Gestern sah ich in
der Arte-Mediathek ein Porträt des russischen
Literaturnobelpreisträgers Boris Pasternak: „Der Fall Doktor Schiwago – Ich
lade Sie zu meiner Hinrichtung ein“ von Nino Kirtadze aus dem Jahr 2018[1]. Auch diese Dokumentation
ist ein Puzzle-Baustein für den karmischen Umkreis Rudolf Steiners, der ja auch
mit Rainer Maria Rilke und dem armen Friedrich Nietzsche, den beiden berühmten
Freunden Lou Andrea-Salomes, bekannt war: Bei seiner zweiten Russlandreise
begegnete Rilke dem zehnjährigen Boris Pasternak, weil er mit seinem Vater
befreundet war. Die Geschichte von Doktor Schiwago, die ich schon so lange –
angeregt durch das Filmmeisterwerk von David Lean aus dem Jahre 1964 – lesen
möchte, setzt im Jahre 1903 ein.
In der Dokumentation wird auch einmal eine Stelle aus
dem Roman zitiert, die genau die Frage berührt, die mich seit ein paar Tagen
wieder beschäftigt: was ist das Böse?
„Damals kam die Lüge ins
russische Land. Das Hauptelend, die Wurzel
des kommenden Bösen, war der Verlust des Glaubens an den Wert der eigenen
Meinung. Man bildete sich ein, dass die Zeit, da man den Eingebungen des
sittlichen Empfindens folgte, vorüber sei. Jetzt muss man sich dem
Gleichschritt anpassen und sich nach den Regeln der Gemeinschaft richten. Diese
Verirrung der Gesellschaft erfasste alles, steckte alles an, alles geriet unter
ihren Einfluss.“ (ca. Minute 20:00)
Auch in der neuesten Ausgabe der
„Jungen Freiheit“ (Nr. 5, 24.01 2020) wird im Zusammenhang mit dem Jahrestag
der Befreiung der Lagerinsassen von Auschwitz vom Bösen gesprochen. Es ist ein
aktuelles Thema.
Unter der Überschrift „Die
Neurose heilen – Instrumentalisierung eines Großverbrechens: Die Erinnerung an
den Holocaust sollte historisch nüchterner erfolgen“ schreibt Autor Thorsten
Hinz:
„Vor genau 20 Jahren fand in
Stockholm eine Internationale Holocaust-Konferenz unter Beteiligung von Staats-
und Regierungschefs und des Uno-Generalsekretärs statt. In der verabschiedeten
Erklärung heißt es: ‚Der beispiellose
Charakter des Holocaust wird immer universelle Bedeutung behalten‘, und
müsse ‚in unserem kollektiven Gedächtnis
für immer eingebrannt sein‘. Daraus abgeleitet wurde die ‚moralische Verpflichtung unserer Völker und
die politischen Verpflichtung unserer Regierungen‘ zum Kampf gegen ‚Rassismus, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit‘. Als zentrale Aufgabe hervorgehoben wurde die
politische Bildung der Jugend.
Die sogenannte ‚Holocaust
Education‘ ist ein offizielles Projekt der Unesco. Sie verfolgt das Ziel, ‚Lernende mit Wissen, Kompetenzen und
Handlungsoptionen auszustatten, um zu kritischem Denken zu befähigen und
verantwortungsvolle Weltbürger hervorzubringen, welche die Menschenwürde achten
sowie Vorurteile und Ausgrenzung – die in Gewalt und Völkermord münden können –
ablehnen.‘
An die ‚Holocaust Education‘
schließt die ‚Global Citizenship Education‘ an. So heißt die politische Bildung
im globalen Maßstab. Durch sie sollen ‚Lernende
(...) in die Lage versetzt werden, ein Zugehörigkeitsgefühl zur
Weltgemeinschaft zu entwickeln, sich zu engagieren und eine aktive Rolle in der
Gesellschaft zu übernehmen, um einen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen,
gerechten Welt, in der ökologische Ressourcen bewahrt werden.‘“
Solche Proklamationen hört die
Menschheit schon seit hundert Jahren. Aber all die politischen Programme haben
die Menschen bisher nicht friedlicher und ökologischer gemacht. Zwar war
Deutschland durch die Umweltbewegung der 70er Jahre und die daraus
hervorgehende Partei der „Grünen“ eine Art Vorreiter dafür, dass mehr
Ressourcen eingespart, in der Landwirtschaft öfters ökologisch gewirtschaftet
und durch die Einführung des gelben Sackes Müll getrennt wurde. Diese Erfolge
sind zwar zu verzeichnen, aber wenn ich in Einkaufszentren wie „Kaufland“ oder
in Discountern wie „Lidl“ einkaufe, finde ich seit ca. einem Jahr auch Bioland-
(Lidl) oder Demeter-Produkte (Kaufland), aber wenn ich die Kunden beobachte, so
habe ich das Gefühl, dass die überwiegende Mehrheit immer noch nach dem
billigsten Fleisch und den zuckerhaltigsten Getränken greift. Das kann nicht an
ihrem Einkommen liegen, denn diese Leute verfügen in der Regel über die neuesten
Smart-Phones. Es liegt, so vermute ich, trotz aller Appelle am mangelnden
Bewusstsein.
