Sonntag, 26. März 2017

Drei Wochen bis Ostern

Heute Vormittag war Kirche.
Der heutige Sonntag Laetare („Freut Euch!“) steht als vierter Fastensonntag genau in der Mitte der sieben Passionssonntage. Es sind also nun noch drei Wochen bis Ostern.
Obwohl im Gottesdienstplan ein anderer Name stand, hielt Pfarrerin Ingeborg Brehmer den Gottesdienst. Die Kirche war merklich leerer als sonst. Offenbar suchen doch manche Gemeindemitglieder ihren Kirchgang nach dem Prediger aus. Ich bin trotzdem gegangen und wurde wieder mit einer hervorragenden Predigt belohnt. Es ging um Johannes 6, 52 – 65, eine überaus anstößige Rede Christi in der Synagoge von Kapernaum, die besonders die koscheren Juden empörte. Christus sagt: „Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.“ (Joh. 6, 53).  Blut zu trinken war absolut verboten bei den frommen Juden. Das taten nur die gottlosen Heiden.
Pfarrerin Brehmer kann diese Stelle auch nicht bis in die Tiefe erhellen, aber sie trägt dazu bei, dass wir sie etwas besser verstehen, ohne darauf zu verzichten, in gut evangelischer Tradition anzumerken, dass das Sakrament des Abendmahls „über den menschlichen Verstand hinausgeht“.
Ich meine das auch, aber genau an dieser Stelle setzt die Geisteswissenschaft ein. Ohne sie kann man tatsächlich nicht „verstehen“, warum im Brot Christi Leib, und im Traubensaft Christi Blut real wirken sollen, wenn die beiden Substanzen im Sakrament des Heiligen Abendmahls eingenommen werden.
Bei der Predigt sah ich alles Korn der Welt als den lebendigen Leib Christi vor mir. Dazu half mir auch der Wochenspruch, in dem es heißt: „Fiele das Korn nicht in die Erde und stürbe, so bliebe es allein. Fällt es aber in die Erde und stirbt, so bringt es viel Frucht hervor.“ (Ich zitiere aus dem Gedächtnis). In diesem Sinne sagt Christus unmittelbar nach der Speisung der Fünftausend, die im 6. Kapitel des Johannesevangeliums geschildert wird: „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh.6, 35).
Dieses Wort steht geschrieben an der zur Gemeinde hin zeigenden Seite des Altars der Kreuzäckerkirche, und wir lesen es jeden Sonntag. Es ist eines der sieben „Ich-Bin-Worte“ des Johannes-Evangeliums.
Der Altar war heute so wunderschön geschmückt, wie ich es selten erlebt habe. In zwei weißen bauchigen Vasen standen helle Tulpen, darüber rote Gerbera und darüber wiederum wie Sonnenstrahlen Zweige mit den ersten gelb aufblühenden Forsythien. Die beiden Sträuße bildeten bei den Fürbitten und dem Vater-Unser-Gebet einen sehr schönen Rahmen für die Pfarrerin, die in ihrem schwarzen Talar mit den beiden weißen Beffchen vor dem Altar stand und ins Publikum schaute.

Nach dem Gottesdienst ging ich als erstes zur Mesnerin, Frau Pitter aus Siebenbürgen, die seit 25 Jahren den Blumenschmuck  für den Gottesdienst besorgt. Sie freut sich über mein Lob und sagt, dass nur zweimal im Jahr Gemeindemitglieder auf sie zukämen, weil sie den Blumenschmuck bemerkt hatten.

Freitag, 24. März 2017

"Neun Monate bis Weihnachten"

Am 24. März 2017 war nicht nur der neunzigste Geburtstag von Martin Walser, sondern auch der erste Jahrestag des „Absturzes“ der „Gemanwings“-Maschine in den Französischen Alpen, bei dem 150 Menschen ums Leben kamen. 
Im „Wort zum Tag“ durch den Trierer Priester Altfried G. Rempe, der am Montag bereits eine schöne „Predigt“ zum Josefstag (am Vortag) gehalten hat[1], wurde ich kurz vor acht auf SWR2 an die Ermordung des elsalvadorianischen Priesters und Erzbischofs Oscar Romero[2] vor 37 Jahren, am 24. März 1980 erinnert.  Der ursprünglich konservative Erzbischof Romero (geboren am 15. August 1917) stellte sich nach dem Militärputsch in dem kleinen mittelamerikanischen Staat auf die Seite des Volkes und schrieb einen offiziellen Brief an US-Präsident Jimmy Carter, der im Jahr 1980 noch regierte. Die Hintergründe des Mordes sind heute weitgehend aufgeklärt. Den Auftrag hat ein gewisser Robert d’Aubuisson Arrieta gegeben, der in der amerikanischen Diktatoren- und Folterknechte-Ausbildungseinrichtung „School of the Americas (SOA) „studiert“ hat. Der Ermordung des Priesters vor dem Altar folgte ein zwölfjähriger Bürgerkrieg in El Salvador (zu Deutsch: "der Heiland"), in dem über 80000 „Zivilisten“ ihr Leben verloren.

