Mittwoch, 28. November 2018

Rudolf Steiners Aussagen zur Russischen Revolution im Oktober 1918


Ich studiere im Augenblick wieder die „Geschichtliche Symptomatologie“.  Im dritten Vortrag nennt Rudolf Steiner die Geschichte die „große wirkliche Lehrmeisterin“ und er spricht davon, wie wichtig Rhythmen in der Geschichte sind.
Im vierten Vortrag kommt er auf die Russische Revolution zu sprechen, die damals noch nicht einmal ein Jahr vergangen war, beziehungsweise seit einem Jahr „wütete“. Er spricht vom „Wirksammachen neuer Ideen“:
„Diese neuen Ideen (…) müssen in die ganze breite Bevölkerung der osteuropäischen Bauernschaft einfließen können. Selbstverständlich hat man es da mit einem seelisch wesentlich passiven Elemente zu tun, aber mit einem Elemente, das aufnahmefähig ist gerade für Modernstes, aus dem einfachen Grunde, weil, wie Sie ja wissen, in diesem Volkselemente der Keim liegt zur Entwicklung des Geistselbstes. Während die andere Bevölkerung der Erde im wesentlichen den Impuls zur Entwicklung der Bewusstseinsseele in sich trägt, trägt die breite Masse der russischen Bevölkerung, mit einigen Anhängseln noch, den Keim in sich für die Entwicklung des Geistselbstes im sechsten nachatlantischen Zeitraum.“
Es ist interessant, dass Rudolf Steiner hier nicht von einzelnen bedeutenden Persönlichkeiten, sondern von der „breiten Masse der russischen Bevölkerung“, ja von der „osteuropäischen Bauernschaft“ spricht.
Das rührt mein Herz, denn auch mir ging es nie um die „Wichtigkeit“ einzelner Menschen, die für die Zukunft Bedeutung erlangen würden. Ich habe mich immer für die „einfachen Leute“ interessiert, für die Bauern, Fabrikarbeiter und Handwerker, deren Söhne mit mir in meiner Dorfschule die Schulbank drückten. Deshalb war ich auch gerne im Gesangsverein meines Dorfes. Obwohl wir selten gemeinsame Themen hatten, über die wir uns austauschen konnten, weil ich in ihren Augen doch immer der „Studierte“ oder der „Schulmeister“ blieb und sie wohl auch deshalb auf Distanz zu mir gingen, so bewunderte ich doch den praktischen Geist und das Engagement der einfachen Leute für ihren Verein.
Die Lieder, die wir sangen, hatten kein sehr hohes musikalisches Niveau, und doch hatte ich immer das Gefühl, dass beim Singen eine Art „Veredelung“ mit den einfachen Menschen vor sich ging. Diese feine Umwandlung faszinierte mich. Hier geschah unbewusst etwas, was bis in die nächste Inkarnation wirken würde.
Genauso muss es in der osteuropäischen Bauernschaft gewesen sein. Vor der Revolution waren es vor allem die Gesänge der Popen in der orthodoxen Kirche, die Ikonen und die kirchlichen Feste, die den einfachen Menschen Halt gaben und sie veredelten.
Aber was waren das für neue Ideen, von denen Rudolf Steiner spricht?
Er meint die Ideen des Sozialismus, die von der neuen Klasse, den Proletariern, aufgegriffen wurden und eine Lösung der sozialen Frage in Aussicht stellten. Diese Ideen bestanden im Prinzip aus drei Elementen: aus der materialistischen Geschichtsauffassung, der Theorie des Mehrwerts und dem Klassenkampf, wie Rudolf Steiner bereits im zweiten Vortrag ausführte:
„Diese dreifache Anschauung: erstens, dass dasjenige, was die Menschheit vorwärts bringt von Epoche zu Epoche, nur materielle Impulse sind, alles andere nur ideologischer Überbau ist, zweitens, dass der eigentliche Verderb der Mehrwert ist, der nur überwunden werden kann durch die gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel, und drittens, dass eine Möglichkeit, die Produktionsmittel gemeinschaftlich zu machen, nur die ist, die Bourgeoisie ebenso zu überwinden, wie die Bourgeoisie (in der Französischen Revolution) den alten Adel überwunden hat – das ist es, was sich allmählich als die sogenannte sozialistische Bewegung über die zivilisierte Welt verbreitet hat.“
Diese Bewegung wurde, so führt Rudolf Steiner weiter aus, von den Mitgliedern des verbliebenen Adels und den Mitgliedern der verbliebenen Bourgeoisie „verschlafen“ und fügt hinzu, sich auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges beziehend, der in diesen Tagen, als Rudolf Steiner seine Vorträge hielt, kurz vor seinem Ende stand:
„Es ist gar nicht auszudenken, wie unbekümmert die Leute weitergeschlafen hätten, wenn die letzten vier Jahre nicht eingetreten wären, wie unbekümmert darum, dass mit jedem Jahre neue Tausende und Tausende gewonnen wurden für die sozialistischen Anschauungen, die ich Ihnen eben charakterisiert habe, und dass endlich die Leute auf dem Vulkan tanzen.“
Hier zeigt Rudolf Steiner auf, was die tieferen Ursachen der Weltkriegskatastrophe waren: das Bürgertum hat „geschlafen“ und nicht gemerkt, wie die einfachen Leute, vom Fabrikarbeiter bis zum Dienstmädchen, von neuen Theorien ergriffen wurden, für die sich die „Gebildeten“ überhaupt nicht interessierten. So konnte es in Russland zur Revolution und nach dem Krieg auch in Deutschland zu revolutionären Zuständen kommen.
