Sonntag, 26. Januar 2020

Meditationen über das Böse


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Gestern sah ich in der Arte-Mediathek ein Porträt des russischen Literaturnobelpreisträgers Boris Pasternak: „Der Fall Doktor Schiwago – Ich lade Sie zu meiner Hinrichtung ein“ von Nino Kirtadze aus dem Jahr 2018[1]. Auch diese Dokumentation ist ein Puzzle-Baustein für den karmischen Umkreis Rudolf Steiners, der ja auch mit Rainer Maria Rilke und dem armen Friedrich Nietzsche, den beiden berühmten Freunden Lou Andrea-Salomes, bekannt war: Bei seiner zweiten Russlandreise begegnete Rilke dem zehnjährigen Boris Pasternak, weil er mit seinem Vater befreundet war. Die Geschichte von Doktor Schiwago, die ich schon so lange – angeregt durch das Filmmeisterwerk von David Lean aus dem Jahre 1964 – lesen möchte, setzt im Jahre 1903 ein.
In der Dokumentation wird auch einmal eine Stelle aus dem Roman zitiert, die genau die Frage berührt, die mich seit ein paar Tagen wieder beschäftigt: was ist das Böse?
„Damals kam die Lüge ins russische Land. Das Hauptelend, die Wurzel des kommenden Bösen, war der Verlust des Glaubens an den Wert der eigenen Meinung. Man bildete sich ein, dass die Zeit, da man den Eingebungen des sittlichen Empfindens folgte, vorüber sei. Jetzt muss man sich dem Gleichschritt anpassen und sich nach den Regeln der Gemeinschaft richten. Diese Verirrung der Gesellschaft erfasste alles, steckte alles an, alles geriet unter ihren Einfluss.“ (ca. Minute 20:00)

Auch in der neuesten Ausgabe der „Jungen Freiheit“ (Nr. 5, 24.01 2020) wird im Zusammenhang mit dem Jahrestag der Befreiung der Lagerinsassen von Auschwitz vom Bösen gesprochen. Es ist ein aktuelles Thema.