Heute (25.03.2017) erinnert der Katholik an den Festtag „Mariä Verkündigung":

„Neun Monate noch bis Weihnachten. Kann schon sein, dass das im Moment nur mäßig interessant scheint; „drei Wochen nur bis Ostern“: das wäre jedenfalls näherliegend. Und trotzdem feiern die Kirchen heute genau das: Neun Monate bis Weihnachten.
Martin Luther hat es „eines der fürnehmsten Feste“ genannt. Und im katholischen Feiertagskalender ist es ein Hochfest. Und heißt „Verkündigung des Herrn“. Die Christen feiern den Tag, an dem ein Engel eingebrochen ist in den Alltag einer jungen Frau in der kleinen Stadt Nazaret in Galiläa. Mit einer Botschaft an Mirjam oder Maria: Du wirst schwanger und sollst einen Sohn zur Welt bringen. Und du sollst ihn Jesus nennen – Gott ist der Retter heißt das – und er wird König von Israel sein…
Wen wunderts: Maria ist erst mal erschrocken und dann ratlos. Wie soll sie schwanger werden – ist ja kein Mann da oder jedenfalls noch keine eheliche Verbindung. Und dann erzählt der Engel, wie das Wunder geschehen wird. Maria lässt sich darauf ein; vermutlich, ohne es zu verstehen. Aber das ist ihre Art, zu glauben: Sie lässt sich auf so eine riesige Herausforderung ein, obwohl sie sich damit selbst in Gefahr bringt. Unverheiratet schwanger – da drohte schon damals Schlimmes in der orientalischen Gesellschaft.
Aber mal ehrlich: Wer hätte bis heute verstanden, was da passiert. Um so wichtiger, das alles sozusagen zu erden und mit der wirklichen Realität zu verbinden. Deswegen heute, neun Monate vor dem Fest der Geburt: Fest der Ankündigung dieser Geburt. So wunderlich seltsam die Geschichte sein mag: Sie lässt sich am Kalender festmachen und an den natürlichen Abläufen.
Wie jeder andere Mensch braucht der kleine künftige Jesus neun Monate im Bauch seiner Mutter, bis er das Licht der Welt erblicken kann. Denn zur Welt kommt da einer von uns. Ganz Mensch eben.
Gottes Sohn sein: das wird er lernen. Weil er ein besonderes Verhältnis zu Gott hat und Gottes Liebe so sehr an sich heran lässt, dass er sie weitergeben kann. Das wird ihm eine ganz besondere Kraft geben – er wird Kranke gesund machen und Tote zurückrufen ins Leben.
Aber das dauert noch – erst mal neun Monate bis zur Geburt. Und dann dreißig Jahre unauffälliges Leben im Dorf Nazaret. Da können wir ruhig Karfreitag und Ostern feiern, in drei Wochen. Liegt im Moment einfach näher…“

Natürlich sind das rein katholische Sichtweisen, die hier „unters gläubige Volk“ gebracht werden. Aber ich finde es immer wieder gut, an die kirchlichen Festtage erinnert zu werden, auch wenn in diesen heute von den meisten Menschen nichts „Spirituelles“ mehr gesehen werden kann, weil sie einfach aus dem geistigen „Zeitenstrom“ heraus gefallen sind.

Martin Walser ist noch drin. Und deswegen schätze ich ihn.




[1] Wie das wohl war in so einer orientalischen Gesellschaft: Josef, der Zimmermann, verlobt mit einer jungen Frau aus dem Dorf, erfährt irgendwie: Mirjam ist schwanger. Vor der Ehe. Und jedenfalls von einem anderen Mann. Dass er noch nicht mit ihr zusammen war, weiß er ja mal mindestens.
Noch bis vor ein paar Jahren wäre so was selbst hier bei uns gefährlich gewesen; Menschen in südländischeren Gegenden haben so was ganz selbstverständlich gefunden: Ausgestoßen oder gleich gesteinigt worden wäre „so eine“ damals, in Galiläa, Israel, vor zweitausend Jahren. Hätte sogar eine vorgeblich religiöse Begründung gehabt.
Aber der Zimmermann tickt offensichtlich anders. Er vergisst, dass er blöd dastehen könnte –  der gehörnte Verlobte. Ihm ist das offensichtlich gleichgültig. Er nimmt seine Verlobte zu sich, berichtet die Bibel. Er wird dem Kind ein guter Vater, auch wenn das Kind sehr wahrscheinlich einen anderen Vater hat. “Das ist doch der Sohn des Zimmermanns“, sagen sie später im Dorf über Jesus, den Sohn der Maria; wissen also nichts von einer ungeklärten Vaterschaft. Ist doch einer von uns – was hat der uns von Gott zu erzählen… Der Sohn des Zimmermanns – und Josef steht vielleicht daneben. Und ich bin sicher: Er denkt und fühlt, dass sie Recht haben, obwohl er es ja eigentlich besser weiß.
Das, finde ich, ist die wirkliche Größe des Zimmermanns Josef aus Nazaret: Dass er treu gewesen ist, obwohl doch alles gegen diese Treue sprach. Vielleicht ist ihm ja wirklich ein starker und geschickter Engel erschienen, der ihm das alles erklärt hat, was bis heute kaum jemand richtig versteht…
Der hat es ihm jedenfalls so gut erklärt, dass Josef ein paar Jahre später sogar mit der nächsten seltsamen Geschichte zurechtgekommen ist: der frühpubertäre Jesus, gerade mal zwölf Jahre jung, bleibt einfach im Tempel in Jerusalem zurück; obwohl die Familie am Ende der Wallfahrt nach Nazaret unterwegs ist. Und blafft die Eltern an: Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss…
Glückwunsch allen Josefs, Jupps, Joes – und den Josefas und Josefines – gestern hatten sie Namenstag, aber weil gestern Sonntag war, ist das Hochfest auf heute verlegt. Und ich wünsche Ihnen und allen anderen jedenfalls Mut; den Mut, treu zu sein – wie damals der Zimmermann in Nazaret.

