Gestern (23.11.2019) Abend sah ich auf 3SAT einen
Beitrag des 52-jährigen Journalisten und Verlegers Jakob Augstein zur
Debattenkultur: „Die empörte Republik – Jakob Augstein unterwegs durch
Debatten-Deutschland“ von Tim Klimes (Deutschland 2019).[1]
Er sagt, früher war es noch einfacher, den Debatten zu folgen, weil nur wenige
daran teilnahmen. Heute, im digitalen Zeitalter, kann sich jeder mit seiner
Meinung „einklinken“ und dabei geht das Niveau oft verloren, weil empörte
Bürger ihrem Unmut, ja bisweilen ihrer Wut Ausdruck verleihen. Dennoch meint
Jakob Augstein, der sich bei seiner Recherche in verschiedenen Städten Europas
filmen lässt, dass „Wahrheit in der Debatte entsteht“. Dieser Satz wäre zu
überprüfen, entspricht aber vielleicht dem Satz, den ich gestern bei Thorsten
Schulte fand, und der auf Karl Jaspers zurückgeht: „Frieden braucht Freiheit
und Freiheit braucht Wahrheit.“
Seit zehn Jahren (2009) ist bekannt,
dass der „rechtliche“ Sohn des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein in Wirklichkeit
der leibliche Sohn von Martin Walser ist. Das ist der Grund, warum mich dieser
am 28. Juli 1967 geborene Mann interessiert, denn ich schätze den
Schriftsteller Martin Walser sehr.
Jakob Augstein bezeichnet sich
zunächst selbst als „Journalist“, weiß aber gar nicht mehr so genau, was das
ist, und verbessert sich: „Ich bin ein Kommentator“. Aber auch das gefällt ihm
noch nicht so gut, so dass er schließlich zu der Definition gelangt: „Ich bin
ein Teilnehmer der Debatte“.
Das gefällt mir, und ich kann
sagen, dass ich im Mini-Format mit meinem Blog „Kommentare zum Zeitgeschehen“
eigentlich dasselbe versuche: an der Debatte teilnehmen.
Diese drei „Ich-bin-Worte“ finde
ich interessant und erlebe sie als Suchbewegung.
Augstein sucht bei seiner Reise
durch die Republik zunächst Menschen auf, die sich an den heutigen Debatten
beteiligen, die aber noch wissen, wie Debatten in der vordigitalen Zeit
aussahen, als die Teilnehmerzahl noch wesentlich kleiner war. Den ersten
Menschen, den er besucht, ist Stefan Aust, der langjährige Chefredakteur des
„Spiegel“ und jetzige Herausgeber der „Welt“. Er ist einer der „wichtigsten
Meinungsmacher in Deutschland“ (Augstein) und einer der wenigen übrig
gebliebenen Presse-Mogule der Bundesrepublik, die einst die öffentliche Debatte
bestimmt haben.
Augstein nennt Stefan Aust, den 2014 überraschend verstorbenen Frank Schirrmacher (FAZ), Matthias Döpfner[2]
und Kai Dieckmann (beide „Bild“) die wichtigsten „Debatten-Anführer“ der
„vordigitalen Zeit“. In dem Wort „Anführer“ steckt für mein Ohr etwas von einem
„Bandenanführer“ drinnen. Aber es trifft genau, was ich auch denke. Deutschland
hatte in der Diktatur des Dritten Reiches einen „Führer“ und anschließend in der
Demokratie eine Gruppe von „Anführern“, welche die Meinung des Volkes
bestimmten oder zumindest zu lenken versuchten.
Mit Stefan Aust hat Jakob
Augstein, wie er sagt, über das seit 2015 bestehende „Oberthema“ debattiert,
über das Thema „Migration“, eine Debatte, die das Land „in einer Art und Weise
gespalten hat, wie wir das vielleicht seit der Ostpolitik von Willy Brand nicht
mehr hatten“ (Augstein).
