Gestern war ich zum ersten Mal im
Haller „Haus der Bildung“. Es ist das ehemalige Gefängnis, das vor ca. fünf
Jahren im Zusammenhang mit der Entstehung des „Kocherquartiers“ umgebaut wurde
und heute die Musikschule und die Volkshochschule beherbergt. Es gibt einen
Mittelbau, einen Süd- und einen Nordflügel. Im Programm der Volkshochschule,
das Anfang des Jahres herausgekommen war, hatte ich gelesen, dass an diesem
Montag, den 6. März, Werner Schretzmeier vom Stuttgarter Theaterhaus über „Alternativkultur
zwischen ‚Sixties‘ und heute“ sprechen würde.
Sowohl das Thema, als auch der
Mann interessierten mich
Nachdem ich Lena geholfen hatte,
den Kohl, die Möhren, die Pastinaken und die Roten Beete für den Borsch, den
sie kochen wollte (zum ersten Mal ohne Fleisch), kleinzuschneiden, fuhr ich
kurz nach 19.15 Uhr in die Stadt, stellte mein Auto im Parkhaus unter dem
Kocherquartier ab und suchte den Eingang zum „Haus der Bildung“. Diesen fand
ich relativ schnell, aber den Vortragsraum im dritten Stock musste ich erst
einmal ausfindig machen, indem ich mich durchfragte. Es war noch einiger
Betrieb in dem Gebäude. Zahlreiche junge Menschen mit Musikinstrumenten kamen
mir entgegen. Schließlich fand ich den gesuchten Raum unter dem Dach des Südbaus.
Die grau gestrichenen Balken des Dachstuhls und eine indirekte Beleuchtung
gaben dem Saal eine angenehme Atmosphäre.
Es waren nur ca. 20 Menschen zu
dem Vortrag gekommen, darunter mindestens ein Pressevertreter, der durch sein
Herumgehen und Fotografieren während des Vortrages eher störte.
Marcel Miara, der VHS-Geschäftsführer
des Bereichs „Gesellschaft, Politik, Umwelt und Deutsch als Fremdsprache“, den
ich schon von der Stadtführung mit Michael Klenk her kannte, erklärte, dass am
gleichen Abend eine außerordentliche Gemeinderatssitzung stattfände, in der es
um die Finanzierung des neuen „Globe Theaters“ geht. Er stellte zu Beginn der
Vorträge, die er moderieren wollte, einen im Programm nicht angekündigten,
zweiten Referenten vor, den wesentlich jüngeren Marc Calmbach, der sich als
Bandmitglied der Indie-Rock-Gruppe „Monochrome“ und Direktor der
Sozialabteilung des Berliner Sinus-Instituts mit der Jugendkultur der Gegenwart
beschäftigt und darüber schon mehrere Studien veröffentlicht hat.
Werner Schretzmeier (73) begann
und teilte seine Gedanken zu dem Begriff „alternativ“ mit, wobei er darauf
hinwies, dass der Begriff einen Wandel durchgemacht habe, wobei er an die neue
Partei „Alternative für Deutschland“ erinnerte. Was in den Sechzigerjahren
begann, wurde erst später mit Begriffen wie „Alternativ-Kultur“, oder auch „Underground“
bezeichnet. Es waren Abgrenzungsversuche der Jungen gegen die Erwachsenen.
Auf
der einen Seite stand das „Establishment“, auf der anderen Seite die „Revoluzzer“.
Eigentlich begann alles mit der Musik, die von Amerika und England nach
Deutschland herüber kam und die viele Jugendliche im Gegensatz zu ihren Eltern
ansprach, ja begeisterte. Es war ein ganz neues Lebensgefühl, das da in „meiner
Generation“ entstand. Dieses war gleichzeitig verbunden mit einem kritischen
Hinterfragen der Strukturen der existierenden Gesellschaft. Die Studenten in
den Universitätsstädten suchten nach Alternativen zum kapitalistischen
Gesellschaftssystem und orientierten sich dabei vorwiegend an den sozialistischen
Experimenten in der Sowjetunion, in China oder in Kuba.