[2]Romero wurde am 24. März 1980 während einer Predigt in der Krankenhauskapelle der Divina Providencia (deutsch: Göttliche Vorsehung) vor dem Altar von einem Scharfschützen erschossen. Der in der von den USA betriebenen Militärakademie School of the Americas ausgebildete Major Roberto D’Aubuisson Arrieta war stellvertretender Geheimdienstchef und Drahtzieher der Todesschwadronen in El Salvador.“ (Wikipedia)

Für alle, die an einem 24. März geboren wurden!

Heute ist schon ein komischer Tag.
Auf dem Weg nach Kirchberg, wo heute der letzte Unterricht des vierten von sechs Modulen stattfand, den wir mit einem kleinen Fest beschlossen, hörte ich in den Feuilleton-Pressestimmen des Senders SWR2 Auszüge aus zwei Artikeln der FAZ zum 90. Geburtstag von Martin Walser, der heute von zahlreichen Literaturliebhabern mitgefeiert wird. Ich kaufte mir daraufhin die heutige Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der einzigen Kirchberger Tankstelle, in der man auch überregionale Zeitungen wie die „Süddeutsche Zeitung“, die „Welt“ und eben die FAZ bekommt. Mit der Lektüre musste ich aber bis zum Nachmittag warten.
Unser Modul-Ende-Festchen, bei dem meine 19 Kursteilnehmer um eine große Tafel saßen, auf der neben Obst, Chips und Tee Pizza von Frau Sana A. aus Afghanistan und Kuchen von Frau Lida A. aus Tschetschenien angeboten wurde, war wie ein Geburtstagsfest.
Ich saß zwischen der hübschen Celine M. aus Kamerun und der ebenfalls hübschen Lida A. aus Tschetschenien. Mir genau gegenüber saß die wunderschöne Afghanin Fateme E. neben ihrem Mann Faramoz S. und ihrem gemeinsamen Sohn E., der immer mit seinen Eltern in den Deutschkurs kommt und sich meistens still selbst beschäftigt. Neulich habe ich ihm ein Fix-und Foxi-Ausmalbuch und eine Schachtel Stockmar-Wachsmalstifte mitgebracht, mit denen er tagelang beschäftigt war. Frau E. ist im fünften Monat schwanger.
Wie immer bei solchen Festen sitzen die Männer zusammen und die Frauen von ihnen getrennt auf der anderen Seite des Tisches.
Ich saß mitten unter den Frauen. 
Wir sprachen über das Thema „Männer und Frauen“. Ich meinte, dass die Frauen hier im Wohnheim sehr fleißig seien. Sie kochen, waschen, räumen auf, putzen und kümmern sich um die Kinder, sind also rund um die Uhr beschäftigt und am Abend müde und ausgepowert, während die Männer ein schönes Leben hätten, Tee trinken, mit Freunden spielen oder über Politik diskutieren. 
Es ist das typische Bild, das wir Europäer von orientalischen Familien haben. Und die Frauen in der Runde bestätigen es, ohne zu vergessen, ihre Männer zu loben. Sowohl meine Nachbarin Lida A., als auch Sana A. sagen, dass sie „gute Männer“ hätten.
Frau A. erzählt, wie sie es mit Hilfe einer Lehrerin aus Weckelweiler geschafft habe, ihr ältestes Kind in die zweite Klasse der Waldorfschule nach Schwäbisch Hall zu bringen, wo es sehr glücklich ist, nachdem es im Förderunterricht der hiesigen Schule von anderen Asylantenkindern gehänselt und sogar geschlagen worden war. Frau A. und ihr Mann Hakim, ein Ex-Polizist aus Herat, sind hier in Deutschland zum christlichen Glauben übergetreten.
Am Ende des gemeinsamen Mahls kommt Hakim A., der die Post geholt hat, strahlend in unser Klassenzimmer und sagt etwas auf Dari. Alle eilen auf ihn zu und gratulieren ihm. Ich verstehe nicht gleich, aber dann sehe ich das Schreiben, das er in der Hand hält: es ist der Bescheid über die Anerkennung der gesamten Familie als Asylberechtigte.
Die Freude ist nach Wochen des Bangens ungeheuer groß. Herr und Frau A. strahlen, wie ich selten Menschen strahlen sah. Jeden Tag haben sie auf diesen Bescheid gewartet und konnten nachts oft nicht richtig schlafen, weil sie auch mit einer Ablehnung und der darauf folgenden Abschiebung rechnen mussten.
Es war für diese sympathische Familie ein wahrer Freudentag, vermutlich noch freudenvoller als der neunzigste Geburtstag des „Chronisten der deutschen Seele“, auch wenn die deutsche Seele in meiner Person im Stillen den Geburtstag des Schriftstellers mitfeierte. Erst gestern hatten Lena und ich Herrn H., einem Mann, der ebenfalls dieses Jahr 90 geworden wäre, bei einer Trauerfeier die letzte Ehre erweisen müssen. So nah liegen Geburt und Tod nebeneinander.
Martin Walser sagt, alle Menschen seien am 24. März 1927 in Wasserburg geboren.
Daran muss ich denken, als ich mit meinen Kursteilnehmern, die aus der ganzen Welt im kleinen Kirchberg zusammengefunden haben, in fröhlicher Runde am Tisch sitze.
Nach dem Kurs treffen wir Javad H., der sehr schick angezogen ist. Ich erfahre, dass er letztes Wochenende mit seiner Frau nach Balingen umgezogen ist und am 3. April bei Trigema in Burladingen mit der Arbeit beginnen wird.
Javad war in meinem ersten Sprachkurs und er hat immer die besten Fragen gestellt. Der Iraner spricht nun beinahe perfekt Deutsch. Die Stelle bei Trigema habe ich dem gelernten Modedesigner vorgeschlagen. Wir haben zusammen die Bewerbung verfasst und weggeschickt und ich war auch mit ihm und seiner Frau, einer selten schönen Iranerin, in Burladingen beim Vorstellungsgespräch. Auch Javad, der mit zwei persischen Freunden aus Balingen, Ali und Reza, heute kurz nach Kirchberg gekommen war, um die letzten Sachen abzuholen, strahlt wie ein Honigkuchenpferd, als wir uns vor dem Asylbewerberheim versammeln, um eine gemeinsame Zigarette – ganz unter Männern –  zu rauchen. Ich rauche eigentlich sonst nicht mehr, insbesondere jetzt in der Fastenzeit nicht. Aber heute war eine gute Gelegenheit, den Vormittag mit einer „Friedenspfeife“ zu besiegeln.


