir die Folge „Verlorene Filmschätze“ auf Arte anschauten, die den großen Friedenszug der amerikanischen Bürgerrechtler am 28. August (Goethes Geburtstag) 1963 in der amerikanischen Hauptstadt Washington D.C. zeigte.[6] Auch die junge Joan Baez, die ich dreimal in einem Live-Konzert erleben durfte, sahen und hörten wir dieses Lied singen, das sie bis heute in ihren Konzerten vorträgt und damit an die große Zeit erinnert, als ich noch ein Kind von 11 Jahren war und gerade (an Ostern 1963) die Winnetou-Filme entdeckt hatte. Vier Jahre später, im März 1967 bekam ich dann von meiner verehrten Deutschlehrerin Frau Kleinschmidt das Buch „Der gewaltlose Aufstand“ zur Konfirmation geschenkt, das von dieser Friedensdemonstration und von Martin Luther King berichtet.
Der nächste Film, den wir uns anschauten, hat uns noch einmal bewusst gemacht, wie sehr Frauen, die sich oft mit anderen Frauen vergleichen, von dem in den Modemagazinen gezeigten Foto-Models geprägt oder zumindest beeinflusst werden. Keine Frau hat diesen perfekten Körper, den diese „Vorbilder“ haben. Und viele leiden darunter, auch Lena. Wieder taucht die Frage auf: „Was ist das überhaupt, „weibliche Schönheit“?
Als ich neulich über meine drei Schülerinnen schrieb, die zwei Rumäninnen Claudia und Nadina und die Kosovarin Ramize, und sie als „ausgesprochen hübsch“ bezeichnete, protestierten zwei Facebookfreundinnen (Anna-Katharina und Karen) mit Recht.  Ich sah ein, dass es Blödsinn ist, Frauen als „ausgesprochen hübsch“ zu beurteilen, denn damit werte ich indirekt alle anderen Frauen ab, die vielleicht „nur“ „sympathisch“ sind, wie ich damals über die Türkin Aysche schrieb.
Der Film „Embrace –Du bist schön“ von der jungen australischen Bloggerin Taryn Brumfitt öffnete mir die Augen und nach dem Film hatte ich einen ganz neuen Blick auf die Vielfalt weiblicher Schönheit. Ich glaube, der Film hat vielen Frauen geholfen, sich so zu akzeptieren, wie sie sind, und bei manchen dazu geführt, dass sie ihre „Diät-Ratgeber“ in den Müll geworfen haben.
Als wir gerade die deutsche Schauspielerin Nora Tschirner[7], die in dem Film „Embrace“ ebenfalls einen Auftritt hatte, sahen, rief meine Tochter Raphaela[8] an und fragte mich nach unserem früheren Wohnhaus in Aufhausen bei Heidenheim, wo sie sich gerade „mit einem Kollegen“ (auf Tournee?) befand. Lena meinte, die deutsche Schauspielerin, die ich aus Till Schweigers Komödie „Kleinohrhasen“ kenne, gleiche bis in ihre Gestik und ihren Kleidungsstil hinein Raphaela. Ich musste Lena, die einen klaren Blick für solche Ähnlichkeiten hat, Recht geben.
Raphaela ist Gott sei Dank schon lange über den gesellschaftlich geförderten „Schönheitswahn“ hinaus gewachsen und geht selbstbewusst ihren eigenen Weg, auch wenn sie sich bisweilen auch nicht „schön“ findet. Aber das ist ganz normal: Stimmungen schwanken.
Das 90-minütige Porträt über Peggy Guggenheim (1898 – 1979) von Lisa Immordino Vreeland (USA 2015)[9] ergänzt das, was ich aus ihren Memoiren „Ich habe alles gelebt“ (Out of this Century – Confessions of an Art Addict, USA 1946, 1960 und 1979) bereits kenne. Diese Frau, die zuerst in London, dann in New York und schließlich in Venedig Galerien eröffnete und mit ihren Sammlungen zeitgenössischer Kunst des 20. Jahrhunderts, darunter Kandinsky, Klee, Picasso, Brancusi, Giacometti, Ernst, Dali, Pollock und viele andere bestückte, war nicht im eigentlichen Sinne schön; trotzdem hatte sie Affären mit zahlreichen Männern und galt im Gegensatz zu ihrem Onkel Salomon Guggenheim, der die New Yorker Galerie, das berühmte „Guggenheim-Museum“, bauen ließ, als Familienskandal. Peggy Guggenheims größte weibliche Gegenspielerin war die Beraterin ihres Onkels, die Baronin Hilla Rebay (1890 – 1967)[10], die der Anthroposophie nahe stand. Ich sehe in den beiden Frauen Vertreterinnen zweier Kunstströmungen der Neuzeit, die beide ganz unterschiedliche Kunstauffassungen hatten. Was Peggy schön fand, fand Hilla hässlich.
