Ich leide im Grunde immerzu an
Deutschland. Ich habe das Gefühl, dass das Beste, was Deutschland ausmacht,
ständig verkannt oder nicht erkannt wird. Eine Ausnahme waren meine
französischen Freunde Claude und Francis am vergangenen Sonntagnachmittag.
Immer noch beschäftigt mich das Gespräch, das für mich der Höhepunkt der Reise
war.
Genauso wie Deutschland verkannt
wird, so wird auch Russland verkannt.
Wieder einmal wird mir klar, dass
ohne die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ein tieferes Eindringen in die
wahre Völkerpsychologie und die geistige Mission Deutschlands und Russlands (und
natürlich auch Englands und Amerikas) gar nicht möglich ist.
Wenn unsere Historiker und
Politiker jetzt wieder an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vor genau 80
Jahren erinnern und dabei nur die böse Seite Deutschlands herausstellen, dann
tut mir das tief in der Seele weh. Natürlich gab es furchtbare Verbrechen, die
von deutscher Seite damals begangen wurden. Natürlich hatte ein böser Geist die
Politiker des Dritten Reiches ergriffen. Aber dieser Geist hat nie und nimmer
etwas mit dem „Heiligen Deutschland“ zu tun, von dem ich spreche.
Aber wo lebt dieses Heilige
Deutschland noch, das durch Geister wie Friedrich Schiller und Johann Wolfgang
Goethe repräsentiert wird?
Gestern wurde genau in der Zeit,
in der ich von Schwäbisch Hall nach Rechenberg fuhr, um das Grab meiner Mutter zu
gießen und anschließend meinem Sohn beim Aufräumen der Garage zu helfen, eine
SWR2-Wissen-Sendung vom 22. Juni 2017 wiederholt, die sich mit dem „Bildungsideal
Wilhelm von Humboldt“ (1767 – 1835) beschäftigte[1]. Da war ich wieder ganz
bei meinem Thema. Hier erkannte ich eine verwandte Seele, die mir mit jedem
Wort aus dem Herzen sprach. Als ich dann auch noch erfuhr, dass der ältere Bruder
von Alexander von Humboldt am gleichen Tag wie meine Enkeltochter Anneliese,
die den Namen meiner Mutter trägt, geboren wurde, also am 22. Juni, dann war
ich wieder ganz wach, obwohl meine Gedanken noch an der Trilogie hingen, die
ich in den vergangenen Tagen auf meinem Weblog veröffentlicht hatte. Den
dritten Text hatte ich noch am Morgen verfasst und noch vor der Abfahrt ins
Netz gestellt: „Sapere Aude – Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen!“[2]
In der Sendung hörte ich so
schöne Sätze, die Wilhelm von Humboldt aufgeschrieben hat, wie:
„Der wahre Zweck des Menschen...
ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.
Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein
außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas
anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der
Situationen.“
Hier finde ich wieder den wahren Geist
der Aufklärung, dem ich bereits in Langres im „Maison des Lumieres“ begegnet
war und ich stoße auf einen Franzosen, der lange Zeit mit Denis Diderot eng
befreundet war, auf Jean Jacques Rousseau. Die Humboldts hatten einen ganz
besonderen Hauslehrer, den ersten Jugendbuchautor und Philanthropen Johann
Heinrich Campe. Sein Buch „Robinson, der Jüngere“ war eine jugendgerechte
Bearbeitung des Romans des englischen Schriftstellers Daniel Dafoe. In dem
SWR2-Beitrag heißt es:
„Philanthropen oder ‚Menschenfreunde‘
nannten sich die Anhänger einer pädagogischen Reformbewegung, inspiriert vom
französischen Philosophen Jean Jaques Rousseau und seinem Erziehungsroman ‚Emile‘.