Zu Hause erwartete mich die neueste Ausgabe des „Karl-May-Magazins“, einer Zeitschrift, die ich vor sieben Jahren abonniert hatte, als ich einen der Redakteure kennenlernte. Damals sind wir spontan Freunde geworden. Heute feiert auch er Geburtstag. Als ich dann in der FAZ  die Sätze wieder las, die ich am Morgen im Radio gehört hatte, musste ich an ihn denken: „Er (Martin Walser) habe sich in seinem Leben nie geändert, sei aber mal hierhin, mal dorthin geschoben worden, von politisch links nach rechts“.

Diese Sätze gefallen mir. In diesem Sinne hatte ich heute meinem lieben Freund gratuliert: „Bleib so wie Du bist: das Original!“

Montag, 20. März 2017

"Tatort", Chuck Berry, Roland Emmerich und der gute Geschmack - Notizen zum vergangenen Wochenende

Gestern sah ich gegen meine sonstige Gewohnheit im Ersten den Tatort-Krimi mit dem Schleswig-holsteinischen Ermittler-Duo, „Borowski und das Darknet“, an, ein absolut geschmackloses Machwerk, das zu bester Sendezeit die Gemüter durch eine dicke Frau, die sich auszieht und zu dem Mörder ins Bett steigt, erregt. Heute prangt diese Szene auf dem Titelblatt der „Bildzeitung“ und alle Welt erfährt, wie diese „mutige“ Schauspielerin heißt.
Es gibt schon lange keine Grenzen des guten Geschmacks mehr.
Die Fernseh-Krimis der Tatort-Serie waren mit den Auftritten des Kommissars Schimanski (Götz George) in den Achtzigerjahren die ersten, die bewusst gegen die Geschmacks-Gewohnheiten des deutschen Spießers  verstießen.
Ein anderer Mann, der zum Niedergang des guten Geschmacks wesentlich beigetragen hat, wird heute in den Feuilletons der Tageszeitungen ausführlich gefeiert, nachdem er am Samstag mit 90 Jahren in der Nähe seines Geburtsortes bei der Stadt Saint Louis, Missouri gestorben ist: Chuck Berry. Er hat den Rockn’Roll nicht erfunden; das war Bill Haley. Aber er hat ihn populär gemacht. Sogar der Kultursender SWR2 spielte heute nach den Feuilleton-Pressestimmen kurz nach 7.30 Uhr den berühmtesten Song des Sängers und Gitarristen: „Johnny B. Goode“. Natürlich habe auch ich das Radio bei diesem Song auf volle Lautstärke gestellt. Ich hatte den Song in der Version von Grateful Dead zum ersten Mal gehört.
Mich wundert nur, dass sogar Bob Dylan diesen Mann, der abgesehen von den drei bekannten kaum eigene Lieder getextet und komponiert hat, als den „Songwriter des Rock‘n Rolls“ lobte. Auf die Urteile von Keith Richard und Paul McCartney gebe ich nicht viel. Letzterer verstieg sich sogar zu der Behauptung, Chuck Berry sei der „größte Dichter“ gewesen, den „Amerika hervorgebracht“ habe. Das halte ich für einen Werbegag.
Über den Rock’n Roll und seinen Feldzug gegen die klassische Musik („Roll over Beethoven“) und den damit verbundenen Verlust des guten Geschmacks könnte man viel schreiben.
Der amerikanische Soziologe Robert Bly hat es meiner Meinung nach auf den Punkt gebracht, als er seit den ersten Auftritten von Elvis Presley von der „Infantilisierung der Gesellschaft“[1] sprach. Es ist nicht nur eine „Infantilisierung“, sondern auch eine Desensibilisierung mit dieser „Musik“ verbunden, die nur mit Hilfe von elektrischen Tonträgern und einer gigantischen Musikindustrie künstlich aufgeblasen werden und die Jugend der ganzen Welt zudröhnen konnte. 
Diesen Verlust von Aufmerksamkeit erlebte ich am Samstagabend zum Beispiel bei dem Konzert meines Ex-Gesangvereins, bei dem ständig Kinder durch die Seitentür des Saals hinaus- und hereingingen und dabei jedes Mal die Türen schlugen.
Auch einige Erwachsene waren nicht in der Lage, die Tür leise zu schließen.
Wie sollen diese Kinder je die feinen Töne der Natur, der Musik und der Menschen wahrnehmen können, wenn ihre Sinne schon im jungen Alter abgestumpft werden, sei es durch das ständige Glotzen auf Handys und andere Bildschirme, sei es durch den sie den ganzen Tag umgebenden elektronischen Geräuschpegel?
Ich glaube, dass der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer leider Recht behalten wird, wenn er sagt, dass dadurch eine Generation heranwächst, die an einer ganz neuen Form der "Demenz" leiden wird, an der "Digitalen Demenz".
Ich frage mich, für wen das gut sein soll.
Jedenfalls nicht für die betroffenen Menschen, sondern lediglich für die wenigen, die sich damit eine goldene Nase verdienen, Leute wie zum Beispiel der Sindelfinger Hollywood-Regisseur und -Produzent Roland Emmerich, der mit seinen Blockbustern regelmäßig den guten Geschmack verletzt, und am Freitagabend für diese Leistung in der kleinen oberschwäbischen Stadt Laupheim mit einem weißen Lamm  aus Keramik ausgezeichnet wurde, mit dem von der Stadt neu gestifteten "Carl Laemmle-Preis".
Er will das weiße Lämmle "in die Küch" stellen, sagt er.
Das Schlimmste ist der grenzenlose Narzissmus, der sich überall breit macht. Die Menschen schauen nur noch nach dem eigenen Vorteil. Jeder, der eine Idee (und das Geld bzw. den Einfluss) hat, präsentiert diese und lockt das Publikum an. So hat zum Beispiel ein jüdischer Künstler (Erez Israeli) Bilder zum Märchen „Hänsel und Gretel“ gemalt und diese mit „Elementen des Holocaust“ versehen. Nun werden diese unappetitlichen Bilder in einer Salzburger Galerie ausgestellt.
Ich wundere mich immer wieder, wie solch eine Ausstellung überhaupt Zuschauer findet. Wer will so etwas sehen? Wer will übergewichtige nackte Frauen sehen? Wen interessiert, dass Herr Emmerich im Sommer seinen Lebensgefährten heiratet? Wer will überhaupt wissen, ob jemand lesbisch oder homosexuell ist? Das ist doch reine Privatsache. Warum gehen heute manche Promis damit „hausieren“ und fühlen sich dabei noch gut?
Aber wenn man sieht, wie tief der Geschmack des Publikums inzwischen gesunken ist, dann braucht einen nichts mehr zu wundern.