Peggy Guggenheim schrieb in ihren Memoiren:
„Einmal während der Ausstellung[11] kam ein Kunstlehrer von einer Schule in Nordengland zu mir in die Galerie und bat mich, etwa zehn Bilder von Kandinsky mitnehmen zu dürfen, um sie seinen Schülern zu zeigen. Mir gefiel die Idee, und ich schrieb an Kandinsky, der auch seine Erlaubnis gab. In seiner geschäftsmäßigen Art bestand er allerdings darauf, dass seine Arbeiten für diese Exkursion versichert wurden. Nach Ende der Ausstellung erschien der Lehrer, verzurrte zehn Kandinskys auf dem Dach seines Wagens und fuhr damit los. So unbekümmert ist sicher nie wieder mit Kandinskys Bildern umgegangen worden. Als er die Gemälde zurückbrachte, berichtete er von dem großen Eindruck, den sie in seiner Schule hervorgerufen hatten.
Wie ich es Kandinsky versprochen hatte, schrieb ich an meinen Onkel und erkundigte mich, ob er das bewusste Bild immer noch kaufen wolle. Onkel Salomon schickte mir einen freundlichen Antwortbrief, in dem er mir ankündigte, die Kuratorin seines Museums, Baroness Rebay, werde meine Anfrage persönlich bearbeiten, und nicht lange danach erhielt ich folgenden Brief, der hier wiedergegeben wird, weil er ein unglaubliches Dokument seiner Art ist:
‚Liebe Mrs. Guggenheim ‚jeune‘,
ich bin damit beauftragt, ihre Bitte um Ankauf eines Kandinskys zu beantworten.
Zunächst muss ich Ihnen sagen, dass wir grundsätzlich keine Bilder über den Kunsthandel erwerben, solange bedeutende Künstler ihre Werke selbst zum Kauf anbieten; zweitens aber müssen Sie wissen, dass Ihre Galerie die letzte wäre, wo unsere Stiftung Bilder einkaufen würde, falls wir einmal tatsächlich ein historisch wichtiges Werk über den Kunsthandel beziehen müssten.
Der Name Guggenheim ist in der Kunstwelt zu einem Symbol für ideale Kunstförderung geworden. Es zeugt von ungewöhnlicher Geschmacklosigkeit, wenn jetzt dieser Name kommerziell ausgeschlachtet werden soll, als ob das größte philanthropische Werk nur dazu gedient hätte, einem kleinen Laden auf die Beine zu helfen. Übrigens werden Sie bald merken, dass es gar nicht so viel ungegenständliche Kunst gibt, um sie als ausschließlichen Schwerpunkt für einen Kunsthandel betrachten zu können. In diesem Bereich kann es keinen Handel mit echter Kunst geben, wenn man Mittelmäßigkeit und Ramsch vermeiden will. Sollten Sie sich aber ernstlich für ungegenständliche Kunst interessieren, hätten Sie durchaus die Mittel, solche Werke anzukaufen und eine eigene Sammlung aufzubauen. Auf diese Weise würden Sie in nützlichen Kontakt mit Künstlern kommen, und Sie könnten Ihrem Land eine schöne Kunstsammlung hinterlassen, sofern Sie die richtige Wahl treffen. Andernfalls werden Sie bald in eine Sackgasse geraten und müssen auch mit wirtschaftlichem Misserfolg rechnen.
Der Name Guggenheim steht für große Kunst dank der Voraussicht eines bedeutenden Mannes, der seit Jahren wirklich gute Kunst sammelt und fördert, und dank meiner eigenen Arbeit und Erfahrung. Es bedarf schon eines hohen Maßes an Unverfrorenheit, diesen Namen, unsere Arbeit und unseren Ruf für billige Profitmacherei herabzuwürdigen.
Hochachtungsvoll,
HR
P.S.: Wir werden unsere jüngste Veröffentlichung vorerst nicht nach England ausliefern.‘“[12]

Es geht in dem Streit der beiden „Rivalinnen“ um die Frage, was „wirklich gute Kunst“ ist, und was nicht. Durch ihre Geringschätzung der Sammlung von Peggy Guggenheim stellt sich Hilla von Rebay in die Nähe der Nazi-Anschauung, die moderne Kunst als „entartete Kunst“ ablehnte, und zeigt im Stil jene Arroganz, die ich leider bei vielen Anthroposophen immer wieder erlebt habe. Interessant ist dabei, dass sich der Streit ausgerechnet an einem Werk des russischen Künstlers Wassily Kandinsky (1866 – 1944) entzündete, der sich in seinem Buch „Das Geistige in der Kunst“ (1911) auch auf Rudolf Steiner berief.