Wenn ich Stefan Aust in seinem
noblen Büro mit weitem Blick über die Stadt im „Springer-Hochhaus“, in seinem
dick gepolsterten Ledersessel beinahe versinkend, sehe, dann weiß ich, dass
dieser Mann „arriviert“ ist und zum Establishment gehört, also zu jener Elite,
die in unserem Land Einfluss hat. Vielleicht war er einst ein „Bandenanführer“,
der als Spiegel-Redakteur und Kenner der RAF in den Jahren nach 1968 auch
einmal gegen die Springer-Presse demonstriert hat; heute erscheint er als
vollkommen saturiert und „gut gepolstert“ und bezeichnet die Tageszeitung „ Die
Welt“, die einst eindeutig konservativ war, als ein für alle Positionen offenes
Blatt.
Welch ein Wandel hat sich da
sowohl mit der Tageszeitung, als auch mit dem Redakteur vollzogen! Meine
äußerst konservative Tante hat mir Anfang der 70-er Jahre ein Abonnement
der „Welt“ geschenkt, damit ich auch einmal ihre Position kennenlerne, damals,
als auch ich mit 18 Jahren eher links stand und die Ostpolitik Willy Brands gut
hieß. Natürlich ging das meiner heimatvertriebenen Familie völlig gegen
den Strich, die in Schlesien, Ostpreußen und Pommern immer noch das wahre
„Ostdeutschland“ und nicht die verlorenen „Ostgebiete“ sahen.
Stefan Aust spricht im Gespräch
aus, was schon lange auch mein Gefühl ist: „Die weit überwiegende Mehrheit der
Medien ist im Prinzip einer Meinung und unterstützt im Prinzip eine Politik,
welche zum Beispiel in der Migrationsfrage, aber auch in der Energiefrage von
Angela Merkel und ihrer Koalition sowie den Grünen“ vertreten wird.
Genau das ist ja der Vorwurf
jener „Empörten“[3], die
sich nicht mehr gehört fühlen, weil sie grundsätzlich anderer Meinung sind, und
die dann als „Rechtspopulisten“ abgekanzelt werden, also als Teilnehmer der
Debatte gar nicht mehr in Frage kommen: „Mit denen spricht man nicht.“
Der arroganteste Satz, den Stefan
Aust in dem Interview mit Jakob Augstein ausspricht, ist meiner Meinung nach
folgender. „Es ist zweifellos der Fall, dass die Debatten früher eleganter
geführt wurden als heute. Das ist ja auch der Nachteil der Demokratie: Jeder
Idiot darf wählen und jeder Idiot darf im Zweifel auch gewählt werden. Warum
sollte dann nicht auch jeder Idiot im Internet seine Meinung veröffentlichen
dürfen.“
Da kommt mir sofort die Frage:
meint Aust, dass es außer den wirklichen Journalisten nur noch Idioten in
unserem Land gibt?
Augstein wendet den Ausspruch
Austs dann noch einmal und spricht von „idiotischen Meinungen“. Was er darunter
versteht, kann man nur ahnen, wenn man den Vorspann oder weitere Einspielungen des
Films beachtet: Es sind die Meinungen von AfD-Politikern oder Pegida-Anhängern,
also von ausgemachten „Idioten“, die wiederum von ausgemachten „Idioten“
gewählt oder beklatscht werden. Augstein und Aust teilen, wenn ich den Gedanken
bis zu Ende führe, die Welt also nicht mehr, wie andere, in „die Guten“ und
„die Bösen“ ein, sondern in echte „Journalisten“ und „Idioten“.
Der nächste Journalist, den Jakob
Augstein besucht, ist Jan Fleischhauer, eine der „größten Hassfiguren im
deutschen Journalismus“. Er habe „es wirklich geschafft, sich zu inszenieren
und sich zu stilisieren als leicht süffisanter rechter Stinkstiefel“,
charakterisiert Augstein seinen Freund und ehemaligen Kollegen beim „Spiegel“
(„schwarzes Feigenblatt“).
Was für eine Sprache!