Ich beginne so langsam, Ekel zu empfinden, wenn ich fernsehe oder Filme anschaue, seitdem ich weiß, wer dahinter steckt. Am Montagabend zeigte Arte einen Film mit Alain Delon und anderen großen Stars des französischen Kinos: „Der Fall Serano“ (Mort d’un Pourri, zu Deutsch: "Tod eines Verrotteten") aus dem Jahre 1977 von  Georges Lautner. Ich habe nur die erste Viertelstunde angeschaut und dann abgeschaltet. 
Ich kann diesen falschen Schönling Alain Delon nicht mehr sehen. Er ekelt mich geradezu an. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich ihm böse, weil er „unsere“ schöne Sissi „verführt“ hat. Jedenfalls mag ich seine Ausstrahlung nicht. Für mich ist und bleibt er „der eiskalte Engel“ des französischen Films.



[1] „The sibling society“ (1996)

Freitag, 17. März 2017

Martin Walser zum Neunzigsten

Gestern (17.03.2017) sah ich auf 3-SAT-Kulturzeit ein schönes Gespräch mit Martin Walser, der am 24. März 2017 90 Jahre alt wird. Er ist wohl der erste Literat, dem „der Spiegel“ zu Lebzeiten ein ganzes Heft in seiner Reihe „Biografie“ widmet, das ich gestern gekauft habe. Es trägt den treffenden Titel „Martin Walser, 90 – Chronist der deutschen Seele“. 
In der Sendung sagte Martin Walser, der katholisch getauft ist, einige  schöne Sätze, wie zum Beispiel diese hier: Ich möchte „unfassbar sein, wie die Wolke die schwebt“ oder „Ich kann nichts dagegen tun, dass sich in mir andauernd Sätze bilden“ oder „Sprache bleibt unser unkommandierbarer Reichtum“ oder „Ich bin die Asche einer Glut, die ich nie war“ oder „Ich sage etwas so schön, wie es nicht ist: das ist mein Grundbekenntnis“ oder „Die Sprache ist kein Zufall und ich bin darauf angewiesen, dass es sie gibt“. Seine philosophischen Betrachtungen gipfeln in dem Satz: „Das hat die Literatur mit der Religion gemeinsam. Die Religion erklärt auch kein bisschen die Welt. Die Religion verklärt die Welt. Literatur verklärt die Welt auch.“ 
Da kommt Walser Aussagen von Novalis recht nahe, die ich schon immer geliebt habe. Am schönsten aber finde ich den Satz, den er in einem seiner Bücher – ich weiß noch nicht in welchem – geschrieben hat: „Der Liebe Gott ist ein Masseur mit Händen aus Musik“.
In dem Heft gibt es auch einen Aufsatz Martin Walsers aus dem Jahre 1995 (Spiegel 52) über Victor Klemperer (1881 - 1960), dessen Tagebücher ich mir daraufhin über Amazon bestelle, nachdem Walsers Text mein Interesse geweckt hat. Der Titel lautet „Wir werden Goethe retten“. Der Spiegel erläutert: „Walsers Hymne, eine gekürzte Fassung seiner Rede zur posthumen Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Klemperer, konzentriert sich auf die Beharrlichkeit, mit der dieser jüdische Autor an seiner deutschen Identität festhält.“ 
Victor Klemperer „führte seit seinem 16. Lebensjahr Tagebuch, das ihm später auch als Grundlage der Autobiographie „Curriculum Vitae“ (1989) diente“, lese ich in der Erläuterung des Walser-Textes im „Biografie-Heft“ (S 72). Walser meint, er kenne „keine Mitteilungsart, die uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur fassbarer machen kann, als es die Prosa Klemperers tut.“ 
Dieser Satz ist es, der mich zu der Entscheidung bringt, mir diese Tagebücher zu besorgen. Ich möchte einfach authentische Zeugnisse aus dieser Zeit kennenlernen, aus einer Zeit, die ich nicht selbst erlebt habe und die meinem Gefühl nach in den meisten Filmen aus bestimmten Gründen oft nur verzerrt dargestellt wird.
Mir fällt auf, dass ich mich mit Victor Klemperer in guter Gesellschaft befinde, denn ich schreibe seit meinem 14. Lebensjahr Tagebuch.