Unter der Überschrift „Die Neurose heilen – Instrumentalisierung eines Großverbrechens: Die Erinnerung an den Holocaust sollte historisch nüchterner erfolgen“ schreibt Autor Thorsten Hinz:
„Vor genau 20 Jahren fand in Stockholm eine Internationale Holocaust-Konferenz unter Beteiligung von Staats- und Regierungschefs und des Uno-Generalsekretärs statt. In der verabschiedeten Erklärung heißt es: ‚Der beispiellose Charakter des Holocaust wird immer universelle Bedeutung behalten‘, und müsse ‚in unserem kollektiven Gedächtnis für immer eingebrannt sein‘. Daraus abgeleitet wurde die ‚moralische Verpflichtung unserer Völker und die politischen Verpflichtung unserer Regierungen‘ zum Kampf gegen ‚Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit‘. Als zentrale Aufgabe hervorgehoben wurde die politische Bildung der Jugend.
Die sogenannte ‚Holocaust Education‘ ist ein offizielles Projekt der Unesco. Sie verfolgt das Ziel, ‚Lernende mit Wissen, Kompetenzen und Handlungsoptionen auszustatten, um zu kritischem Denken zu befähigen und verantwortungsvolle Weltbürger hervorzubringen, welche die Menschenwürde achten sowie Vorurteile und Ausgrenzung – die in Gewalt und Völkermord münden können – ablehnen.‘
An die ‚Holocaust Education‘ schließt die ‚Global Citizenship Education‘ an. So heißt die politische Bildung im globalen Maßstab. Durch sie sollen ‚Lernende (...) in die Lage versetzt werden, ein Zugehörigkeitsgefühl zur Weltgemeinschaft zu entwickeln, sich zu engagieren und eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen, um einen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen, gerechten Welt, in der ökologische Ressourcen bewahrt werden.‘
Solche Proklamationen hört die Menschheit schon seit hundert Jahren. Aber all die politischen Programme haben die Menschen bisher nicht friedlicher und ökologischer gemacht. Zwar war Deutschland durch die Umweltbewegung der 70er Jahre und die daraus hervorgehende Partei der „Grünen“ eine Art Vorreiter dafür, dass mehr Ressourcen eingespart, in der Landwirtschaft öfters ökologisch gewirtschaftet und durch die Einführung des gelben Sackes Müll getrennt wurde. Diese Erfolge sind zwar zu verzeichnen, aber wenn ich in Einkaufszentren wie „Kaufland“ oder in Discountern wie „Lidl“ einkaufe, finde ich seit ca. einem Jahr auch Bioland- (Lidl) oder Demeter-Produkte (Kaufland), aber wenn ich die Kunden beobachte, so habe ich das Gefühl, dass die überwiegende Mehrheit immer noch nach dem billigsten Fleisch und den zuckerhaltigsten Getränken greift. Das kann nicht an ihrem Einkommen liegen, denn diese Leute verfügen in der Regel über die neuesten Smart-Phones. Es liegt, so vermute ich, trotz aller Appelle am mangelnden Bewusstsein.
Genauso erfolglos sind offensichtlich die gutgemeinten Appelle an die Jugend, die – wie ich als Deutsch- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium selbst erfahren habe - mindestens einmal im Jahr Pflichtveranstaltungen zum Thema „Holocaust“ besuchen mussten. Bei vielen war das eine willkommene freie Stunde. Manche waren betroffen, aber die meisten spielten ihre blutigen Computerspiele weiter, die der Dramatiker Heiner Müller zutreffend als „Einübung auf Auschwitz“ bezeichnete. Anstatt die Herstellung solcher menschenverachtender  Spiele grundsätzlich zu verbieten, verdient eine gewaltige Industrie Millionen damit, die Jugend in Richtung „Mord und Totschlag“ zu konditionieren. Da helfen gutgemeinte pädagogische Programme nichts. Da müssen klare Gesetze beschlossen werden, ohne Rücksicht auf den Einfluss von Lobbyisten.
Thorsten Hinze kommt nun zum Zentrum seines Aufsatzes:
„Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz veranstaltet die Unesco an ihrem Hauptsitz in Paris einen Gedenkakt, zwei Ausstellungen und eine Konferenz, in der über Mittel und Wege diskutiert wird, die Erinnerung an den Holocaust dauerhaft im ‚kollektiven Gedächtnis‘ zu fixieren.
Was an den Deklarationen, Beschlüssen und Projektbeschreibungen immer wieder besticht, ist das Neben- respektive Ineinander von bürokratischer und sakraler Sprache. Der suggestive Rekurs auf den Holocaust verleiht den administrativen Planungen, Normierungen und Anweisungen den Anschein höherer Weihen, einer geheiligten Aura, die ihre Evidenz in sich selbst trägt und die anzuzweifeln sittenwidrig wäre, weil sie etwas unzweifelhaft Gutes transportiert.“
Der Hinweis auf die Verknüpfung politischer Anweisungen mit der geheiligten Aura der Gedenkfeiern, die sich auch in manchen Sprachformeln zeigt, die aus den gegebenen Anlässen jedes Jahr mit leichten Varianten wiederholt werden, ist etwas, wofür ich als Germanist besonders sensibel bin. Vielleicht ertrage ich es nicht, dass sich hier in öffentlichen Reden scheinbar tadellose Politiker[2] zum Sprachrohr der „Anständigen“  machen, während alle, die solchen Akten eher kritisch gegenüber stehen, die „guten Sitten“ verletzen, ja in den Verdacht des schlimmsten Vergehens der Gegenwart zu geraten, nämlich „Antisemit“ zu sein, wobei natürlich assoziiert wird, dass jeder „Antisemit“ potentiell „Hass und Hetze“ verbreitet, jüdische Kinder bespuckt und Kippa-Träger tätlich angreift. Hinter ihnen lauert „das Böse in neuem Gewand“, wie Bundespräsident Steinmeier in Yad Vaschem ausführte.