Man wollte vor allem die Lernfreude der Kinder wecken. Kindgerecht sollte die
Erziehung sein, naturnah und freundschaftlich statt autoritär. Das richtet sich
gegen die hergebrachte Strafpädagogik, aber auch gegen den erbarmungslosen
Drill vieler Kinder zu kleinen Erwachsenen, der je nach gesellschaftlichem
Stand auf einer Ritterakademie oder Offiziersschule stattfand, in einer
Buchbinderwerkstatt oder Kirchensakristei, auf dem bäuerlichen Feld oder in der
Webstube.“
Professor Jürgen Overhoff von der
Universität Münster erläutert:
„Das Neue und Interessante an
Campes Pädagogik ist, dass er versucht hat, ein Gespräch zuzulassen zwischen
Lehrern und Schülern. Dass er die Schüler animiert hat, auch dumme Fragen,
naive Fragen zu stellen, die er nicht zurückgewiesen hat, aber sie sollten mit
dem Lehrer in ein Gespräch kommen, von sich aus mit ihren Fragen sich Stück für
Stück der Beantwortung eines Problems nähern, um die Welt eigenständig
begreifen zu lernen.“
Hier werden genau die Methoden
oder Prinzipien ausgesprochen, die mich auch bei meinem Unterricht immer
geleitet haben: erstens, man sollte Schüler nicht mit Antworten auf Fragen,
die sie gar nicht (gestellt) haben, belästigen und zweitens: Es gibt keine
dummen Fragen – nur dumme Antworten.
Leider widerspricht unser
Schulsystem diesen beiden Grundsätzen bis heute – trotz Humboldt.
Ich hatte am Mittwochnachmittag
eine Unterredung mit meinem Chef in Kirchberg. Wir waren uns in
allen Punkten einig und ich fühlte mich verstanden. Der Unterricht im
Intensivkurs ging auch ohne mich voran und wird heute mit dem B-1-Deutsch-Test
für Zuwanderer (DTZ) beendet. Noch einmal standen uns die ungefähr 30 jungen
Menschen vor Augen, die ich alle noch einmal nach ihren Leistungen zu Beginn
des Kurses nach einem 15-Punkte-System zu beurteilen hatte. Ich war am 15. August ausgefallen, weil ich vollkommen erschöpft war.
Am Mittwochabend hatte ich
spontan die Idee, Olga und ihren Sohn Mischa zum großen "Indianertreffen" auf dem Hasenbühl
mitzunehmen, das dort wie jedes Jahr stattfindet. Natürlich sind es keine
richtigen Indianer, sondern Weiße, die sich in Clubs vereinigen, um die
indianische Kultur zu studieren und zum Teil zu praktizieren, ganz ähnlich wie
der Ellwanger Indianerklub „Oglala“, in dem ich als Junge selbst einmal war. Mischa,
der leider oft den ganzen Tag in der Wohnung verbringt und viele Stunden nur mit
seinem Tablet beschäftigt ist, war ganz froh. Er bekam einen Holzbogen, eine
Panflöte und eine Trommel geschenkt. Besonders der Bogen interessierte ihn und
der knapp Fünfjährige entwickelte erstaunlich schnell die
Fingergeschicklichkeit, den Pfeil einzulegen, den Eschenbogen zu spannen und
den Pfeil immer weiter zu schießen.
Ich habe bei dieser Gelegenheit
den Pädagogen in mir aktiviert, der eigentlich immer in meiner Seele anwesend
ist.
In einer anderen Ecke meiner
Seele lebt der Historiker. So habe ich gestern tatsächlich begonnen, Renate
Riemecks Büchlein „Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts“ zu lesen. Ich
hatte es schon mehrmals begonnen, aber wohl nie ganz zu Ende gelesen.
Wieder stand mir bei der Lektüre
die ganze Tragik meines geliebten Heimatlandes vor Augen, insbesondere, als ich
die Passagen im 3. Kapitel („Bismarck – Größe und Verhängnis Deutschlands?“)
las. Ich erinnerte mich dabei an den Geschichtsunterricht, den ich im Herbst
1986 in der 12. Klasse der Ecole Rudolf Steiner in Verrieres geben durfte, der
mir recht gut gelungen war, was auch daran lag, dass ich eine sehr interessierte
Klasse hatte. Damals zeigte ich meinen Schülern zwei Fotos: dasjenige des Prinzen von Baden, Kaspar
Hausers und das Foto des jungen preußischen Junkers Otto von Bismarck. Die Schüler waren erstaunt
über die Ähnlichkeit, aber auch über die Unterschiedlichkeit der beiden
Individualitäten, die ich in den Mittelpunkt meines Unterrichtes stellte. Von
diesen beiden Menschen gingen zwei geistige Strömungen aus, die über Wohl und
Wehe Deutschlands entscheiden sollten. Da lese ich zum Beispiel bei Renate
Riemeck den Eintrag, den der preußische Kronprinz und spätere Kaiser Friedrich
III. am 31. Dezember 1870 während des Feldzuges gegen Frankreich in sein
Tagebuch geschrieben hat:
„Zur Stunde will es scheinen, als
seien wir weder geliebt noch geachtet, sondern lediglich gefürchtet. Man hält
uns jeder Schlechtigkeit für fähig, und das Misstrauen gegen uns steigert sich
mehr und mehr. Das ist nicht die Frage dieses Krieges allein – so weit hat uns
die von Bismarck erfundene und seit Jahren in Szene gesetzte Theorie von ‚Blut
und Eisen‘ gebracht! Was nützt uns alle Macht, aller kriegerischer Ruhm und
Glanz, wenn Hass und Misstrauen uns überall begegnen, wenn man jeden Schritt
uns argwöhnisch missgönnt, den wir in unserer Entwicklung vorwärts tun? Bismarck
hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde, die
Sympathien der Welt und – unser gutes Gewissen.