Am Abend sah ich dann den Film „Mission“, der zusammen mit meinem Lieblingsfilm „Opfer“ von Andrej Tarkowski 1986 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes stand. Im Gegensatz zu „Opfer“ habe ich „Mission“ noch nie gesehen und sah ihn gestern zum ersten Mal, ziemlich genau 33 Jahre nach seiner Kinopremiere. Er ist noch bis zum 01.12. auf Arte abrufbar.[13]
Während Andrej Tarkowski in „Opfer“ einen Einzelgänger zeigt, der durch ein Gelübde die Welt vor einer Atomkriegskatastrophe retten möchte, schildert der Film von Roland Joffe die Gründung einer Jesuiten-Mission im Regenwald des Amazonas im 18. Jahrhundert, um die Indios vor der Versklavung zu bewahren. Robert de Niro spielt in dem Film einen ehemaligen Sklavenhändler, der sich nach dem Tod seines Bruders bei einem Streit zur Buße bereit erklärt und selbst in den Orden eintritt.
Der großartige Schauspieler Robert de Niro taucht auch zweimal in dem Film über Peggy Guggenheim auf, denn seine beiden Eltern waren Künstler und einige ihrer Werke hängen bis heute im Guggenheim-Museum in Venedig, das eines der meistbesuchten Museen der Welt ist.
Das wusste ich nicht.
So habe ich an diesem Tag durch mein Interesse an Medien, das heißt sowohl an Dokumentar- als auch an Spielfilmen, viel Neues erfahren und gelernt.
Ein bisschen hatte mich gestern ein Kommentar irritiert, den mein lieber Freund Dieter unter einen Post schrieb, den ich auf Facebook veröffentlicht hatte, indem er in gewisser Weise meine Kinoleidenschaft „abwertete“. Er schrieb, dass er das musikalische Märchen „Peter und der Wolf“ „natürlich“ kenne und fährt dann fort, indem er mich zitiert:

„ABER: ‚Immer wieder bin ich erstaunt, wie ahnungslos manche Menschen sind. So denke ich, dass kaum jemand weiß, wer Walter Ruttman ist, oder was die Autojagden durch San Francisco aus dem Film ‚Bullit…‘ – Da gehöre ich auch zu den Ahnungslosen. War und bin kein Kinogänger. Ich hatte in dem Alter genug andere Sachen zu tun, Kino vermisste ich nie.“

Das klingt ein wenig so, als seien „die anderen Sachen“ wichtiger oder wesentlicher gewesen, als meine Liebe zum Kino. Ich kenne ja seine Einstellung zum Kino schon lange. Ob er meine kennt, bezweifle ich.
Ich muss mich dafür auch nicht rechtfertigen, aber ich denke, dass die Wahrnehmung der wichtigen Werke der Filmkunst zu einer wachen Zeitgenossenschaft dazugehört. Ich habe Filme nie der Unterhaltung wegen angeschaut, sondern durch sie einen Zugang zur Welt und zur Zeit gesucht. Ich weiß, dass Dieter Weltreisen unternommen hat, Städte wie New York, Chicago, San Francisco und auch einige Städte Brasiliens aus eigener Anschauung kennt. Damit kann ich nicht aufwarten. Ich bin nie aus Europa hinausgekommen, auch wenn ich inzwischen Freunde in der ganzen Welt habe.
Auch habe ich – im Gegensatz zu Dieter – nie in einem Film mitgespielt. Dieter hat mir vor Jahren einmal erzählt, dass er – wohl im Jahre 1959, also mit sieben Jahren – als Statist in einem Film mit Lieselotte Pulver spielen durfte, dessen Außenaufnahmen in Rothenburg ob der Tauber gedreht wurden. Es kann sich eigentlich nur um die Verfilmung der Novelle „Gustav Adolfs Page“ von Conrad Ferdinand Meyer handeln, die im Jahre 1960 in die Kinos kam. Den Film habe ich erst vorletztes Wochenende mit Lena angeschaut und wir haben versucht, Dieter im Gewimmel zu identifizieren.
Vielleicht war er ja der blondgelockte Sohn (oder vielmehr die Tochter) des Bürgermeisters Leublfing, den Curd Jürgens in der Rolle des Gustav Adolf hochgehoben und geküsst hat.



[4] „Ein „Klick-Multimillionär im Internet“
[5] Das Interview Ken Jebsens mit Sergey Filbert, dem „modernen Helden“ (Jebsen) vom 22. Juni 2017 (Tag des Angriffs Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion) kann man auf Youtube anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=zhC6RZABpOs
[6] Arte zeigte am Sonntag in seiner Filmreihe „Verlorene Filmschätze“ Aufnahmen von der großen Friedensdemonstration am 28. August (Goethes Geburtstag) 1963 in Washington, bei der Reverend Dr. Martin Luther King seine berühmte Rede „I have a Dream“ hielt: https://www.arte.tv/de/videos/055937-001-A/verschollene-filmschaetze/
[9] In dem Film werden Tonaufnahmen mit der Stimme von Peggy Guggenheim zum ersten Mal veröffentlicht, die vor etlichen Jahren in einem Keller gefunden worden waren.
