Dienstag, 6. November 2018

Militarismus, Sozialismus und Nationalismus - Gedanken zu einem Vortrag Rudolf Steiners vom 15. Januar 1917


Gestern Nachmittag stieß ich bei Christoph Lindenberg („Rudolf-Steiner-Chronik“, Einleitung zum Jahr 1917) auf den Vortrag vom 15. Januar 1917, der im dritten Band der Taschenbuchausgabe der „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“ (GA 173c) veröffentlicht ist.
Dort gibt Rudolf Steiner einmal wieder einen Eindruck von seinem großen historischen und literarischen Überblickswissen und seine erstaunliche Fähigkeit, Zusammenhänge klar zu machen. Er spricht davon, wie in der vierten und fünften nachatlantischen Kulturepoche Impulse aus der dritten und zweiten wieder zum Tragen kommen und zeigt auf, dass in der neueren Geschichte drei mächtige Impulse weiterwirken, die jeweils ihren Gegenpol herausfordern: Von Italien und Spanien aus wirkt der universell-theokratische Impuls, der sich in der katholischen Kirche auslebt, bis er durch die reformatorischen Bewegungen im 14. Und 15. Jahrhundert seinen Gegenpol erfährt: John Wyclif, Johannes Hus, Martin Luther. Danach wirkt von Frankreich her das „universell-diplomatische Element“, dem in der Französischen Revolution der Gegenpart entsteht. Schließlich wirkt vom britischen Weltreich aus das „kommerziell-industrielle Element“, das seinen Widerpart in der Geisteswissenschaft findet, die eigentlich mit Lessing, Herder, Goethe und Schiller und – erstaunlicherweise – mit Shakespeare (in der Rezeption durch die deutschen Literaten des 18. Und 19. Jahrhunderts) begonnen hat.[1]
Rudolf Steiner fasst zusammen:
„Und nun haben wir dazu das Dritte, welches für den fünften nachatlantischen Zeitraum eigentlich das Entsprechende ist und welches die Bewusstseinsseelen-Kultur auszubilden hat: das Englische, das Britische. Wir haben das Element der Bewusstseinsseele. Ebenso wie das Empfindungsseelen-Element, das heraufgetragen wird durch das Italienisch-Spanische, sich ausspricht im Theokratisch-Kultusmäßigen, in dem, was aus dem Sinnlichen herausstrebt – die Empfindungsseele lebt ja selber nicht im Bewusstsein drinnen –, ebenso wie wir im Französischen das Politisch-Diplomatische haben, haben wir im Britischen das Kommerziell-Industrielle, das vollständige Ausleben der Menschenseele im Materiellen des physischen Planes, eben im Kommerziell-Industriellen.“ ( S 97)
Und dann sagt Rudolf Steiner etwas Besonderes, das er eigentlich „in einer ganzen Reihe von Vorträgen“ näher ausführen müsste, etwas, was mich im Zusammenhang mit der kapitalistisch-kommunistischen Polarität, innerhalb derer ich bis zur Wende 1989 aufgewachsen bin, seit meiner Jugend in Form einer ungeheuren Spannung zuerst empfindungsmäßig und, seitdem ich Helena kenne, auch bewusstseinsmäßig ungeheuer beschäftigt:
„Will man nämlich eine kommerziell-industrielle Weltherrschaft begründen, so muss man das Hauptgebiet, auf das es ankommt, zunächst in zwei Teile teilen. Das hängt mit der Natur des Kommerziell-Industriellen zusammen, denn das, was auf der Welt des physischen Planes geschieht, fordert immer eine ‚Zweispaltung‘. (…) So kann kein Kommerzium sein ohne ein Gebiet, das diesem Kommerzium gegenüber steht. Daher muss ebenso, wie auf der einen Seite das britische Kommerzium begründet wird, der andere Pol, der russische Pol geschaffen werden, so dass man nun die beiden Pole hat.“
Ich bin vollkommen erstaunt über die Weitsicht einer solchen Aussage, die Rudolf Steiner Mitte Januar 1917, also noch vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und noch vor der Februar- beziehungsweise Oktoberrevolution in Russland, gemacht hat. In jenem Jahr 1917 begann in der Tat die Aufspaltung der Welt in die beiden Pole: den Anglo-amerikanischen Kapitalismus und den sowjetischen Kommunismus, der – anders als der Nationalsozialismus, der Gott sei Dank nur 12 Jahre währte  –, in 70 Jahren zwei Generationen von Menschen prägte und im sogenannten „Kalten Krieg“ die ganze Welt an den Rand des Abgrundes führte, wenn man nur an die Kuba-Krise im Jahre 1962 denkt.