Thorsten Hinz schreibt weiter:
„Die philosophische Basis für das rhetorische Verfahren schuf Hannah Arendt durch die Umdeutung des Kantschen ‚radikal Bösen‘. Bei Kant bezeichnet der Begriff den ‚verderbten Hang im Menschen‘, ein ‚radikales, angeborenes (...) Böses in der menschlichen Natur‘, das ihn dazu verführe, ‚gesetzwidrigen Maximen‘ zu folgen, obwohl er sich des ‚moralischen Gesetzes bewusst‘ sei.“
Hat nicht der derzeitige Präsident der größten Weltmacht, der eigentlich als Vertreter einer starken Zivilisation Vorbild sein müsste, den „Hang (...) gesetzwidrigen Maximen“ zu folgen, wenn er den Armeechef eines anderen Landes in einem Drittland und sieben seiner Begleiter töten lässt, ohne ihnen eine Chance zu einem fairen Gerichtsverfahren zu gewähren? Im Gegensatz dazu laufen Präsidenten wie George W. Bush und Premierminister wie Tony Blair bis heute frei herum, obwohl sie völkerrechtswidrige Kriege begonnen haben, durch die mehrere Nahoststaaten ins Chaos gestürzt und unzählige Menschen getötet wurden, ganz zu schweigen davon, was Israel in zwei Kriegen, die es geschickt als Verteidigungskriege deklariert hat, dem palästinensischem Volk angetan hat: Das Westjordanland und die Golanhöhen sind seit 1967 besetztes Land, der Gaza-Streifen das größte „Freiluft-Gefängnis“ der Welt. Hier erkenne ich den „Hang, gesetzwidrigen Maximen“ zu folgen, der laut Kants Definition zum „Bösen in der menschlichen Natur“ gehört.
„Nach Arendt hat der Mord an den europäischen Juden (...) dagegen ein nach menschlichen Maßstäben ‚Unmögliches möglich‘ gemacht und ein ‚unbestrafbares, unverzeihlich Böses‘ ans Licht gebracht, ‚das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit‘ usw., weshalb darauf ‚alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind.‘
Arendts Beschreibung zielt auf das, was Kant ‚eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache‘ nennt, die Epiphanie ‚einer gleichsam boshaften Vernunft (ein schlechthin böser Wille)‘, in welcher ‚der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeser (...) erhoben, und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht würde‘. Das aber sei, so Kant, auf den Menschen gar nicht anwendbar. Was Arendt formuliert, ist demnach kein ‚radikal‘, sondern ein außermenschliches, ein ‚absolut Böses‘. Sie schrieb dem historischen Faktum des Judenmords eine metaphysische Dimension zu, die letztlich über ein religiöses Potential verfügt.“
Ich kann sicher behaupten, dass ich in meiner Seele das Böse nicht vorfinde. Im Gegenteil, ich habe immer das Gute angestrebt. Trotzdem glaube ich an die Macht eines wesenhaft Bösen, das versucht, Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Die Verlockungen sind zahlreich: Eitelkeit, Ehrgeiz, Machtgelüste, Lügenhaftigkeit, Neid, Furcht und schließlich die Freude am Leid eines Mitmenschen als abartigste Form.
Nie werde ich das Leid all der Juden geringschätzen, die so unsagbar Fürchterliches unter fanatischen Nationalsozialisten erleben mussten. Ich gönne auch Frau Miller-Ehrenwald, deren Tagebücher derzeit im Berliner Historischen Museum ausgestellt werden, die knapp 900 Euro Entschädigungsrente, die sie monatlich von Deutschland erhält. Auch meine Eltern haben wegen des Verlustes ihrer schlesischen Heimat einen Lastenausgleich bekommen.
Deutschland ist ein reiches und wirtschaftlich starkes Land und ich finde es richtig, wenn es hilft, die Not anderer Menschen zu lindern.
Ich glaube aber auch, dass kein anderes Land bis heute so viel „Widergutmachung“ geleistet hat wie Deutschland. Wenn aber unser Bundespräsident behauptet, hier gebe es wieder Menschen, die sich in den Dienst des Bösen stellen, dann muss ich mit Kant widersprechen: Jeder hat offenbar den „verderbten Hang“ in sich; das betrifft nicht nur manche Deutsche, sondern gewiss auch manche Juden.
Wir sollten endlich die Toten ruhen lassen und uns bemühen, „friedliebende“ Menschen zu werden.



[2] Zur angeblichen Tadellosigkeit der unbescholtenen „Sonntagsredner“ möchte ich nur an zwei Tatsachen erinnern: Bundepräsident Steinmeier protegierte die Punk-Band „Feine Sahne Fischfilet“, die am 3. September 2018 unter dem Motto „Wir sind mehr“ bei einem Konzert in Chemnitz mit Aufrufen zum Mord an politischen Gegnern in ihren Liedern Rock gegen rechts machte, und Ministerpräsident Netanjahu droht ein Verfahren wegen Korruption.

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