Mittwoch, 15. März 2017

Gedenken an eine "verdrängte Revolution"

Heute vor hundert Jahren dankte Zar Nikolaus II. in Sankt Petersburg ab, nachdem seit dem 8. März 1917 (nach dem alten julianischen Kalender, der damals noch in Russland galt, am 23. Februar 1917) Fabrikarbeiter streikten, weil es in der Stadt kein Brot mehr gab. Diese sogenannte Februar-Revolution mit der Parole „Brot und Frieden“ wird dieses Jahr in Russland, wie ich einem Artikel des Haller Tagblatts („Die verdrängte Revolution“ von Stefan Scholl) entnehme, nicht gefeiert. „Im Gegensatz zum Gedenken an den Weltkrieg spaltet die Revolution die Gesellschaft“, sagt ein Historiker (Boris Kolonizki). „Bei dem Thema ist es unmöglich, einen Konsens zu finden.“
Schon vor hundert Jahren wurde die russische Gesellschaft in zwei sich bekämpfende Gruppen gespalten, die „Menschewiki“ (Minderheitspartei) und die „Bolschewiki“ (Mehrheitspartei). Im Zeitungsartikel lese ich: 
„Am 13. März bildete die Staatsduma eine neue ‚Provisorische Regierung‘. Auf ihr Drängen verzichtete Zar Nikolaus II. am 15. März auf den Thron. Nun standen sich die bürgerlich-liberale ‚Provisorische Regierung‘ und proletarische Arbeiter- und Soldatenräte gegenüber. Eine wirre Doppelherrschaft begann, die erst mit dem Handstreich der Bolschewisten im November endete. Er ging als Oktoberrevolution in die Geschichte ein.“
In diesen Tagen wurde auch der ehemalige russische Premierminister Boris Stürmer (1948 – 1917) von der Provisorischen Regierung verhaftet und ins Gefängnis geworfen, wo er am 9. September 1917 starb. 
Dieser interessante Mann von deutscher Herkunft hatte enge freundschaftliche Kontakte zu Grigori Rasputin, dem Mönch, der dem Zarensohn Alexei, der an der Bluterkrankheit litt, helfen konnte und so Einfluss auf die Zarenfamilie gewann. Das gefiel wiederum einigen Adligen nicht, die den „Heiler“ deswegen am 16. Dezember 1916 ermorden ließen. Beide, Stürmer und Rasputin, wurden von gewissen Kreisen als deutsche Agenten verdächtigt, wofür es allerdings keine Beweise gab.
Das Jahr 1916, in dem Stürmer vom 2. Februar bis 23. November der 6. russische Premierminister war, war das Jahr, in dem sich vieles entschied. Das Deutsche Reich war im Ersten Weltkrieg trotz des Stellungskrieges an der Westfront siegreich geblieben und versuchte einen Waffenstillstand mit seinen östlichen und westlichen Gegnern, den „Entente-Mächten“ zu schließen.

Stürmer war bereit, auf das Angebot einzugehen. Aber die Opposition, die stark von französischen und britischen Kräften beeinflusst war, lehnte es ab. So dauerte der Krieg an und forderte weiter zahlreiche Opfer. 

Dienstag, 7. März 2017

Gedanken zur "Alternativ-Kultur der Sixties" - ein Gespräch mit Werner Schretzmeier