Ich hatte immer wieder den Eindruck, dass uns nur Gebete oder gute Geister vor diesem Abgrund bewahrt haben. Und damit komme ich zum nächsten Vortrag aus den „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“, den Rudolf Steiner am 20. Januar 1917 hielt, den ich gestern auch noch las, und in dem es vor allem um das Wirken der Verstorbenen geht. Dabei knüpft er an Aussagen an, die er noch in seinem vorherigen Vortrag gemacht hatte. Er sprach dort von einem „Nebel der Unwahrhaftigkeit“.  Weil diese „Unwahrhaftigkeiten“, die vor allem von der „Publizistik“ verbreitet würden – gemeint sind die Medien, die zur Zeit Rudolf Steiners nur aus den „Journalen“ bestanden, die schon damals meist in jüdischer Hand waren, und sich „sozusagen in die geistige Aura“ der Erde hineinstellen – fällt es den Verstorbenen schwer, sich mit den Lebenden zu verbinden.
Rudolf Steiner führt aus, warum es trotzdem wichtig ist, mit den Verstorbenen, deren Seelen in „jener feinen ätherischen Schwebe- und Webewelt“ leben, in Verbindung zu treten. Als erste Bedingung nennt er die Seelenruhe, die man in der Beziehung zu den Verstorbenen, mit denen man karmisch verbunden ist, herstellen sollte. Dann kommt es aber auch darauf an, dass man diesen oben genannten „Nebel der Unwahrhaftigkeit“ zerreißt.
Er sagt:
„Es ist auch noch etwas anderes dazu notwendig, meine lieben Freunde, und das ist, dass man wirklich schon einmal den guten Willen hat, all den Unwahrheiten zu widerstreben, von denen wir in diesen Betrachtungen gesprochen haben – diese Unwahrhaftigkeiten, die durch die Welt schwirren und sich sozusagen in die geistige Aura hineinstellen. Und das macht es den Toten unmöglich, gewissermaßen durchzudringen durch diesen dichten Nebel von all dem schwarzen Zeug, das – um nur eines zu nennen – heute etwa von unserer Publizistik ausgeht mit all den Unwahrheiten, die heute gedruckt und dann nachgesprochen werden. Durch all das, was sich da über die ganze Erde hinspannt als eine Aura des Unwahrhaftigen, hindurchzudringen, ist – wir können es geradezu mit diesen Worten sagen – für die Toten außerordentlich schwierig.“
Rudolf Steiner stellt nicht nur Behauptungen auf, wenn er von dem „Nebel der Unwahrhaftigkeit“ spricht, der die Verbindung, die „Brücke“ zwischen den Lebenden und den Toten, die in der sechsten nachatlantischen Kulturepoche wieder hergestellt werden soll[2], in unserer Zeit so schwierig macht. Er zeigt auch einige, bis heute aktuelle Beispiele auf.
Bis heute sprechen Historiker, die die Schuld für den Ersten Weltkrieg im wilhelminischen Deutschland suchen, vom preußischen Militarismus als einem wesentlichen Faktor. Wie oft habe ich diese Floskel hören müssen! Immer haben sich mein Großvater und mein Onkel, zwei wache Beobachter der Ereignisse, vehement dagegen gewendet. Ich hatte jene Phrase allerdings lange nachgeplappert. Jetzt lese ich bei Rudolf Steiner folgende Aussage, die mir die Augen für die wahren Verhältnisse schlagartig öffnet:
Er bringt in seinem Vortrag vom 15. Januar unter anderem auch eine kurze Kulturgeschichte des Militärs, indem er von drei ganz unterschiedlichen Formationen spricht: vom mittelalterlichen Ritterheer, vom neuzeitlichen Söldnerheer, mit dem die Schweizer in den Schlachten von Murten und Nancy die burgundischen Ritter in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vernichtend schlagen konnten und schließlich vom napoleonischen Volksheer.
