Gestern Nachmittag stieß ich bei Christoph
Lindenberg („Rudolf-Steiner-Chronik“, Einleitung zum Jahr 1917) auf den Vortrag
vom 15. Januar 1917, der im dritten Band der Taschenbuchausgabe der „Zeitgeschichtlichen
Betrachtungen“ (GA 173c) veröffentlicht ist.
Dort gibt Rudolf Steiner einmal
wieder einen Eindruck von seinem großen historischen und literarischen
Überblickswissen und seine erstaunliche Fähigkeit, Zusammenhänge klar zu
machen. Er spricht davon, wie in der vierten und fünften nachatlantischen
Kulturepoche Impulse aus der dritten und zweiten wieder zum Tragen kommen und zeigt
auf, dass in der neueren Geschichte drei mächtige Impulse weiterwirken, die
jeweils ihren Gegenpol herausfordern: Von Italien und Spanien aus wirkt der
universell-theokratische Impuls, der sich in der katholischen Kirche auslebt,
bis er durch die reformatorischen Bewegungen im 14. Und 15. Jahrhundert seinen
Gegenpol erfährt: John Wyclif, Johannes Hus, Martin Luther. Danach wirkt von
Frankreich her das „universell-diplomatische Element“, dem in der Französischen
Revolution der Gegenpart entsteht. Schließlich wirkt vom britischen Weltreich
aus das „kommerziell-industrielle Element“, das seinen Widerpart in der
Geisteswissenschaft findet, die eigentlich mit Lessing, Herder, Goethe und
Schiller und – erstaunlicherweise – mit Shakespeare (in der Rezeption durch die
deutschen Literaten des 18. Und 19. Jahrhunderts) begonnen hat.[1]
Rudolf Steiner fasst zusammen:
„Und nun haben wir dazu das
Dritte, welches für den fünften nachatlantischen Zeitraum eigentlich das Entsprechende
ist und welches die Bewusstseinsseelen-Kultur auszubilden hat: das Englische,
das Britische. Wir haben das Element der Bewusstseinsseele. Ebenso wie das
Empfindungsseelen-Element, das heraufgetragen wird durch das
Italienisch-Spanische, sich ausspricht im Theokratisch-Kultusmäßigen, in dem,
was aus dem Sinnlichen herausstrebt – die Empfindungsseele lebt ja selber nicht
im Bewusstsein drinnen –, ebenso wie wir im Französischen das
Politisch-Diplomatische haben, haben wir im Britischen das Kommerziell-Industrielle,
das vollständige Ausleben der Menschenseele im Materiellen des physischen
Planes, eben im Kommerziell-Industriellen.“ ( S 97)
Und dann sagt Rudolf Steiner
etwas Besonderes, das er eigentlich „in einer ganzen Reihe von Vorträgen“ näher
ausführen müsste, etwas, was mich im Zusammenhang mit der kapitalistisch-kommunistischen
Polarität, innerhalb derer ich bis zur Wende 1989 aufgewachsen bin, seit meiner
Jugend in Form einer ungeheuren Spannung zuerst empfindungsmäßig und, seitdem
ich Helena kenne, auch bewusstseinsmäßig ungeheuer beschäftigt:
„Will man nämlich eine
kommerziell-industrielle Weltherrschaft begründen, so muss man das Hauptgebiet,
auf das es ankommt, zunächst in zwei Teile teilen. Das hängt mit der Natur des
Kommerziell-Industriellen zusammen, denn das, was auf der Welt des physischen
Planes geschieht, fordert immer eine ‚Zweispaltung‘. (…) So kann kein Kommerzium
sein ohne ein Gebiet, das diesem Kommerzium gegenüber steht. Daher muss ebenso,
wie auf der einen Seite das britische Kommerzium begründet wird, der andere
Pol, der russische Pol geschaffen werden, so dass man nun die beiden Pole hat.“
Ich bin vollkommen erstaunt über
die Weitsicht einer solchen Aussage, die Rudolf Steiner Mitte Januar 1917, also
noch vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und noch vor der Februar-
beziehungsweise Oktoberrevolution in Russland, gemacht hat. In jenem Jahr 1917
begann in der Tat die Aufspaltung der Welt in die beiden Pole: den
Anglo-amerikanischen Kapitalismus und den sowjetischen Kommunismus, der –
anders als der Nationalsozialismus, der Gott sei Dank nur 12 Jahre währte –, in 70 Jahren zwei Generationen von Menschen
prägte und im sogenannten „Kalten Krieg“ die ganze Welt an den Rand des Abgrundes
führte, wenn man nur an die Kuba-Krise im Jahre 1962 denkt.