Wenn Aust Menschen, die ihre
Meinung im Internet veröffentlichen, pauschal als Idioten verunglimpft, so
macht Augstein nun weiter, und nennt seinen Freund Fleischhauer, vermutlich linke
Journalisten zitierend, einen „rechten Stinkstiefel“. Das ist „Gossensprache“,
nicht die „elegante“ Sprache von seriösen Journalisten.
Fleischhauer sei, so Augstein,
ein Vollprofi darin, den „Trigger“ auszulösen, den es braucht, um bei „Leuten“
eine Reaktion auszulösen. Man kann, so erfährt man, Fleischhauer als Referent
über das Thema „die Funktion der Medien und des Internets als
Skandalisierungsbeschleuniger“ buchen. Der Journalist solle versuchen, den
„Empörungsstrom“ zu treffen und dürfe natürlich wie Karl Kraus oder Kurt Tucholsky
provozieren.
Fleischhauer kritisiert das
„Sektiererische“ der Linken, die sofort aufschreit, wenn jemand mit den
„falschen Leuten“ auf dem Podium sitzt, oder sich mit diesen trifft.
Einer dieser Journalisten, der
sich mit den „falschen Leuten“ umgibt, ist der ehemalige Spiegel-Redakteur
Matthias Matussek, der seine Wandlung in dem Buch „White Rabbit oder der
Abschied vom gesunden Menschenverstand“ 2018 im „rechten“ Verlag „Tichys
Einblicke“ veröffentlicht hat. Sein Stinkstiefelpotential ist offenbar so groß,
dass ihn Augstein in seinem Film gänzlich aus der Debatte ausschließt und nicht
selbst zu Wort kommen lässt. Nur in einem Fernsehausschnitt[4]
des „Satirikers“ Jan Böhmermann wird dieser ehemals hochgelobte „Publizist und
Alpha-Journalist“ erwähnt, weil Jan Fleischhauer auf dessen 65. Geburtstagsparty
„gesichtet“ worden war.
Das erinnert mich an eine weitere
konsequente Ausgrenzung eines anderen „rechten Stinkstiefels“.
Das Politmagazin Spiegel hielt es
nicht für notwendig, einen Nachruf auf Günther Zehm abzudrucken, der viele
Jahre die Kolumne „Pankraz“ in der „Welt“ geschrieben hat, aber 1995 zur
„Jungen Freiheit“ übergewechselt ist. Der Autor, der in Leipzig bei Ernst Bloch
und später in Frankfurt bei Theodor W. Adorno studiert bzw. assistiert hat, ist
1956, als er den Aufstand in Ungarn positiv bewertete, in der DDR als
„Konterrevolutionär“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er konnte im
Jahre 1961 aus der DDR fliehen und in Westdeutschland eine neue Existenz
aufbauen. Der Honorarprofessor und „Konkretdenker“[5]
begründete in der Tageszeitung „Die Welt“ im Juni 1975 seine Kolumne „Pankraz“,
die nach einer Figur aus Gottfried Kellers Novellenzyklus „Die Leute von
Seldwyla“ benannt ist. 12 Jahre lang, von 1977 bis 1989 war Günther Zehm stellvertretender
Chefredakteur der „Welt“.
Seine Kolumne erschien immer
montags in der erklärten Absicht, „Tendenzen aufzustöbern und anschaulich zu
machen, die vorerst noch unsichtbar umgehen“ (Zehm).
Nach dem Tod von Axel Springer (am
22. September 1985) und insbesondere im Jahr des Mauerfalls (1989) kam es
zunehmend zu Auseinandersetzungen mit dem damaligen Welt-Chefredakteur Manfred
Schell über den Kurs der Zeitung und Zehm wurde zum Ausscheiden gedrängt.
Von 1990 bis zum 10. Juni 1994
veröffentlichte er seine Kolumne im „Rheinischen Merkur“. An jenem Tag erschien
„Pankraz“ zum ersten Mal nicht in der Zeitung.