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Hilla_von_Rebay Sie wurde 1949 nach dem Tod Salomon Guggenheims als Kuratorin des Museums „entlassen“.
[11] In ihrer 1938 eröffneten Londoner Galerie „Guggenheim Jeune“
[12] Peggy Guggenheim, Ich habe alles gelebt, Bastei-Lübbe-Taschebuch, Bergisch Gladbach 1988, S 152f

Sonntag, 24. November 2019

Von "Anführern", "Hofschranzen" und "Idioten"



Gestern (23.11.2019) Abend sah ich auf 3SAT einen Beitrag des 52-jährigen Journalisten und Verlegers Jakob Augstein zur Debattenkultur: „Die empörte Republik – Jakob Augstein unterwegs durch Debatten-Deutschland“ von Tim Klimes (Deutschland 2019).[1] Er sagt, früher war es noch einfacher, den Debatten zu folgen, weil nur wenige daran teilnahmen. Heute, im digitalen Zeitalter, kann sich jeder mit seiner Meinung „einklinken“ und dabei geht das Niveau oft verloren, weil empörte Bürger ihrem Unmut, ja bisweilen ihrer Wut Ausdruck verleihen. Dennoch meint Jakob Augstein, der sich bei seiner Recherche in verschiedenen Städten Europas filmen lässt, dass „Wahrheit in der Debatte entsteht“. Dieser Satz wäre zu überprüfen, entspricht aber vielleicht dem Satz, den ich gestern bei Thorsten Schulte fand, und der auf Karl Jaspers zurückgeht: „Frieden braucht Freiheit und Freiheit braucht Wahrheit.“
Seit zehn Jahren (2009) ist bekannt, dass der „rechtliche“ Sohn des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein in Wirklichkeit der leibliche Sohn von Martin Walser ist. Das ist der Grund, warum mich dieser am 28. Juli 1967 geborene Mann interessiert, denn ich schätze den Schriftsteller Martin Walser sehr.
Jakob Augstein bezeichnet sich zunächst selbst als „Journalist“, weiß aber gar nicht mehr so genau, was das ist, und verbessert sich: „Ich bin ein Kommentator“. Aber auch das gefällt ihm noch nicht so gut, so dass er schließlich zu der Definition gelangt: „Ich bin ein Teilnehmer der Debatte“.
Das gefällt mir, und ich kann sagen, dass ich im Mini-Format mit meinem Blog „Kommentare zum Zeitgeschehen“ eigentlich dasselbe versuche: an der Debatte teilnehmen.
Diese drei „Ich-bin-Worte“ finde ich interessant und erlebe sie als Suchbewegung.
Augstein sucht bei seiner Reise durch die Republik zunächst Menschen auf, die sich an den heutigen Debatten beteiligen, die aber noch wissen, wie Debatten in der vordigitalen Zeit aussahen, als die Teilnehmerzahl noch wesentlich kleiner war. Den ersten Menschen, den er besucht, ist Stefan Aust, der langjährige Chefredakteur des „Spiegel“ und jetzige Herausgeber der „Welt“. Er ist einer der „wichtigsten Meinungsmacher in Deutschland“ (Augstein) und einer der wenigen übrig gebliebenen Presse-Mogule der Bundesrepublik, die einst die öffentliche Debatte bestimmt haben.
Augstein nennt Stefan Aust, den 2014 überraschend verstorbenen Frank Schirrmacher (FAZ), Matthias Döpfner[2] und Kai Dieckmann (beide „Bild“) die wichtigsten „Debatten-Anführer“ der „vordigitalen Zeit“. In dem Wort „Anführer“ steckt für mein Ohr etwas von einem „Bandenanführer“ drinnen. Aber es trifft genau, was ich auch denke. Deutschland hatte in der Diktatur des Dritten Reiches einen „Führer“ und anschließend in der Demokratie eine Gruppe von „Anführern“, welche die Meinung des Volkes bestimmten oder zumindest zu lenken versuchten.
Mit Stefan Aust hat Jakob Augstein, wie er sagt, über das seit 2015 bestehende „Oberthema“ debattiert, über das Thema „Migration“, eine Debatte, die das Land „in einer Art und Weise gespalten hat, wie wir das vielleicht seit der Ostpolitik von Willy Brand nicht mehr hatten“ (Augstein).
Wenn ich Stefan Aust in seinem noblen Büro mit weitem Blick über die Stadt im „Springer-Hochhaus“, in seinem dick gepolsterten Ledersessel beinahe versinkend, sehe, dann weiß ich, dass dieser Mann „arriviert“ ist und zum Establishment gehört, also zu jener Elite, die in unserem Land Einfluss hat. Vielleicht war er einst ein „Bandenanführer“, der als Spiegel-Redakteur und Kenner der RAF in den Jahren nach 1968 auch einmal gegen die Springer-Presse demonstriert hat; heute erscheint er als vollkommen saturiert und „gut gepolstert“ und bezeichnet die Tageszeitung „ Die Welt“, die einst eindeutig konservativ war, als ein für alle Positionen offenes Blatt.