Rudolf Steiner grenzt sich klar ab von diesen „neuen Ideen“, die bei den Massen Wirkung erzielten, denn er hat ganz andere Ideen zur sozialen Frage als die kommunistischen Ideologen. Er sagt:
„Diese sozialistische Überzeugung (…) gehört zu den Symptomen der neueren Geschichte. Sie ist eine Tatsache, sie ist nicht bloß irgendeine Theorie. Sie wirkt. Ich lege keinen Wert auf das Feste der Lasalleschen oder der Marxschen Theorie, aber natürlich einen großen Wert auf das Vorhandensein von Millionen von Menschen, die zu ihrem Ideal erkoren haben, das zu tun, was sie doch erkennen können aus den drei Punkten, die ich angeführt habe. Das aber ist etwas, was radikal entgegengesetzt ist dem Nationalen, (…) Nun, was das Proletariat anstrebt, so wurde ja schon, als 1848 Karl Marx zunächst das Programm dieses Proletariats veröffentlichte, das im Wesentlichen (diese drei) Punkte enthielt, (…) es wurde da geschlossen mit dem Ruf: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ Und fast keine Versammlung über die ganze Erde hin unter diesen Leuten wurde geschlossen, ohne dass sie geschlossen wurde mit einem Hoch auf die internationale revolutionäre Sozialdemokratie, auf die republikanische Sozialdemokratie. Das war ein internationales Prinzip. Und so tritt neben die römische Internationale mit ihrer Universalidee die Internationale des Sozialismus.“
Ich erkenne mit diesen Worten Rudolf Steiners in gewisser Weise die Attraktivität der sozialistischen Ideen an, insbesondere den Internationalismus, denn ich empfand mich nie als Nationalist. Ich sympathisierte sogar selbst eine Zeitlang mit den sozialistischen Ideen, bis ich durch meinen Lehrer Bertolt Hasen-Müller 1971 mit 19 Jahren die  Anthroposophie kennenlernte. Er gab mir folgenden Spruch mit, über den ich bis heute nachdenke: „Wer mit 18 Jahren Sozialist ist, ist ein guter Mensch; wer mit 30 Jahren noch Sozialist ist, ist ein dummer Mensch.“
Nun kann ich auch Lena verstehen, die bis zu ihrem 21. Lebensjahr - zuerst als stolze „Pionierin“, später als etwas skeptische "Komsolska" - diese sozialistischen Ideen in ihrer jungen Seele aufgenommen hatte und erst vollends erwachte, als das kommunistische Sowjetsystem 1990/1 zusammenbrach und Chaos und Anarchie in Russland ausbrachen. Das war für ein junges, hübsches Mädchen damals lebensgefährlich; deshalb heiratete sie auf Empfehlung ihrer kosakischen Mutter einen Russlanddeutschen und kam mit 25 Jahren ins Land der ehemaligen Feinde, der „Faschisten“.
Rudolf Steiner kehrt im vierten Vortrag zurück zu dem angeschnittenen Thema der Russischen Revolution und führt aus:
„Nun, nicht wahr, die Idee, die mehr oder weniger richtig, oder mehr oder weniger unrichtig, oder ganz unrichtig  war, aber als moderne Idee, als Idee von noch nicht Dagewesenem einfließen sollte in diese breite Masse der Bevölkerung, konnte nur kommen von denjenigen, die Gelegenheit haben im Leben, Ideen aufzunehmen, von führenden Klassen.
Nachdem der Zarismus gestürzt war, sah man zuerst aufkommen ein Element, das im Wesentlichen zusammenhängt mit einer völlig unfruchtbaren Klasse, mit der Großbourgeoisie – weiter westlich nennt man sie Schwerindustrie und so weiter –, mit einer völlig unfruchtbaren Klasse. Das konnte nur eine Episode sein (…), denn dasjenige, was aus dieser Klasse hervorgeht, das hat ja selbstverständlich (…) keine Ideen.“
Bei diesen Worten muss ich an unsere jetzige sogenannte Demokratie denken, wo die Politiker nur noch Erfüllungsgehilfen der „Schwerindustrie und so weiter“ sind und immer noch keine Ideen haben.