Der Chefredakteur Thomas
Kielinger hatte sie kurzerhand aus dem Blatt genommen und wahrheitswidrig
behauptet, Zehm sei verreist. In Wirklichkeit hatte Kielinger eine Bemerkung
Zehms anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Landung der Alliierten
in der Normandie missfallen, als Zehm zu bedenken gab: „Auch die Helden des
D-Days nebst Onkel Joe, dem Moskauer Verbündeten, (…) haben Millionen von
Kriegsgefangenen zu Tode gehungert, zehntausende von Frauen vergewaltigt, haben
schließlich die halbe Welt in ein einziges, über vierzig Jahre betriebenes
Dauer-KZ verwandelt.“ Diese Feststellung dürfte so ziemlich der Wahrheit
entsprechen, war aber in jenen Jahren alles andere als „politisch korrekt“.
Auch Günther Zehm muss man
nennen, wenn man von den wichtigen Meinungsanführern der Bundesrepublik
spricht. Der Spiegel hielt das nach seinem Tod am Allerheiligentag 2019 nicht
für nötig. Dieses Schweigen spricht für mich Bände: Unliebsame Journalisten
werden ausgegrenzt und bei Gelegenheit gemobbt, wie Matthias Matussek von Jan
Böhmermann.[6]
Augstein spricht jene Geburtstagsparty
bei seinem Freund Fleischhauer an und erfährt, dass Fleischhauer – wenn er davon
gewusst hätte – durchaus bereit gewesen wäre, mit einem Mitglied der „Identitären
Bewegung“, das auf der Party war, zu reden, um zu verstehen, was in ihm vorgeht.
Böhmermann, der mit seinem Fernsehbeitrag eine Art Hetzjagd auf Jan Fleischhauer
initiieren wollte, bekommt auch sein Fett ab. Fleischhauer nennt ihn die „Hofschranze
des ZDF“.
Augstein kommentiert: Fleischhauer
war der letzte „Rechte“ bei „Spiegel-Online“. Nachdem er zu Burda gegangen ist,
gebe es jetzt nur noch „Linke“ in der Spiegel-Kolumne. Das sei eine „Monokultur“.
[2] Den
Verleger der Bildzeitung bezeichnet Augstein als den „letzten Mohikaner“, als
einen Verleger, der das noch kann, was die anderen schon lange nicht mehr
können: die Meinung beeinflussen.
[3] Der
Ausdruck geht auf Stephane Hessel zurück, der in einem kleinen Bändchen
(„Empört Euch!“) zur „Empörung“ aufrief, das sich dann in den Jahren 2010/11 in
Windeseile verbreitete und von Spanien bis nach Nordafrika eine Art „Frühling“
bewirkte. Als es aber dann in Syrien ebenfalls zu Demonstrationen wie in
Tunesien und Ägypten kam, fürchtete Israel (und seine westlichen Verbündeten)
einen Flächenbrand, der auch den jüdischen Staat bedrohen könnte, der seit
jeher zwischen Ägypten und (As-) Syrien lag und einmal von der einen, einmal
von der anderen Großmacht bedroht wurde. So verwandelten sich die
Bürgerdemonstrationen zuerst zu einem Bürgerkrieg und schließlich in einen
richtigen Stellvertreterkrieg, in dem israelfreundliche (USA) und
israelfeindliche (Iran) Kräfte gegeneinander kämpften.
[4] Neo
Magazin Royal vom 18.03.2019
[5] „Günther
Zehm war immer auch ein Konkretdenker. Die concretio,
die Verdichtung, das konkrete Sprechen in den Spuren seines frühen akademischen
Lehrers Ernst Bloch sowie der Philosophen Georg Simmel und Jose Ortega y Gasset
war ihm ungemein wichtig. Er trachtete nicht danach, für die Elfenbeintürme der
Intellektuellen zu schreiben. Seine Texte sollten an den Lebensstrom angebunden
sein und daraus Erkenntnis schaffen.“ Thorsten Thaler, Junge Freiheit Nr. 46
vom 8. November 2019, S 15
[6] „Auf der
Party war das Who-is-Who der Prüf- und Verdachtsfälle des Verfassungsschutzes“
sagt der Mann mit einem Augenzwinkern, als hätte er ganz vergessen, wie viele
Linke in den 70-er Jahren ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wurden.
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