Ich hatte immer wieder den
Eindruck, dass uns nur Gebete oder gute Geister vor diesem Abgrund bewahrt
haben. Und damit komme ich zum nächsten Vortrag aus den „Zeitgeschichtlichen
Betrachtungen“, den Rudolf Steiner am 20. Januar 1917 hielt, den ich gestern
auch noch las, und in dem es vor allem um das Wirken der Verstorbenen geht.
Dabei knüpft er an Aussagen an, die er noch in seinem vorherigen Vortrag gemacht
hatte. Er sprach dort von einem „Nebel der Unwahrhaftigkeit“. Weil diese „Unwahrhaftigkeiten“, die vor
allem von der „Publizistik“ verbreitet würden – gemeint sind die Medien, die
zur Zeit Rudolf Steiners nur aus den „Journalen“ bestanden, die schon damals
meist in jüdischer Hand waren, und sich „sozusagen in die geistige Aura“ der Erde
hineinstellen – fällt es den Verstorbenen schwer, sich mit den Lebenden zu
verbinden.
Rudolf Steiner führt aus, warum
es trotzdem wichtig ist, mit den Verstorbenen, deren Seelen in „jener feinen ätherischen
Schwebe- und Webewelt“ leben, in Verbindung zu treten. Als erste Bedingung
nennt er die Seelenruhe, die man in der Beziehung zu den Verstorbenen, mit
denen man karmisch verbunden ist, herstellen sollte. Dann kommt es aber auch
darauf an, dass man diesen oben genannten „Nebel der Unwahrhaftigkeit“ zerreißt.
Er sagt:
„Es ist auch noch etwas anderes
dazu notwendig, meine lieben Freunde, und das ist, dass man wirklich schon einmal
den guten Willen hat, all den Unwahrheiten zu widerstreben, von denen wir in
diesen Betrachtungen gesprochen haben – diese Unwahrhaftigkeiten, die durch die
Welt schwirren und sich sozusagen in die geistige Aura hineinstellen. Und das
macht es den Toten unmöglich, gewissermaßen durchzudringen durch diesen dichten
Nebel von all dem schwarzen Zeug, das – um nur eines zu nennen – heute etwa von
unserer Publizistik ausgeht mit all den Unwahrheiten, die heute gedruckt und
dann nachgesprochen werden. Durch all das, was sich da über die ganze Erde
hinspannt als eine Aura des Unwahrhaftigen, hindurchzudringen, ist – wir können
es geradezu mit diesen Worten sagen – für die Toten außerordentlich schwierig.“
Rudolf Steiner stellt nicht nur
Behauptungen auf, wenn er von dem „Nebel der Unwahrhaftigkeit“ spricht, der die
Verbindung, die „Brücke“ zwischen den Lebenden und den Toten, die in der
sechsten nachatlantischen Kulturepoche wieder hergestellt werden soll[2], in unserer Zeit so schwierig
macht. Er zeigt auch einige, bis heute aktuelle Beispiele auf.
Bis heute sprechen Historiker,
die die Schuld für den Ersten Weltkrieg im wilhelminischen Deutschland suchen,
vom preußischen Militarismus als
einem wesentlichen Faktor. Wie oft habe ich diese Floskel hören müssen! Immer
haben sich mein Großvater und mein Onkel, zwei wache
Beobachter der Ereignisse, vehement dagegen gewendet. Ich hatte jene Phrase allerdings
lange nachgeplappert. Jetzt lese ich bei Rudolf Steiner folgende Aussage, die
mir die Augen für die wahren Verhältnisse schlagartig öffnet:
Er bringt in seinem Vortrag vom
15. Januar unter anderem auch eine kurze Kulturgeschichte des Militärs, indem
er von drei ganz unterschiedlichen Formationen spricht: vom mittelalterlichen Ritterheer, vom neuzeitlichen Söldnerheer, mit dem die Schweizer in
den Schlachten von Murten und Nancy die burgundischen Ritter in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts vernichtend schlagen konnten und schließlich vom napoleonischen
Volksheer.