Rudolf Steiner fährt fort, sich auf die Anfänge der Russischen Revolution beziehend:
„Nun waren, nach links stehend, zunächst diejenigen Elemente, die aufgestiegen waren aus dem Bürgertum, mehr oder weniger vermischt mit arbeitenden Elementen. Es war die führende Bevölkerung der sogenannten Sozialrevolutionäre, zu denen sich auch die Menschewiki nach und nach geschlagen haben. Es sind diejenigen Menschen, die im Wesentlichen, rein äußerlich nach ihrer Zahl gerechnet, sehr leicht eine führende Rolle hätten spielen können innerhalb der weiteren Entwicklung der russischen Revolution. Sie wissen, es ist nicht so gekommen. Es sind die radikalen, nach links stehenden  Elemente an die Führung gekommen. (…) Nun, was liegt da eigentlich zu Grunde? Physikalisch gesprochen möchte ich sagen: Dieses Problem der Russischen Revolution vom Oktober, durch die nächsten Monate hindurch und bis heute, ist kein Druckproblem, physikalisch gesprochen, sondern ein Saugproblem. (…) Sie wissen ja, wenn man hier den Rezipienten  einer Luftpumpe hat, die Luft herausgesaugt und im Rezipienten einen luftleeren Raum geschaffen hat und öffnet den Stöpsel, so strömt pfeifend die Luft ein. Sie strömt ein, nicht weil die Luft dort hineinwill durch sich selber, sondern weil ein leerer Raum geschaffen ist. (…)
So war es auch mit Bezug auf diejenigen Elemente, die gewissermaßen in der Mitte standen zwischen Bauernschaft und den Sozialrevolutionären, den Menschewiki und eben den weiter links stehenden, den radikalen Elementen, den Bolschewiki. Was ist denn da eigentlich geschehen? Nun, was geschehen ist, war, dass die sozialrevolutionären Menschewiki absolut ideenlos waren. Sie waren in der überwiegenden Mehrzahl, aber sie waren absolut ideenlos; die hatten gar nichts zu sagen, was geschehen soll mit der Menschheit gegen die Zukunft hin. Sie hatten zwar allerlei ethische und sonstige Sentimentalitäten im Kopfe, aber mit ethischen Sentimentalitäten (…) kann man nicht die wirklichen Impulse, welche die Menschheit weiter treiben können, finden.“
Das erinnert mich an das von linksgrüner Seite angesichts der „Flüchtlingskrise“ immer wieder ins Feld geführte Argument der „Menschenrechte“. Mit diesen ethischen Grundsätzen löst man aber nicht das Problem. Die Menschenrechte geraten in ihrer wiederholten gedankenlosen Propagierung zu Sentimentalitäten. Wirklichkeit werden sie erst, wenn man alles dafür tut, dass die Menschenrechte in der Heimat der Flüchtlinge nicht durch die westliche Politik verletzt werden. Aber solche „Musterdemokratien“ wie Großbritannien, Frankreich und die USA haben durch ihre rein materialistischen geostrategischen Interessen (vor allem Öl und andere Bodenschätze) die dort herrschenden traditionellen Kulturen zerstört und den Menschen das elementare Recht auf Leben und Heimat geraubt. Wenn man immer nur mit einem Finger auf die sogenannten „Diktaturen“ im Orient oder in Afrika zeigt, dann zeigen vier Finger auf die völlig ideenlosen „Demokratien“ im Westen zurück, zu denen selbstverständlich auch die EU-Länder gehören, die durch ihre subventionierten Handelsgüter (Lebensmittel und Textilien) die Märkte in jenen Regionen zerstören.
Rudolf Steiner fährt fort:
„So ist ein luftleerer Raum, das heißt ideenleerer Raum entstanden, und da pfiff selbstverständlich dasjenige, was weiter nach links radikal steht, hinein. Man darf nicht glauben, dass es gewissermaßen durch ihr eigenes Wesen den radikalsten sozialistischen Elementen in Russland, die wenig mit Russland selbst zu tun haben, vorgezeichnet war, da besonders Fuß zu fassen. Sie hätten es nie gekonnt, wenn die Sozialrevolutionäre und andere mit ihnen Verbundene – es gibt ja die verschiedensten Gruppen – irgendwelche Ideen gehabt hätten, um Führende zu werden. Allerdings können Sie fragen: Welche Ideen hätten sie denn haben sollen? – Und da kann nur derjenige eine fruchtbringende Antwort heute finden, der nicht mehr erschrickt und nicht mehr feige wird, wenn man ihm sagt: Es gibt für diese Schichten keine anderen fruchtbaren Ideen als diejenigen, welche aus den geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen kommen. Es gibt keine andere Hilfe.“

Und diese nur scheinbar anmaßende Aussage, so meine ich, stimmt bis heute.

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