Ich beharre noch heute fest bei
der Einsicht, dass Deutschland ohne Blut und Eisen, allein mit seinem guten
Recht, moralische Eroberungen machen und einig, frei und mächtig werden könne. Dann
erlangte es ein ganz anderes Übergewicht als lediglich durch die Gewalt der Waffen,
weil deutsche Kultur, deutsche Wissenschaft, deutsches Gemüt uns Achtung, Liebe
– und Ehre eintragen. Der kühne gewalttätige Junker hat es anders gewollt. (…)
Unsere Zukunft bleibt die schöne, aber unendlich schwere Aufgabe, das teure
Vaterland von dem falschen Verdacht zu befreien, mit dem die Welt es heute
betrachtet. Wir müssen zeigen, dass die gewonnene Macht nicht Gefahren erzeugt,
sondern Segen spenden soll, den Segen des Friedens und der Kultur. Aber wie
schwierig wird es sein, die blinde Anbetung der rohen Gewalt und des äußeren Erfolgs
zu bekämpfen, die Gemüter aufzuklären, Ehrgeiz und Wetteifer wieder auf schöne
und gesunde Ziele zu lenken.“ (Riemeck, Fischer Taschenbuch, 1983, S. 36)
Gott sei Dank haben die meisten
Deutschen durch die bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege die „Anbetung der
rohen Gewalt“ inzwischen „eingestellt“. Aber wie steht es mit der „Anbetung des
äußeren Erfolges“?
Deutschland ist nach der
Wiedervereinigung vor 30 Jahren die stärkste Wirtschaftsmacht Europas geworden
und steht nach Amerika an zweiter Stelle
in der Welt. Selbst US-Präsident Trump kann sich seiner Bewunderung für die
deutsche Wirtschaftskraft nicht ganz entziehen und betonte am Sonntagnachmittag
im Gespräch mit der Bundeskanzlerin beim G-7-Gipfel in Biarritz, dass auch er „deutsches
Blut in seinen Adern“ habe. Er versprach, Deutschland den bisher vermiedenen Staatsbesuch abzustatten.
Deutschland könnte im Verein der
Völker heute wieder eine wichtige Rolle spielen, wenn es auch seine geistige
Kultur wieder zum Leuchten brächte.
Renate Riemeck schreibt:
„Bismarck hat Goethe einmal eine ‚Schneiderseele‘
genannt, und deutlicher als vieles andere kann diese Äußerung den großen
Abstand gewahr werden lassen, der den Gründer des deutschen Einheitsstaates von den Werten des deutschen Geisteslebens trennte. Es mag deshalb die Frage
gestattet sein, ob sich in die allgemeine Ablehnung der ‚bismarckdeutschen‘ Ära
nicht auch die verborgene Enttäuschung der anderen Völker über die Entwicklung
Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemischt hat.
Jedenfalls sollte es uns zu denken geben, dass Jurii Samarin, einer der großen
Repräsentanten der russischen ‚Slawophilen‘, kurz vor seinem Tode (1876) die
erschütternde Bemerkung machte, Deutschland sei in seiner Jugend eine Hoffnung
für jeden gebildeten Russen gewesen, ‚an der man lange gesogen hat‘, umso
größer aber sei jetzt sein Schmerz, dass dieses Deutschland unter dem Einfluss nationalistischer
und positivistischer Gedanken aus dem Westen zu ‚verschwinden‘ beginnt.“
(a.a.O. S 43)
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