Welch ein Wandel hat sich da sowohl mit der Tageszeitung, als auch mit dem Redakteur vollzogen! Meine äußerst konservative Tante hat mir Anfang der 70-er Jahre ein Abonnement der „Welt“ geschenkt, damit ich auch einmal ihre Position kennenlerne, damals, als auch ich mit 18 Jahren eher links stand und die Ostpolitik Willy Brands gut hieß. Natürlich ging das meiner heimatvertriebenen Familie völlig gegen den Strich, die in Schlesien, Ostpreußen und Pommern immer noch das wahre „Ostdeutschland“ und nicht die verlorenen „Ostgebiete“ sahen.
Stefan Aust spricht im Gespräch aus, was schon lange auch mein Gefühl ist: „Die weit überwiegende Mehrheit der Medien ist im Prinzip einer Meinung und unterstützt im Prinzip eine Politik, welche zum Beispiel in der Migrationsfrage, aber auch in der Energiefrage von Angela Merkel und ihrer Koalition sowie den Grünen“ vertreten wird.
Genau das ist ja der Vorwurf jener „Empörten“[3], die sich nicht mehr gehört fühlen, weil sie grundsätzlich anderer Meinung sind, und die dann als „Rechtspopulisten“ abgekanzelt werden, also als Teilnehmer der Debatte gar nicht mehr in Frage kommen: „Mit denen spricht man nicht.“
Der arroganteste Satz, den Stefan Aust in dem Interview mit Jakob Augstein ausspricht, ist meiner Meinung nach folgender. „Es ist zweifellos der Fall, dass die Debatten früher eleganter geführt wurden als heute. Das ist ja auch der Nachteil der Demokratie: Jeder Idiot darf wählen und jeder Idiot darf im Zweifel auch gewählt werden. Warum sollte dann nicht auch jeder Idiot im Internet seine Meinung veröffentlichen dürfen.“
Da kommt mir sofort die Frage: meint Aust, dass es außer den wirklichen Journalisten nur noch Idioten in unserem Land gibt?
Augstein wendet den Ausspruch Austs dann noch einmal und spricht von „idiotischen Meinungen“. Was er darunter versteht, kann man nur ahnen, wenn man den Vorspann oder weitere Einspielungen des Films beachtet: Es sind die Meinungen von AfD-Politikern oder Pegida-Anhängern, also von ausgemachten „Idioten“, die wiederum von ausgemachten „Idioten“ gewählt oder beklatscht werden. Augstein und Aust teilen, wenn ich den Gedanken bis zu Ende führe, die Welt also nicht mehr, wie andere, in „die Guten“ und „die Bösen“ ein, sondern in echte „Journalisten“ und „Idioten“.
Der nächste Journalist, den Jakob Augstein besucht, ist Jan Fleischhauer, eine der „größten Hassfiguren im deutschen Journalismus“. Er habe „es wirklich geschafft, sich zu inszenieren und sich zu stilisieren als leicht süffisanter rechter Stinkstiefel“, charakterisiert Augstein seinen Freund und ehemaligen Kollegen beim „Spiegel“ („schwarzes Feigenblatt“).
Was für eine Sprache!
Wenn Aust Menschen, die ihre Meinung im Internet veröffentlichen, pauschal als Idioten verunglimpft, so macht Augstein nun weiter, und nennt seinen Freund Fleischhauer, vermutlich linke Journalisten zitierend, einen „rechten Stinkstiefel“. Das ist „Gossensprache“, nicht die „elegante“ Sprache von seriösen Journalisten.
Fleischhauer sei, so Augstein, ein Vollprofi darin, den „Trigger“ auszulösen, den es braucht, um bei „Leuten“ eine Reaktion auszulösen. Man kann, so erfährt man, Fleischhauer als Referent über das Thema „die Funktion der Medien und des Internets als Skandalisierungsbeschleuniger“ buchen. Der Journalist solle versuchen, den „Empörungsstrom“ zu treffen und dürfe natürlich wie Karl Kraus oder Kurt Tucholsky provozieren.
Fleischhauer kritisiert das „Sektiererische“ der Linken, die sofort aufschreit, wenn jemand mit den „falschen Leuten“ auf dem Podium sitzt, oder sich mit diesen trifft.
Einer dieser Journalisten, der sich mit den „falschen Leuten“ umgibt, ist der ehemalige Spiegel-Redakteur Matthias Matussek, der seine Wandlung in dem Buch „White Rabbit oder der Abschied vom gesunden Menschenverstand“ 2018 im „rechten“ Verlag „Tichys Einblicke“ veröffentlicht hat. Sein Stinkstiefelpotential ist offenbar so groß, dass ihn Augstein in seinem Film gänzlich aus der Debatte ausschließt und nicht selbst zu Wort kommen lässt. Nur in einem Fernsehausschnitt[4] des „Satirikers“ Jan Böhmermann wird dieser ehemals hochgelobte „Publizist und Alpha-Journalist“ erwähnt, weil Jan Fleischhauer auf dessen 65. Geburtstagsparty „gesichtet“ worden war.
Das erinnert mich an eine weitere konsequente Ausgrenzung eines anderen „rechten Stinkstiefels“.
Das Politmagazin Spiegel hielt es nicht für notwendig, einen Nachruf auf Günther Zehm abzudrucken, der viele Jahre die Kolumne „Pankraz“ in der „Welt“ geschrieben hat, aber 1995 zur „Jungen Freiheit“ übergewechselt ist. Der Autor, der in Leipzig bei Ernst Bloch und später in Frankfurt bei Theodor W. Adorno studiert bzw. assistiert hat, ist 1956, als er den Aufstand in Ungarn positiv bewertete, in der DDR als „Konterrevolutionär“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er konnte im Jahre 1961 aus der DDR fliehen und in Westdeutschland eine neue Existenz aufbauen. Der Honorarprofessor und „Konkretdenker“[5] begründete in der Tageszeitung „Die Welt“ im Juni 1975 seine Kolumne „Pankraz“, die nach einer Figur aus Gottfried Kellers Novellenzyklus „Die Leute von Seldwyla“ benannt ist. 12 Jahre lang, von 1977 bis 1989 war Günther Zehm stellvertretender Chefredakteur der „Welt“.
Seine Kolumne erschien immer montags in der erklärten Absicht, „Tendenzen aufzustöbern und anschaulich zu machen, die vorerst noch unsichtbar umgehen“ (Zehm).
Nach dem Tod von Axel Springer (am 22. September 1985) und insbesondere im Jahr des Mauerfalls (1989) kam es zunehmend zu Auseinandersetzungen mit dem damaligen Welt-Chefredakteur Manfred Schell über den Kurs der Zeitung und Zehm wurde zum Ausscheiden gedrängt.
Von 1990 bis zum 10. Juni 1994 veröffentlichte er seine Kolumne im „Rheinischen Merkur“. An jenem Tag erschien „Pankraz“ zum ersten Mal nicht in der Zeitung.
Der Chefredakteur Thomas Kielinger hatte sie kurzerhand aus dem Blatt genommen und wahrheitswidrig behauptet, Zehm sei verreist. In Wirklichkeit hatte Kielinger eine Bemerkung Zehms anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie missfallen, als Zehm zu bedenken gab: „Auch die Helden des D-Days nebst Onkel Joe, dem Moskauer Verbündeten, (…) haben Millionen von Kriegsgefangenen zu Tode gehungert, zehntausende von Frauen vergewaltigt, haben schließlich die halbe Welt in ein einziges, über vierzig Jahre betriebenes Dauer-KZ verwandelt.“ Diese Feststellung dürfte so ziemlich der Wahrheit entsprechen, war aber in jenen Jahren alles andere als „politisch korrekt“.
Auch Günther Zehm muss man nennen, wenn man von den wichtigen Meinungsanführern der Bundesrepublik spricht. Der Spiegel hielt das nach seinem Tod am Allerheiligentag 2019 nicht für nötig. Dieses Schweigen spricht für mich Bände: Unliebsame Journalisten werden ausgegrenzt und bei Gelegenheit gemobbt, wie Matthias Matussek von Jan Böhmermann.[6]
Augstein spricht jene Geburtstagsparty bei seinem Freund Fleischhauer an und erfährt, dass Fleischhauer – wenn er davon gewusst hätte – durchaus bereit gewesen wäre, mit einem Mitglied der „Identitären Bewegung“, das auf der Party war, zu reden, um zu verstehen, was in ihm vorgeht. Böhmermann, der mit seinem Fernsehbeitrag eine Art Hetzjagd auf Jan Fleischhauer initiieren wollte, bekommt auch sein Fett ab. Fleischhauer nennt ihn die „Hofschranze des ZDF“.
Augstein kommentiert: Fleischhauer war der letzte „Rechte“ bei „Spiegel-Online“. Nachdem er zu Burda gegangen ist, gebe es jetzt nur noch „Linke“ in der Spiegel-Kolumne. Das sei eine „Monokultur“.



[2] Den Verleger der Bildzeitung bezeichnet Augstein als den „letzten Mohikaner“, als einen Verleger, der das noch kann, was die anderen schon lange nicht mehr können: die Meinung beeinflussen.