„In Frankreich ist die Erfindung
des Volksheeres gemacht worden und das hat dazu geführt, dass man in
Mitteleuropa, von Preußen ausgehend, auch ein Volksheer geschaffen hat, ganz
nach dem Muster des französischen Volksheeres. Und erst dadurch ist das
mitteleuropäische Heer etwas geworden, weil es französischen Charakter
angenommen hat.“
Man sollte die Dinge schon ein
wenig differenzierter sehen und nicht einfach immer nur die altbekannten
Vorurteile wiederholen.
Weiter kommt Rudolf Steiner zu
einem Thema, mit dem er auch durch seine Vorträge und Kurse an der Berliner Wilhelm-Liebknecht-Arbeiterbildungsschule
am Beginne des 20. Jahrhunderts eng verbunden war: zum Sozialismus.
Er sagt:
„Man muss schon wirklich
Einsichten gewinnen in die Verhältnisse, wenn man die Welt verstehen will. Wenn
man sich zum Beispiel die Frage stellt: Wo ist eigentlich die sozialistische
Theorie am scharfsinnigsten herausgekommen? –, so ergibt sich die kuriose
Antwort: unter den deutschen Sozialisten, ganz dem Prinzipe entsprechend, wie
ich es charakterisiert habe, dass der Deutsche immer die Mission hat, die
Begriffe rein auszuarbeiten. So haben selbst die deutschen Sozialisten die
Begriffe rein ausgearbeitet, nur passt die deutsche sozialistische Idee auf die
deutschen Verhältnisse wie die Faust aufs Auge. Nichts von der deutschen
sozialistischen Theorie passt auf die deutschen sozialen Verhältnisse! Daher
ist es ganz begreiflich, dass ich, nachdem ich eine Zeitlang in einer
sozialistischen Schule gelehrt hatte, zuletzt verbannt worden bin aus dieser
sozialistischen Schule. Ich vertrat nämlich die Ansicht: Aber es muss doch im
Sinne des Sozialismus liegen, eine Freiheitslehre zu entfalten. – Und da wurde
mir damals von seiten des Führers der Sozialdemokraten entgegengerufen: Auf
Freiheit kommt es nicht an, sondern auf vernünftigen Zwang!“
Im Anschluss daran zeigt Rudolf
Steiner auf, wie die Theorie des Sozialismus mit ihren drei Elementen: materialistische Geschichtsauffassung,
Prinzip des Mehrwerts und Prinzip des
Klassenkampfes „wunderbar auf
britische Verhältnisse“ passen.
Er sagt:
„Da sind sie auch studiert worden;
da war Marx und hat die Sache zuerst ausgearbeitet, da war Engels, da war
Bernstein. Aus diesen britischen Verhältnissen sind sie entsprungen, darauf
passen sie, weil sie sich – nehmen wir das dritte Prinzip – auf den
Klassenkampf gründen. Dieser waltet aber im Grunde der britischen Seele –
denken Sie nur an Cromwell.“
Ich kann an dieser Stelle nicht
alles wiederholen, was Rudolf Steiner hier in klarer Begrifflichkeit ausführt. Ich
kann nur abermals darauf hinweisen, was er in seinem Ulmer Vortrag ein Jahr
später, also nach der Russischen
Revolution, durch die das „Prinzip des Klassenkampfes“ seine mörderischste
Ausprägung gefunden hat, sagte: „Noch nie sind größere Gegensätze
zusammengestoßen als die Seele des europäischen Ostens und der widermenschliche
Trotzkismus oder Leninismus.“
Deutschland erinnert in diesen
Tagen an den Versuch der sozialistischen Spartakisten der USPD, in Berlin eine „Räterepublik“
nach dem Muster der Sowjets zu errichten, die bei manchen unverbesserlichen
Marxisten bis heute auf Sympathien stößt. Dieser Versuch war zum Scheitern
verurteilt, weil er auf die deutschen sozialen Verhältnisse „wie die Faust aufs
Auge“ passte, um den Ausdruck von Rudolf Steiner zu wiederholen.
