Lukas Cranach, d.Ä.: die heiligen Christina und Odilie (1506)
Das Thema Reinkarnation drängt
sich mir immer wieder auf.
Geradezu schlafwandlerisch hat
mich mein Weg am Samstagvormittag in der Stuttgarter Buchhandlung „Engel“ zu
dem Buch „Odilia – Der Christus-Impuls in Europa“ von Gerrit Alfred Kon (Verlag für Anthroposophie, 2018) geführt.
Eben habe ich den
„wissenschaftlichen Teil“ des Buches ausgelesen und nun habe ich ein klares
Bild von jener Individualität, die im 7. Jahrhundert als heilige Odilie lebte.
Ich war ja einst mit D. von
Colmar aus auf dem Odilienberg im Elsass. Wir haben dort sogar in der Natur
übernachtet und anschließend den Sonnenaufgang über der Rheinebene bewundert,
bevor wir durch einen Wald zurückgewandert sind. Schon zuvor fühlte ich mich
mit Odilie verbunden. Nun begegnete sie mir wieder auf dem Weg zu D., die
mir an diesem Samstag die Augen öffnete – die Augen über mich selbst.
Gerrit Alfred Kon arbeitet für
mich überzeugend heraus, dass Odilie in einem vorchristlichen Leben die
„gewaltgeborene“ Tochter Iphigenie des griechischen Königs Agamemnon aus Mykene
war. Dieses jungfräuliche Mädchen sollte auf Aulis geopfert werden, um für die
Griechen, die nach Troja übersetzen wollten, günstige Winde zu „beschwören“.
Sie wurde jedoch von der Göttin Artemis auf die Insel Tauris „entrückt“, wo sie
als Priesterin in ihrem Dienst wirkte. Euripides hat zwei Tragödien über diese
Jungfrau verfasst, die noch heute erhalten sind: „Iphigenie auf Aulis“ und
„Iphigenie auf Tauris“.
Die Insel Tauris wird heute mit
der Halbinsel Krim identifiziert.
Johann Wolfgang Goethe hat in
seiner Studentenzeit von Straßburg aus den Odilienberg besucht und starke
Eindrücke empfangen. Nicht nur die Figur der Ottilie in seinen
„Wahlverwandtschaften“, mit der ich mich in meiner Staatsexamensarbeit
ausführlich auseinandergesetzt habe, geht auf dieses Erlebnis zurück, sondern
nach einer Bemerkung Gerard Klockenbrings wohl auch die Gestalt der Iphigenie,
der Goethe sein am meisten vollendetes klassisches Drama gewidmet hat. Wir
haben es auf dem Gymnasium noch gelesen, ja geradezu studiert. Heute kennt es
kaum noch ein Gymnasiast. Die Zeiten haben sich total geändert. In dem Drama
spielt der Bruder der Iphigenie eine wichtige Rolle, Orest. Iphigenie soll ihn
nach dem Willen des Königs Thoas opfern. Aber sie stellt fest, dass es ihr
eigener Bruder ist. Sie widersetzt sich dem König und weigert sich, den Bruder
zu töten. Bei Goethe berührt sie das Herz des Barbarenkönigs, der dadurch zu
einer neuen Humanität findet und sie kann gleichzeitig den Tantalidenfluch
brechen, der sich von Generation zu Generation in ihrer Familie fortgepflanzt hatte.
Iphigenie kommt später wieder als
Odilie. Auch diese Tochter soll von dem Vater getötet werden wie einst
Iphigenie durch Agamemnon. Durch ein Wunder wird sie gerettet und nach Baumes
les Dames „entrückt“, wo sie der Regensburger Bischof Erhard aufsuchte, der
sich durch eine Eingebung auf den langen Weg machte, um Odilie zu taufen. Dabei
wurde das blind geborene Mädchen sehend. Schließlich kann Odilie durch die
Hilfe ihres jüngeren Bruders ins Elsass zu ihrer Familie zurückkehren. Der
Vater aber erschlägt den Bruder, als sie vor ihm erscheint, weil er immer noch
böse ist. Später stirbt der Vater, aber Odilie betet für ihn und kann ihn so
aus dem Fegefeuer erlösen, genau wie ihren getöteten Bruder, der sie wohl von
da an aus der geistigen Welt heraus begleitet.