[3] Der Ausdruck geht auf Stephane Hessel zurück, der in einem kleinen Bändchen („Empört Euch!“) zur „Empörung“ aufrief, das sich dann in den Jahren 2010/11 in Windeseile verbreitete und von Spanien bis nach Nordafrika eine Art „Frühling“ bewirkte. Als es aber dann in Syrien ebenfalls zu Demonstrationen wie in Tunesien und Ägypten kam, fürchtete Israel (und seine westlichen Verbündeten) einen Flächenbrand, der auch den jüdischen Staat bedrohen könnte, der seit jeher zwischen Ägypten und (As-) Syrien lag und einmal von der einen, einmal von der anderen Großmacht bedroht wurde. So verwandelten sich die Bürgerdemonstrationen zuerst zu einem Bürgerkrieg und schließlich in einen richtigen Stellvertreterkrieg, in dem israelfreundliche (USA) und israelfeindliche (Iran) Kräfte gegeneinander kämpften.
[4] Neo Magazin Royal vom 18.03.2019
[5] „Günther Zehm war immer auch ein Konkretdenker. Die concretio, die Verdichtung, das konkrete Sprechen in den Spuren seines frühen akademischen Lehrers Ernst Bloch sowie der Philosophen Georg Simmel und Jose Ortega y Gasset war ihm ungemein wichtig. Er trachtete nicht danach, für die Elfenbeintürme der Intellektuellen zu schreiben. Seine Texte sollten an den Lebensstrom angebunden sein und daraus Erkenntnis schaffen.“ Thorsten Thaler, Junge Freiheit Nr. 46 vom 8. November 2019, S 15
[6] „Auf der Party war das Who-is-Who der Prüf- und Verdachtsfälle des Verfassungsschutzes“ sagt der Mann mit einem Augenzwinkern, als hätte er ganz vergessen, wie viele Linke in den 70-er Jahren ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wurden.

Samstag, 23. November 2019

Russisch-Deutsche Freundschaft



Ich habe gestern medial zwei interessante Persönlichkeiten „kennen gelernt“, die mich – jeder auf seine Weise – so beeindruckt haben, dass ich heute Morgen aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte. Ich muss über sie schreiben.
Zuerst hörte ich auf dem Weg nach und von Uttenhofen, wo ich Lena um 11.30 Uhr von der Arbeit abholen musste, Ausschnitte aus der SWR1-Sendung „Leute“.[1] An diesem 22. November war ein besonderer Mensch zu Gast: Diether Dehm. Ich hatte noch nie etwas von diesem Mann gehört, sein Name war mir vollkommen unbekannt. Aber wie er in der Sendung auf die Fragen des Moderators Wolfgang Heim antwortete, hat mich beeindruckt.
Diether Dehm ist Komponist, ehemaliger Liedermacher[2], ehemaliger Musikmanager[3], aktueller Buchautor[4] und Politiker. Der 69-Jährige war früher Mitglied in der SPD und sitzt seit 14 Jahren für „Die Linke“ im Bundestag. Er hat dem Ex-RAF-Mitglied Christian Klar, der wegen seiner terroristischen Vergangenheit 26 Jahre im Gefängnis war, nach der Entlassung Arbeit als Webmaster verschafft, was von gewissen Leuten kritisiert wurde, hat seine Kontakte zu Yavier Naidoo, der von manchen in die Nähe der „Reichsbürger“ gestellt wird, nicht abgebrochen und kritisiert offen die Siedlungspolitik Israels.
Dieser Querdenker ist deswegen im Springer-Blatt „Die Welt“ als „Antisemit“ diffamiert worden.[5] Nachdem er vor etwa 30 Jahren die „Deutsche Bank“ ein „Krebsgeschwür der Demokratie und Volkswirtschaft“ und eine „Verbrecherorganisation“ genannt hatte, kam über die Bildzeitung prompt die Retourkutsche und Diether Dehm, der als solcher in einem Roman einer TAZ-Autorin „aufgetreten“ war, wurde auf der Titelseite des Springer-Blattes als „Mörder“ bezeichnet.
Die Bildzeitung nannte Diether Dehm einmal einen „Roten Millionär“. Diether Dehm wurde von Wolf Biermann fälschlicherweise als „Stasimitarbeiter“ bezeichnet, wurde jedoch nach Biermanns Ausbürgerung von Rudolf Bahro in einer Ehrenerklärung von diesem Vorwurf „freigesprochen“. Ich freue mich, dass ich nach all den Sendungen, die ich über „Dreißig Jahre Mauerfall“ gesehen habe, zum ersten Mal wieder den Namen Rudolf Bahro (1935 – 1997) höre, dessen Buch „Die Alternative“ (1977) auch Hinweise auf den „Dritten Weg“ und die „Dreigliederung“ Rudolf Steiners enthält.[6]
Diether Dehm nennt den bürgerlich demokratischen Rechtsstaat „den besten, der in der Weltgeschichte entstanden ist.“ Da gilt, sagt er im Hinblick auf Christian Klar: wer seine Strafe verbüßt hat, „hat eine Resozialisierungschance, hat eine Chance auf einen vollwertigen Beruf“[7]
Als Diether Dehm dann gegen die NATO, als dessen Vertreter er Außenminister Maas kritisiert („niederträchtig“), weil er versucht, die russische Gaspipeline „Nordstream II“ zu verhindern, argumentiert, wird er mir (und Lena, die auf dem Rückweg neben mir sitzt) besonders sympathisch. Er sagt, dass er nicht nur für einen Frieden mit Russland, sondern für Freundschaft mit Russland ist, und damit stimmt er mit Leuten wie Erhard Eppler, Ken Jebsen, Willy Wimmer, Daniele Ganser und natürlich auch mit Lena und mir vollkommen überein.