Konsequenter Weise holten sich
die Anführer dieser „Revolution“ blutige Köpfe. Das muss bei aller Sympathie
wie für eine Frau wie Rosa Luxemburg heute gesagt werden dürfen. Das
sozialistische Experiment wurde mit Gewalt in Russland ausgeführt, konnte aber
in Mitteleuropa erfolgreich zurückgewiesen werden – ebenfalls mit Gewalt. Die
ganze Tragik Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt allerdings
darin, dass diese „Klassenkämpfer“ immer wieder versuchten, eine sozialistische
Räterepublik in der unstabilen jungen Weimarer Republik zu installieren. Der
Nationalsozialismus konnte nur als Reaktion auf diese Versuche so stark werden.
Und damit kommen wir nach dem
angeblichen preußischen Militarismus
und der in Deutschland ausgearbeiteten Theorie
des Sozialismus, die nicht zu Deutschland passt, zu der dritten
Unwahrhaftigkeit, die Rudolf Steiner andeutet: zum angeblichen deutschen Nationalismus.
Rudolf Steiner spricht vom „urdeutschen
Zug des Kosmopolitismus“ (S 124). Dass er damit der Wahrheit näher kommt, als
jene, die immerzu vom deutschen Nationalismus sprechen, der wieder sein „braunes“
Haupt erheben würde, kann jeder beobachten, der wie ich täglich mit Migranten
aus Osteuropa oder Flüchtlingen aus dem Orient oder aus Afrika zu tun hat, die am
liebsten nach Deutschland kommen, weil sie hier die Sicherheit genießen, die
sie in anderen Ländern nicht finden würden und weil sie hier in der Regel respektvoll
behandelt werden. Natürlich gibt es auch die andere Seite Deutschlands. Aber
sie entspricht nicht dem kosmopolitischen Wesen des Deutschen.
Dass es zu den Übergriffen von
einzelnen Flüchtlingen in Deutschland kam, ist traurig. Bis zu einem gewissen
Grade ist die unkontrollierte „Einwanderung“ daran schuld, für die unsere
Politik verantwortlich ist.
Wenn nun die Deutschen als „nationalistisch“
und „rassistisch“ dargestellt werden, entspricht das einer Methode, die Rudolf
Steiner schon 1917 anspricht, wenn er sagt:
„Wir sehen die Methode überall,
wir kennen sie in unseren Reihen überall: Erst zwingt man den anderen, sich zu
verteidigen, und dann behandelt man ihn als Angreifer. Es ist das ein durchaus
wirksames Mittel, meine lieben Freunde – ein Mittel, das jetzt in der Welt eine
ungeheuer starke Rolle spielt.“ (S 125)
[1]
Rudolf Steiner erläutert: „Das dritte Glied hat noch keine wirkliche
Ausgestaltung gefunden in Mitteleuropa. Das, was zur Reformation geführt hat,
ist das erste – es steht dem Südlich-Hierarchischen gegenüber. Dem Westlichen,
dem Zweiten, steht das gegenüber, was in Goethes Faust gipfelt. Was wir für
Mitteleuropa erhoffen, ist das eigentliche Ausgestalten des geisteswissenschaftlichen
Elementes. Und in Bezug auf dieses geisteswissenschaftliche Element wird sich
die schärfste Opposition zwischen Mitteleuropa und dem britischen Gebiete ergeben
– eine Opposition, die noch schärfer ist als diejenige, in die Goethe und seine
Nachfolger, Lessing und seine Nachfolger geraten sind gegenüber dem Diplomatisch-Französischen.“
Mit diesem spirituellen Einblick in die geistigen Hintergründe der britisch-Französischen
Opposition gegen die Mittelmächte, das österreichisch-ungarische Habsburger Reich
und das Preußisch-Deutsche Reich, die den Ersten Weltkrieg heraufbeschworen
hat, kommt man zu einer wahrheitsgemäßen Betrachtung dieser „Urkatastrophe“ des
20. Jahrhunderts.
[2]
Die slawische Kulturepoche soll eine Epoche der „Brückenbauer“ sein, führt Rudolf
Steiner im Ulmer Vortrag vom 30. April 1918, den ich erst kürzlich ausführlich
zitiert habe, aus. Siehe: https://jzeitgeschehenkommentare.blogspot.com/2018/11/matruschka-und-die-russische-seele.html
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