„In Frankreich ist die Erfindung des Volksheeres gemacht worden und das hat dazu geführt, dass man in Mitteleuropa, von Preußen ausgehend, auch ein Volksheer geschaffen hat, ganz nach dem Muster des französischen Volksheeres. Und erst dadurch ist das mitteleuropäische Heer etwas geworden, weil es französischen Charakter angenommen hat.“
Man sollte die Dinge schon ein wenig differenzierter sehen und nicht einfach immer nur die altbekannten Vorurteile wiederholen.
Weiter kommt Rudolf Steiner zu einem Thema, mit dem er auch durch seine Vorträge und Kurse an der Berliner Wilhelm-Liebknecht-Arbeiterbildungsschule am Beginne des 20. Jahrhunderts eng verbunden war: zum Sozialismus.
Er sagt:
„Man muss schon wirklich Einsichten gewinnen in die Verhältnisse, wenn man die Welt verstehen will. Wenn man sich zum Beispiel die Frage stellt: Wo ist eigentlich die sozialistische Theorie am scharfsinnigsten herausgekommen? –, so ergibt sich die kuriose Antwort: unter den deutschen Sozialisten, ganz dem Prinzipe entsprechend, wie ich es charakterisiert habe, dass der Deutsche immer die Mission hat, die Begriffe rein auszuarbeiten. So haben selbst die deutschen Sozialisten die Begriffe rein ausgearbeitet, nur passt die deutsche sozialistische Idee auf die deutschen Verhältnisse wie die Faust aufs Auge. Nichts von der deutschen sozialistischen Theorie passt auf die deutschen sozialen Verhältnisse! Daher ist es ganz begreiflich, dass ich, nachdem ich eine Zeitlang in einer sozialistischen Schule gelehrt hatte, zuletzt verbannt worden bin aus dieser sozialistischen Schule. Ich vertrat nämlich die Ansicht: Aber es muss doch im Sinne des Sozialismus liegen, eine Freiheitslehre zu entfalten. – Und da wurde mir damals von seiten des Führers der Sozialdemokraten entgegengerufen: Auf Freiheit kommt es nicht an, sondern auf vernünftigen Zwang!“
Im Anschluss daran zeigt Rudolf Steiner auf, wie die Theorie des Sozialismus mit ihren drei Elementen: materialistische Geschichtsauffassung, Prinzip des Mehrwerts und Prinzip des Klassenkampfes „wunderbar auf britische Verhältnisse“ passen.
Er sagt:
„Da sind sie auch studiert worden; da war Marx und hat die Sache zuerst ausgearbeitet, da war Engels, da war Bernstein. Aus diesen britischen Verhältnissen sind sie entsprungen, darauf passen sie, weil sie sich – nehmen wir das dritte Prinzip – auf den Klassenkampf gründen. Dieser waltet aber im Grunde der britischen Seele – denken Sie nur an Cromwell.“
Ich kann an dieser Stelle nicht alles wiederholen, was Rudolf Steiner hier in klarer Begrifflichkeit ausführt. Ich kann nur abermals darauf hinweisen, was er in seinem Ulmer Vortrag ein Jahr später, also nach der Russischen Revolution, durch die das „Prinzip des Klassenkampfes“ seine mörderischste Ausprägung gefunden hat, sagte: „Noch nie sind größere Gegensätze zusammengestoßen als die Seele des europäischen Ostens und der widermenschliche Trotzkismus oder Leninismus.“
Deutschland erinnert in diesen Tagen an den Versuch der sozialistischen Spartakisten der USPD, in Berlin eine „Räterepublik“ nach dem Muster der Sowjets zu errichten, die bei manchen unverbesserlichen Marxisten bis heute auf Sympathien stößt. Dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt, weil er auf die deutschen sozialen Verhältnisse „wie die Faust aufs Auge“ passte, um den Ausdruck von Rudolf Steiner zu wiederholen.