Die andere wichtige Persönlichkeit, die ich gestern zum ersten Mal sah und insofern kennenlernte, war Thorsten Schulte. Mein Facebook-Freund, der Schriftsteller und Filmemacher Reto Andrea Savoldelli hat gestern einen Mitschnitt einer „Sendung“ des Alternativsenders „Eingeschenkt TV“ vom 8. November auf seine Seite in Facebook gestellt, deren erste 40 Minuten ich mir gestern Nachmittag mit wachsendem Interesse angeschaut habe.[8] Zu Wort kommt der 46-jährige ehemalige Banker Thorsten Schulte, der sein neuestes Buch „Fremdbestimmt – 120 Jahre Lügen und Täuschungen bis heute“ vorstellt, das in die gleiche Kerbe schlägt wie Willy Wimmers „Und immer wieder Versailles“.
Obwohl der smarte Mann manchmal ein wenig fanatisch auf mich wirkt, so kann ich doch seinen Mut bewundern, wenn er sich eindeutig gegen die derzeitige, von den Finanzmärkten bestimmte Politik engagiert und vehement für „Aufklärung“ im Sinne von Kant eintritt, der sagt: „Aufklärung ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Auch den Philosophen Karl Jaspers zitiert er: „Frieden ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich.“ Deshalb nennt er den Verlag, den er selbst gegründet hat, weil alle anderen Verlage sein neues Buch wegen seiner Brisanz abgelehnt haben, den „Frieden-Freiheit-Wahrheit-Verlag“.
Beeindruckt hat mich, dass der junge Banker schon 1999 von einer „Zeitenwende“ gesprochen hat, die notwendig sei. In dem Augenblick, als er das Wort sagte, leuchtete in meinem Inneren etwas auf, was ich nur schwer erklären kann. Es war mir, als sei dieser am 18. März 1973 geborene junge Mann ein ehemaliger Schüler Rudolf Steiners, der – vielleicht ohne es zu wissen – die wesentlichen Fragen stellt und da weiter macht, wo der Geistesforscher 1916/17 mit seinen „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“ geendet hatte.
Überhaupt nicht erstaunt bin ich, als ich dann erfahre, dass Thorsten Schulte schon einmal mit Willy Wimmer auf einem Podium saß und beide vor der Gefahr einer möglichen totalitären Weltregierung warnten, wenn man weiter daran arbeiten würde, die Nationalstaaten abzuschaffen.
Man muss kein Nationalist sein, wenn man so spricht.
Willy Wimmer erklärt in seinem Buch „Und immer wieder Versailles“ an mehreren Stellen, dass er die Idee von Europa gut finde, aber er betont dabei auch immer, dass er die ursprünglich von Adenauer und De Gaulle propagierte Idee eines „Europas der Vaterländer“ damit meint und nicht eine von Brüssel regierte „Europäische Union“, deren Kommissare demokratisch gar nicht legitimiert sind, über die einzelnen Mitgliedsstaaten zu bestimmen.


[2] Zum Beispiel den „Hit“ von Klaus Lage „Tausendmal berührt“
[3] Unter anderem von Wolf Biermann
[4] „Meine schönsten Skandale“
[5] Die Welt schrieb im Jahre 2018: „Der ehemalige Stasispitzel Diether Dehm, der mit Antisemiten und Reichsbürgern verkehrt, ist das wahre Gesicht der Linkspartei, so wie Björn Höcke für die AfD“. Eine schlimmere Diffamierung dieses Mannes kann man sich kaum vorstellen. Damit wäre ein weniger kämpferischer Typ eigentlich öffentlich erledigt.
[6] Es kann sein, dass mir hier eine Verwechslung unterläuft. Vielleicht meine ich Rolf Henrichs Buch „Der vormundschaftliche Staat“, das 1989 erschien, und in dem der Autor offenbar auch Ideen von Rudolf Bahro aufgreift. Jedenfalls würde es sich lohnen, sich mit diesen beiden DDR-Autoren einmal eingehender auseinanderzusetzen.
[7] Genau diese Stelle hörte ich gestern während der Fahrt im Autoradio (Minute 00:21:10)