Aus Andeutungen Rudolf Steiners
gegenüber der Witwe des Generalstabchefs Helmuth von Moltke kann man entnehmen,
dass Odilie im 9. Jahrhundert als Beraterin des Papstes Nikolaus I.
wiedergekommen ist. Damals hörte sie auf den Namen Anastasius Bibliothekarius.
Auch diese historische Persönlichkeit ist mir seit langem bekannt, seitdem ich
mich mit dem achten ökumenischen Konzil von Konstantinopel, wo laut Rudolf
Steiner „der Geist abgeschafft“ wurde, beschäftige. Papst Nikolaus kam als
Helmuth von Moltke wieder und Anastasius als seine Frau Eliza, die als erste zu
Rudolf Steiner gefunden hatte. Neu aber war für mich bis heute, dass demnach in
Eliza von Moltke die Individualität der Odilie gelebt hat, also unmittelbar im
Umkreis von Rudolf Steiner, der von ihrem verstorbenen Mann Post-Mortem-Mitteilungen
empfangen hat, die er ihr schriftlich übergab und die heute durch Thomas Meyer
veröffentlicht sind.
Helmuth von Moltke spielte eine
tragische Rolle zu Beginn des Ersten Weltkrieges, weil sein ursprünglicher Plan
durch Kaiser Wilhelm II. durchkreuzt wurde.
Gerrit Alfred Kon schreibt:
"Moltke wird aber zum Schuldigen
erklärt und abgesetzt, sein Nachfolger Falkenhayn treibt – ohne Rücksicht auf
die gigantischen Verluste – die Armeen in den völlig aussichtslosen
Stellungskrieg. Moltke muss zusehen, wie die Versorgungslage von Volk und
Armeen gefährdet wird und stirbt am 18. Juni 1916 an einer Herzattacke.
Neben ihm stand seit Jahrzehnten
wie ein Fels in der Brandung seine Gattin Eliza von Moltke, die bereits früh
eine Geistesschülerin Rudolf Steiners geworden war, während Moltke selbst
zunächst eine gewissen Distanz zu Rudolf Steiner beibehielt. Erst nach seiner Demissionierung
konnte Rudolf Steiner für ihn zum Rater werden, der ihn mit vorsichtiger
Deutlichkeit auf Papst Nikolaus I. und die Ereignisse des 9. Jahrhunderts
hinwies, um ihn einen gültigen Blickwinkel für die Schicksale, in die er
verstrickt war, finden zu lassen. Nach seinem plötzlichen Tode wurden die ihm
von Steiner gereichten Hilfen erst recht fruchtbar – er fing im nachtodlichen
Leben an, die Verknotungen zu durchschauen. Rudolf Steiner stand dabei in
ständiger geistiger Verbindung mit ihm und war bereit, Botschaften von der sich
befreienden Entelechie an seine Witwe entgegenzunehmen und schriftlich
weiterzuleiten. Diese post-mortem-Briefe bilden ein einzigartiges Dokument des
zwanzigsten Jahrhunderts zur Überwindung der Erkenntnisgrenzen zwischen
Lebenden und Verstorbenen – gleichsam ein Motiv, das durch die unendliche Zahl
der Kriegsopfer im Sinne des: ‚Hört auf unsere Impulse!‘ gefordert wird. Wenn
diese Substanz ernst genommen wird, kann eine im Odilienleben bereits aufscheinende
Kultur der geistigen Arbeit zwischen Lebenden und Verstorbenen beginnen, einen
zivilisatorischen Neubeginn für Mitteleuropa keimen zu lassen.“ (S 138f)
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