Konsequenter Weise holten sich die Anführer dieser „Revolution“ blutige Köpfe. Das muss bei aller Sympathie wie für eine Frau wie Rosa Luxemburg heute gesagt werden dürfen. Das sozialistische Experiment wurde mit Gewalt in Russland ausgeführt, konnte aber in Mitteleuropa erfolgreich zurückgewiesen werden – ebenfalls mit Gewalt. Die ganze Tragik Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt allerdings darin, dass diese „Klassenkämpfer“ immer wieder versuchten, eine sozialistische Räterepublik in der unstabilen jungen Weimarer Republik zu installieren. Der Nationalsozialismus konnte nur als Reaktion auf diese Versuche so stark werden.
Und damit kommen wir nach dem angeblichen preußischen Militarismus und der in Deutschland ausgearbeiteten Theorie des Sozialismus, die nicht zu Deutschland passt, zu der dritten Unwahrhaftigkeit, die Rudolf Steiner andeutet: zum angeblichen deutschen Nationalismus.
Rudolf Steiner spricht vom „urdeutschen Zug des Kosmopolitismus“ (S 124). Dass er damit der Wahrheit näher kommt, als jene, die immerzu vom deutschen Nationalismus sprechen, der wieder sein „braunes“ Haupt erheben würde, kann jeder beobachten, der wie ich täglich mit Migranten aus Osteuropa oder Flüchtlingen aus dem Orient oder aus Afrika zu tun hat, die am liebsten nach Deutschland kommen, weil sie hier die Sicherheit genießen, die sie in anderen Ländern nicht finden würden und weil sie hier in der Regel respektvoll behandelt werden. Natürlich gibt es auch die andere Seite Deutschlands. Aber sie entspricht nicht dem kosmopolitischen Wesen des Deutschen.
Dass es zu den Übergriffen von einzelnen Flüchtlingen in Deutschland kam, ist traurig. Bis zu einem gewissen Grade ist die unkontrollierte „Einwanderung“ daran schuld, für die unsere Politik verantwortlich ist.
Wenn nun die Deutschen als „nationalistisch“ und „rassistisch“ dargestellt werden, entspricht das einer Methode, die Rudolf Steiner schon 1917 anspricht, wenn er sagt:
„Wir sehen die Methode überall, wir kennen sie in unseren Reihen überall: Erst zwingt man den anderen, sich zu verteidigen, und dann behandelt man ihn als Angreifer. Es ist das ein durchaus wirksames Mittel, meine lieben Freunde – ein Mittel, das jetzt in der Welt eine ungeheuer starke Rolle spielt.“ (S 125)


[1] Rudolf Steiner erläutert: „Das dritte Glied hat noch keine wirkliche Ausgestaltung gefunden in Mitteleuropa. Das, was zur Reformation geführt hat, ist das erste – es steht dem Südlich-Hierarchischen gegenüber. Dem Westlichen, dem Zweiten, steht das gegenüber, was in Goethes Faust gipfelt. Was wir für Mitteleuropa erhoffen, ist das eigentliche Ausgestalten des geisteswissenschaftlichen Elementes. Und in Bezug auf dieses geisteswissenschaftliche Element wird sich die schärfste Opposition zwischen Mitteleuropa und dem britischen Gebiete ergeben – eine Opposition, die noch schärfer ist als diejenige, in die Goethe und seine Nachfolger, Lessing und seine Nachfolger geraten sind gegenüber dem Diplomatisch-Französischen.“ Mit diesem spirituellen Einblick in die geistigen Hintergründe der britisch-Französischen Opposition gegen die Mittelmächte, das österreichisch-ungarische Habsburger Reich und das Preußisch-Deutsche Reich, die den Ersten Weltkrieg heraufbeschworen hat, kommt man zu einer wahrheitsgemäßen Betrachtung dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts.
[2] Die slawische Kulturepoche soll eine Epoche der „Brückenbauer“ sein, führt Rudolf Steiner im Ulmer Vortrag vom 30. April 1918, den ich erst kürzlich ausführlich zitiert habe, aus. Siehe: https://jzeitgeschehenkommentare.blogspot.com/2018/11/matruschka-und-die-russische-seele.html

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