Gestern war ich zum ersten Mal im Haller „Haus der Bildung“. Es ist das ehemalige Gefängnis, das vor ca. fünf Jahren im Zusammenhang mit der Entstehung des „Kocherquartiers“ umgebaut wurde und heute die Musikschule und die Volkshochschule beherbergt. Es gibt einen Mittelbau, einen Süd- und einen Nordflügel. Im Programm der Volkshochschule, das Anfang des Jahres herausgekommen war, hatte ich gelesen, dass an diesem Montag, den 6. März, Werner Schretzmeier vom Stuttgarter Theaterhaus über „Alternativkultur zwischen ‚Sixties‘ und heute“ sprechen würde.
Sowohl das Thema, als auch der Mann interessierten mich
Nachdem ich Lena geholfen hatte, den Kohl, die Möhren, die Pastinaken und die Roten Beete für den Borsch, den sie kochen wollte (zum ersten Mal ohne Fleisch), kleinzuschneiden, fuhr ich kurz nach 19.15 Uhr in die Stadt, stellte mein Auto im Parkhaus unter dem Kocherquartier ab und suchte den Eingang zum „Haus der Bildung“. Diesen fand ich relativ schnell, aber den Vortragsraum im dritten Stock musste ich erst einmal ausfindig machen, indem ich mich durchfragte. Es war noch einiger Betrieb in dem Gebäude. Zahlreiche junge Menschen mit Musikinstrumenten kamen mir entgegen. Schließlich fand ich den gesuchten Raum unter dem Dach des Südbaus. Die grau gestrichenen Balken des Dachstuhls und eine indirekte Beleuchtung gaben dem Saal eine angenehme Atmosphäre.
Es waren nur ca. 20 Menschen zu dem Vortrag gekommen, darunter mindestens ein Pressevertreter, der durch sein Herumgehen und Fotografieren während des Vortrages eher störte.
Marcel Miara, der VHS-Geschäftsführer des Bereichs „Gesellschaft, Politik, Umwelt und Deutsch als Fremdsprache“, den ich schon von der Stadtführung mit Michael Klenk her kannte, erklärte, dass am gleichen Abend eine außerordentliche Gemeinderatssitzung stattfände, in der es um die Finanzierung des neuen „Globe Theaters“ geht. Er stellte zu Beginn der Vorträge, die er moderieren wollte, einen im Programm nicht angekündigten, zweiten Referenten vor, den wesentlich jüngeren Marc Calmbach, der sich als Bandmitglied der Indie-Rock-Gruppe „Monochrome“ und Direktor der Sozialabteilung des Berliner Sinus-Instituts mit der Jugendkultur der Gegenwart beschäftigt und darüber schon mehrere Studien veröffentlicht hat.
Werner Schretzmeier (73) begann und teilte seine Gedanken zu dem Begriff „alternativ“ mit, wobei er darauf hinwies, dass der Begriff einen Wandel durchgemacht habe, wobei er an die neue Partei „Alternative für Deutschland“ erinnerte. Was in den Sechzigerjahren begann, wurde erst später mit Begriffen wie „Alternativ-Kultur“, oder auch „Underground“ bezeichnet. Es waren Abgrenzungsversuche der Jungen gegen die Erwachsenen. 
Auf der einen Seite stand das „Establishment“, auf der anderen Seite die „Revoluzzer“. 
Eigentlich begann alles mit der Musik, die von Amerika und England nach Deutschland herüber kam und die viele Jugendliche im Gegensatz zu ihren Eltern ansprach, ja begeisterte. Es war ein ganz neues Lebensgefühl, das da in „meiner Generation“ entstand. Dieses war gleichzeitig verbunden mit einem kritischen Hinterfragen der Strukturen der existierenden Gesellschaft. Die Studenten in den Universitätsstädten suchten nach Alternativen zum kapitalistischen Gesellschaftssystem und orientierten sich dabei vorwiegend an den sozialistischen Experimenten in der Sowjetunion, in China oder in Kuba.
Werner Schretzmeier, der 1964 als Kabarettist in der Gruppe „Die Widerständler“ begonnen hatte, erzählt, wie er 1967, also vor jetzt genau 50 Jahren, zum ersten Mal den damals neu gegründeten „Club Alpha“ in Schwäbisch Hall besucht hat und daraufhin 1968 in Schorndorf einen ähnlichen Club, die „Manufaktur“ gegründet hat, indem er einfach die Haller Clubsatzung übernahm. Damals wollten Jugendliche aus vielen Kleinstädten, in denen es keine Universitäten und keine Studenten gab, ebensolche Kulturräume schaffen, in denen sie ihr Lebensgefühl ausleben konnten. 
Es war die Zeit der „Jugendzentren“. 
Auch in meiner Heimatstadt Ellwangen wollten wir solch ein Jugendzentrum realisieren und wir reisten als Redaktion der Schülerzeitung nach Stuttgart, wo uns Werner Schretzmeier, der für das Fernsehen des damaligen Süddeutschen Rundfunks (SDR) eine Sendung mit Namen „Jour Fix“ leitete, in dem Jugendliche ihre Anliegen vertreten konnten, freundlich empfing. Auch besuchten wir mehrmals die damals einzigartigen Clubs „Alpha“ und „Manufaktur“.
„Schretzi“, wie er damals liebevoll genannt wurde, war für uns ein Vorbild. Er holte interessante Bands in die Provinz und ließ sie für erschwingliche Preise aufspielen. Sechzehn Jahre lang war er Leiter des Clubs „Manufaktur“, bis er 1984 zusammen mit seiner Frau Gudrun  und seinem Freund Peter Grohmann das „Theaterhaus Stuttgart“ gründete. Auch dieses interessante „Alternativtheater“ lernte ich kennen, als meine damalige Kollegin Tanja Gold dort vor ein paar Jahren in der Rockoper „Der Fliegende Holländer“ nach Richard Wagner mitsang.
Werner Schretzmeier erzählte, wie er immer versucht hat, sowohl den Club als auch das Theaterhaus in Selbstverwaltung und ohne große Hierarchien zu führen. Die „antikapitalistischen“ Impulse der „Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ waren ihm als Ideal wichtig.