Werner Schretzmeier, der 1964 als
Kabarettist in der Gruppe „Die Widerständler“ begonnen hatte, erzählt, wie er 1967,
also vor jetzt genau 50 Jahren, zum ersten Mal den damals neu gegründeten „Club
Alpha“ in Schwäbisch Hall besucht hat und daraufhin 1968 in Schorndorf einen
ähnlichen Club, die „Manufaktur“ gegründet hat, indem er einfach die Haller
Clubsatzung übernahm. Damals wollten Jugendliche aus vielen Kleinstädten, in
denen es keine Universitäten und keine Studenten gab, ebensolche Kulturräume
schaffen, in denen sie ihr Lebensgefühl ausleben konnten.
Es war die Zeit der „Jugendzentren“.
Auch in meiner Heimatstadt Ellwangen wollten wir solch ein Jugendzentrum
realisieren und wir reisten als Redaktion der Schülerzeitung nach Stuttgart, wo uns Werner Schretzmeier, der für das Fernsehen des damaligen Süddeutschen Rundfunks
(SDR) eine Sendung mit Namen „Jour Fix“ leitete, in dem Jugendliche ihre
Anliegen vertreten konnten, freundlich empfing. Auch besuchten wir mehrmals
die damals einzigartigen Clubs „Alpha“ und „Manufaktur“.
„Schretzi“, wie er damals
liebevoll genannt wurde, war für uns ein Vorbild. Er holte interessante Bands
in die Provinz und ließ sie für erschwingliche Preise aufspielen. Sechzehn
Jahre lang war er Leiter des Clubs „Manufaktur“, bis er 1984 zusammen mit
seiner Frau Gudrun und seinem Freund
Peter Grohmann das „Theaterhaus Stuttgart“ gründete. Auch dieses interessante „Alternativtheater“
lernte ich kennen, als meine damalige Kollegin Tanja Gold dort vor ein paar Jahren in der Rockoper „Der
Fliegende Holländer“ nach Richard Wagner mitsang.
Werner Schretzmeier erzählte, wie
er immer versucht hat, sowohl den Club als auch das Theaterhaus in
Selbstverwaltung und ohne große Hierarchien zu führen. Die „antikapitalistischen“
Impulse der „Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ waren ihm als Ideal wichtig.
Leider unterbrach ihn da der "Moderator" in seinem Redefluss, um den zweiten, nicht angekündigten Referenten
zu Wort kommen zu lassen, der dann anhand von Bildern erst einmal seine
biographische Sozialisation durch Rap- und Punkmusik darstellte, beginnend mit
einem Cover der amerikanischen Hip-Hop-Band „Public Ennemy“ aus dem Jahre 1988.
Damals war Marc Calmbach 13 und beschloss, selbst Musiker zu werden. Er
erzählt, wie aufwendig es allein war, das geeignete Outfit zu erwerben, das ihn
von den anderen Jugendlichen absetzte, besonders aber, wie er versuchte, seine
Frisur im Stil der Punk-Rocker zu stylen, um sich gegenüber der
Elterngeneration abzugrenzen.
In seiner Jugendstudie aus dem
Jahre 2016 zeigt er auf, dass Teenager der Gegenwart kaum noch Möglichkeiten
der Abgrenzung hätten, weil zum Beispiel die Eltern die gleiche Musik liebten
wie ihre Kinder. Er erzählt von seiner 15jährigen Nichte, die sich dagegen
wehrte, dass ihre Mutter in ein Konzert der Band „Crow“ mitkam.
Für Calmbach war 1991 die
Veröffentlichung des Albums „Smells like Teen Spirit“ der Band „Nirvana“
stilprägend. Er sagte aber auch, dass alle neuen, alternativen Impulse sofort
vom Kapitalismus vereinnahmt und kommerzialisiert wurden. Das beobachteten wir
schon in den 70er Jahren und wandten uns gegen diese Kommerzialisierung unserer
Musik. Calmbach erläutert, wie aus den liberalen Impulsen der Alternativkultur
der neoliberale Kapitalismus geboren wurde, der sich heute über die ganze Welt
ausbreitet. Die allgegenwärtige Macht dieser Wirtschaftsform, die wir 68er
eigentlich „brechen“ wollten, ist heute so weltumspannend (global), dass die
Jugendlichen gar nicht mehr wagen, an Alternativen oder an Utopien zu glauben. Sie sehen, wie
ich von meinem bald 17jähigen Stiefsohn fast täglich zu hören bekomme, die
Zukunft eher düster.