Genauso erfolglos sind
offensichtlich die gutgemeinten Appelle an die Jugend, die – wie ich als
Deutsch- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium selbst erfahren habe - mindestens einmal im Jahr Pflichtveranstaltungen zum Thema „Holocaust“ besuchen
mussten. Bei vielen war das eine willkommene freie Stunde. Manche waren
betroffen, aber die meisten spielten ihre blutigen Computerspiele weiter, die
der Dramatiker Heiner Müller zutreffend als „Einübung auf Auschwitz“ bezeichnete.
Anstatt die Herstellung solcher menschenverachtender Spiele grundsätzlich zu verbieten, verdient
eine gewaltige Industrie Millionen damit, die Jugend in Richtung „Mord und
Totschlag“ zu konditionieren. Da helfen gutgemeinte pädagogische Programme
nichts. Da müssen klare Gesetze beschlossen werden, ohne Rücksicht auf den
Einfluss von Lobbyisten.
Thorsten Hinze kommt nun zum
Zentrum seines Aufsatzes:
„Anlässlich des 75. Jahrestags
der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz veranstaltet
die Unesco an ihrem Hauptsitz in Paris einen Gedenkakt, zwei Ausstellungen und
eine Konferenz, in der über Mittel und Wege diskutiert wird, die Erinnerung an
den Holocaust dauerhaft im ‚kollektiven Gedächtnis‘ zu fixieren.
Was an den Deklarationen,
Beschlüssen und Projektbeschreibungen immer wieder besticht, ist das Neben-
respektive Ineinander von bürokratischer und sakraler Sprache. Der suggestive
Rekurs auf den Holocaust verleiht den administrativen Planungen, Normierungen
und Anweisungen den Anschein höherer Weihen, einer geheiligten Aura, die ihre
Evidenz in sich selbst trägt und die anzuzweifeln sittenwidrig wäre, weil sie
etwas unzweifelhaft Gutes transportiert.“
Der Hinweis auf die Verknüpfung
politischer Anweisungen mit der geheiligten Aura der Gedenkfeiern, die sich
auch in manchen Sprachformeln zeigt, die aus den gegebenen Anlässen jedes Jahr
mit leichten Varianten wiederholt werden, ist etwas, wofür ich als Germanist
besonders sensibel bin. Vielleicht ertrage ich es nicht, dass sich hier in
öffentlichen Reden scheinbar tadellose Politiker[2] zum Sprachrohr der
„Anständigen“ machen, während alle, die
solchen Akten eher kritisch gegenüber stehen, die „guten Sitten“ verletzen, ja
in den Verdacht des schlimmsten Vergehens der Gegenwart zu geraten, nämlich
„Antisemit“ zu sein, wobei natürlich assoziiert wird, dass jeder „Antisemit“
potentiell „Hass und Hetze“ verbreitet, jüdische Kinder bespuckt und
Kippa-Träger tätlich angreift. Hinter ihnen lauert „das Böse in neuem Gewand“,
wie Bundespräsident Steinmeier in Yad Vaschem ausführte.
Thorsten Hinz schreibt weiter:
„Die philosophische Basis für das
rhetorische Verfahren schuf Hannah Arendt durch die Umdeutung des Kantschen
‚radikal Bösen‘. Bei Kant bezeichnet der Begriff den ‚verderbten Hang im
Menschen‘, ein ‚radikales, angeborenes (...) Böses in der menschlichen Natur‘,
das ihn dazu verführe, ‚gesetzwidrigen Maximen‘ zu folgen, obwohl er sich des
‚moralischen Gesetzes bewusst‘ sei.“
Hat nicht der derzeitige
Präsident der größten Weltmacht, der eigentlich als Vertreter einer starken
Zivilisation Vorbild sein müsste, den „Hang (...) gesetzwidrigen Maximen“ zu
folgen, wenn er den Armeechef eines anderen Landes in einem Drittland und
sieben seiner Begleiter töten lässt, ohne ihnen eine Chance zu einem fairen
Gerichtsverfahren zu gewähren? Im Gegensatz dazu laufen Präsidenten wie George
W. Bush und Premierminister wie Tony Blair bis heute frei herum, obwohl sie
völkerrechtswidrige Kriege begonnen haben, durch die mehrere Nahoststaaten ins
Chaos gestürzt und unzählige Menschen getötet wurden, ganz zu schweigen davon,
was Israel in zwei Kriegen, die es geschickt als Verteidigungskriege deklariert
hat, dem palästinensischem Volk angetan hat: Das Westjordanland und die
Golanhöhen sind seit 1967 besetztes Land, der Gaza-Streifen das größte
„Freiluft-Gefängnis“ der Welt. Hier erkenne ich den „Hang, gesetzwidrigen
Maximen“ zu folgen, der laut Kants Definition zum „Bösen in der menschlichen
Natur“ gehört.
„Nach Arendt hat der Mord an den
europäischen Juden (...) dagegen ein nach menschlichen Maßstäben ‚Unmögliches möglich‘ gemacht und ein ‚unbestrafbares, unverzeihlich Böses‘
ans Licht gebracht, ‚das man weder
verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier,
Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit‘ usw., weshalb darauf ‚alle
menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind.‘
Arendts Beschreibung zielt auf
das, was Kant ‚eine ohne alle Gesetze
wirkende Ursache‘ nennt, die Epiphanie ‚einer
gleichsam boshaften Vernunft (ein schlechthin böser Wille)‘, in welcher ‚der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur
Triebfeser (...) erhoben, und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht
würde‘. Das aber sei, so Kant, auf den Menschen gar nicht anwendbar. Was
Arendt formuliert, ist demnach kein ‚radikal‘, sondern ein außermenschliches,
ein ‚absolut Böses‘. Sie schrieb dem historischen Faktum des Judenmords eine
metaphysische Dimension zu, die letztlich über ein religiöses Potential
verfügt.“
Ich kann sicher behaupten, dass ich in meiner
Seele das Böse nicht vorfinde. Im Gegenteil, ich habe immer das Gute
angestrebt. Trotzdem glaube ich an die Macht eines wesenhaft Bösen, das
versucht, Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Die Verlockungen sind zahlreich: Eitelkeit,
Ehrgeiz, Machtgelüste, Lügenhaftigkeit, Neid, Furcht und schließlich die Freude
am Leid eines Mitmenschen als abartigste Form.
Nie werde ich das Leid all der
Juden geringschätzen, die so unsagbar Fürchterliches unter fanatischen
Nationalsozialisten erleben mussten. Ich gönne auch Frau Miller-Ehrenwald,
deren Tagebücher derzeit im Berliner Historischen Museum ausgestellt werden,
die knapp 900 Euro Entschädigungsrente, die sie monatlich von Deutschland
erhält. Auch meine Eltern haben wegen des Verlustes ihrer schlesischen Heimat
einen Lastenausgleich bekommen.
Deutschland ist ein reiches und
wirtschaftlich starkes Land und ich finde es richtig, wenn es hilft, die Not
anderer Menschen zu lindern.
Ich glaube aber auch, dass kein
anderes Land bis heute so viel „Widergutmachung“ geleistet hat wie Deutschland.
Wenn aber unser Bundespräsident behauptet, hier gebe es wieder Menschen, die
sich in den Dienst des Bösen stellen, dann muss ich mit Kant widersprechen:
Jeder hat offenbar den „verderbten Hang“ in sich; das betrifft nicht nur manche
Deutsche, sondern gewiss auch manche Juden.
Wir sollten endlich die Toten
ruhen lassen und uns bemühen, „friedliebende“ Menschen zu werden.
[2]
Zur angeblichen Tadellosigkeit der unbescholtenen „Sonntagsredner“ möchte ich
nur an zwei Tatsachen erinnern: Bundepräsident Steinmeier protegierte die
Punk-Band „Feine Sahne Fischfilet“, die am 3. September 2018 unter dem Motto
„Wir sind mehr“ bei einem Konzert in Chemnitz mit Aufrufen zum Mord an
politischen Gegnern in ihren Liedern Rock gegen rechts machte, und
Ministerpräsident Netanjahu droht ein Verfahren wegen Korruption.
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