Leider unterbrach ihn da der "Moderator" in seinem Redefluss, um den zweiten, nicht angekündigten Referenten zu Wort kommen zu lassen, der dann anhand von Bildern erst einmal seine biographische Sozialisation durch Rap- und Punkmusik darstellte, beginnend mit einem Cover der amerikanischen Hip-Hop-Band „Public Ennemy“ aus dem Jahre 1988. Damals war Marc Calmbach 13 und beschloss, selbst Musiker zu werden. Er erzählt, wie aufwendig es allein war, das geeignete Outfit zu erwerben, das ihn von den anderen Jugendlichen absetzte, besonders aber, wie er versuchte, seine Frisur im Stil der Punk-Rocker zu stylen, um sich gegenüber der Elterngeneration abzugrenzen.
In seiner Jugendstudie aus dem Jahre 2016 zeigt er auf, dass Teenager der Gegenwart kaum noch Möglichkeiten der Abgrenzung hätten, weil zum Beispiel die Eltern die gleiche Musik liebten wie ihre Kinder. Er erzählt von seiner 15jährigen Nichte, die sich dagegen wehrte, dass ihre Mutter in ein Konzert der Band „Crow“ mitkam.
Für Calmbach war 1991 die Veröffentlichung des Albums „Smells like Teen Spirit“ der Band „Nirvana“ stilprägend. Er sagte aber auch, dass alle neuen, alternativen Impulse sofort vom Kapitalismus vereinnahmt und kommerzialisiert wurden. Das beobachteten wir schon in den 70er Jahren und wandten uns gegen diese Kommerzialisierung unserer Musik. Calmbach erläutert, wie aus den liberalen Impulsen der Alternativkultur der neoliberale Kapitalismus geboren wurde, der sich heute über die ganze Welt ausbreitet. Die allgegenwärtige Macht dieser Wirtschaftsform, die wir 68er eigentlich „brechen“ wollten, ist heute so weltumspannend (global), dass die Jugendlichen gar nicht mehr wagen, an Alternativen oder an Utopien zu glauben. Sie sehen, wie ich von meinem bald 17jähigen Stiefsohn fast täglich zu hören bekomme, die Zukunft eher düster.
Nach den beiden Vorträgen versucht der "Moderator" mit eher abstrakten Fragen eine Diskussion „auf hohem Niveau“ in Gang zu bringen, behindert aber meinem Empfinden nach die Spontaneität der Redner eher damit und würgt das Lebendige, das durch sie entstanden war, wieder ab.
Weil ich versuche, im „Strom“ der angeschnittenen Gedanken zu bleiben, unterbreche ich die „künstliche“ Diskussion und frage, ob ich eine Frage stellen dürfe. Herr Miara „erlaubt“ es mir, obwohl er noch nicht fertig war und noch ein paar vorgefertigte Fragen (die keinen interessierten) auf seinen Kärtchen stehen hatte.
Ich wollte wissen, an welche alternativen Ideen Werner Schretzmeier mit seiner Initiative anknüpfte und nannte dabei den Namen „Rudi Dutschke“, der, wie wir von Werner Schretzmeier erfuhren, offenbar auch einmal den Haller Club „Alpha“ besucht hatte. Ich wollte, dass man in der Runde genauer herausarbeitete, welche tieferen Impulse hinter dieser Alternativkultur der „Sixties“ wirkten. Dabei war mir bewusst, dass sich die meisten damaligen Jugendlichen eher irgendwelchen Ideologien verschlossen, und stattdessen  vor allem ihr freiheitliches, neues „Lebensgefühl“ ausleben wollten, das bei manchem nur im “Saufen“, „Kiffen“ und „Vögeln“ bestand.
Das war mir immer zu wenig.
Als Herr Miara die „Diskussionsrunde" endlich eröffnet, melden sich nur zwei Personen aus dem Publikum. Darunter war ich. Die Frage, die ich versuchte, aus persönlichem Erleben zu stellen, drehte sich wieder um das Geld. Ich schilderte, wie ich mein Leben lang nach Alternativen zum „kapitalistischen Gesellschaftssystem“ gesucht hatte und dabei die Waldorfschule entdeckt hatte, wo ich 21 Jahre lang Lehrer war. Ich stellte fest, dass ich aber auch bei dieser Alternative an System-Grenzen kam. 
Dabei ist es mir nie darum gegangen, viel Geld zu verdienen. 
Aus diesem Grunde habe ich von Anfang an abgelehnt, Beamter zu werden, wodurch ich indirekt unser Gesellschaftssystem anerkannt und dadurch von ihm auch noch profitiert hätte. Ich arbeitete, weil ich mich für mein Ideal einsetzen wollte. 
Ich war und bin Idealist. 
Und ich weiß, dass ich nicht allein war. Viele Freunde meiner Generation dachten ähnlich wie ich, vielleicht nicht immer so konsequent. 
Die meisten aber machten aber wohl mit beim „langen Marsch durch die Institutionen“ und gehörten schließlich selbst zum Establishment. Diese „Links-Liberalen“ werden heute ebenso wie die „Grünen“ mit Recht kritisiert, weil sie ihre Ideale im Grunde verraten haben.
Die Folge unseres Idealismus ist, dass wir jetzt im Rentenalter in die Altersarmut abrutschen. Das bestätigt mir Werner Schretzmeier, der viele Beispiele von Künstlern und Kulturschaffenden kennt, die einst ihr „Herzblut“ gegeben haben und heute ihre Miete nicht mehr bezahlen können.

Ärgerlich fand ich, dass mich der „Moderator“ in meinen Ausführungen unterbrach und mich schroff aufforderte, „hier nicht mein Leben auszubreiten“. 
Ich hatte das Gefühl, dass er gar nicht verstanden hatte, worum es mir ging. 
Nicht abstrakte Fragen wollte ich stellen, sondern ein authentisches Beispiel geben, das nicht nur mich, sondern im Grunde die meisten aus meiner Generation, die es ehrlich mit ihren alternativen Impulsen meinten, betrifft, was dann von Werner Schretzmeier, der meine Frage verstanden hatte, bestätigt wurde.