Nach den beiden Vorträgen
versucht der "Moderator" mit eher abstrakten Fragen eine Diskussion „auf hohem
Niveau“ in Gang zu bringen, behindert aber meinem Empfinden nach die
Spontaneität der Redner eher damit und würgt das Lebendige, das durch sie entstanden
war, wieder ab.
Weil ich versuche, im „Strom“ der
angeschnittenen Gedanken zu bleiben, unterbreche ich die „künstliche“
Diskussion und frage, ob ich eine Frage stellen dürfe. Herr Miara „erlaubt“ es
mir, obwohl er noch nicht fertig war und noch ein paar vorgefertigte Fragen
(die keinen interessierten) auf seinen Kärtchen stehen hatte.
Ich wollte wissen, an welche
alternativen Ideen Werner Schretzmeier mit seiner Initiative anknüpfte und nannte dabei den Namen „Rudi Dutschke“, der, wie wir von Werner Schretzmeier erfuhren,
offenbar auch einmal den Haller Club „Alpha“ besucht hatte. Ich wollte, dass
man in der Runde genauer herausarbeitete, welche tieferen Impulse hinter dieser
Alternativkultur der „Sixties“ wirkten. Dabei war mir bewusst, dass sich die meisten
damaligen Jugendlichen eher irgendwelchen Ideologien verschlossen, und
stattdessen vor allem ihr freiheitliches,
neues „Lebensgefühl“ ausleben wollten, das bei manchem nur im “Saufen“, „Kiffen“
und „Vögeln“ bestand.
Das war mir immer zu wenig.
Als Herr Miara die „Diskussionsrunde" endlich eröffnet, melden sich nur zwei Personen aus dem Publikum. Darunter war
ich. Die Frage, die ich versuchte, aus persönlichem Erleben zu stellen, drehte
sich wieder um das Geld. Ich schilderte, wie ich mein Leben lang nach
Alternativen zum „kapitalistischen Gesellschaftssystem“ gesucht hatte und dabei
die Waldorfschule entdeckt hatte, wo ich 21 Jahre lang Lehrer war. Ich stellte
fest, dass ich aber auch bei dieser Alternative an System-Grenzen kam.
Dabei ist es
mir nie darum gegangen, viel Geld zu verdienen.
Aus diesem Grunde habe ich von Anfang an abgelehnt, Beamter zu werden, wodurch ich indirekt unser Gesellschaftssystem
anerkannt und dadurch von ihm auch noch profitiert hätte. Ich arbeitete, weil
ich mich für mein Ideal einsetzen wollte.
Ich war und bin Idealist.
Und ich
weiß, dass ich nicht allein war. Viele Freunde meiner Generation dachten
ähnlich wie ich, vielleicht nicht immer so konsequent.
Die meisten aber machten aber wohl mit beim „langen Marsch durch die Institutionen“ und gehörten schließlich
selbst zum Establishment. Diese „Links-Liberalen“ werden heute ebenso wie die „Grünen“
mit Recht kritisiert, weil sie ihre Ideale im Grunde verraten haben.
Die Folge unseres Idealismus ist,
dass wir jetzt im Rentenalter in die Altersarmut abrutschen. Das bestätigt mir Werner
Schretzmeier, der viele Beispiele von Künstlern und Kulturschaffenden kennt,
die einst ihr „Herzblut“ gegeben haben und heute ihre Miete nicht mehr bezahlen
können.
Ärgerlich fand ich, dass mich der
„Moderator“ in meinen Ausführungen unterbrach und mich schroff aufforderte, „hier
nicht mein Leben auszubreiten“.
Ich hatte das Gefühl, dass er gar nicht
verstanden hatte, worum es mir ging.
Nicht abstrakte Fragen wollte ich stellen,
sondern ein authentisches Beispiel geben, das nicht nur mich, sondern im Grunde
die meisten aus meiner Generation, die es ehrlich mit ihren alternativen
Impulsen meinten, betrifft, was dann von Werner Schretzmeier, der meine Frage
verstanden hatte, bestätigt wurde.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen