Ich studiere im Augenblick
wieder die „Geschichtliche Symptomatologie“.
Im dritten Vortrag nennt Rudolf Steiner die Geschichte die „große wirkliche
Lehrmeisterin“ und er spricht davon, wie wichtig Rhythmen in der Geschichte
sind.
Im vierten Vortrag kommt er auf
die Russische Revolution zu sprechen, die damals noch nicht einmal ein Jahr
vergangen war, beziehungsweise seit einem Jahr „wütete“. Er spricht vom
„Wirksammachen neuer Ideen“:
„Diese neuen Ideen (…) müssen in
die ganze breite Bevölkerung der osteuropäischen Bauernschaft einfließen
können. Selbstverständlich hat man es da mit einem seelisch wesentlich passiven
Elemente zu tun, aber mit einem Elemente, das aufnahmefähig ist gerade für
Modernstes, aus dem einfachen Grunde, weil, wie Sie ja wissen, in diesem
Volkselemente der Keim liegt zur Entwicklung des Geistselbstes. Während die
andere Bevölkerung der Erde im wesentlichen den Impuls zur Entwicklung der
Bewusstseinsseele in sich trägt, trägt die breite Masse der russischen
Bevölkerung, mit einigen Anhängseln noch, den Keim in sich für die Entwicklung
des Geistselbstes im sechsten nachatlantischen Zeitraum.“
Es ist interessant, dass Rudolf
Steiner hier nicht von einzelnen bedeutenden Persönlichkeiten, sondern von der
„breiten Masse der russischen Bevölkerung“, ja von der „osteuropäischen
Bauernschaft“ spricht.
Das rührt mein Herz, denn auch
mir ging es nie um die „Wichtigkeit“ einzelner Menschen, die für die Zukunft
Bedeutung erlangen würden. Ich habe mich immer für die „einfachen Leute“
interessiert, für die Bauern, Fabrikarbeiter und Handwerker, deren Söhne mit
mir in meiner Dorfschule die Schulbank drückten. Deshalb war ich auch gerne im
Gesangsverein meines Dorfes. Obwohl wir selten gemeinsame Themen hatten, über
die wir uns austauschen konnten, weil ich in ihren Augen doch immer der
„Studierte“ oder der „Schulmeister“ blieb und sie wohl auch deshalb auf Distanz
zu mir gingen, so bewunderte ich doch den praktischen Geist und das
Engagement der einfachen Leute für ihren Verein.
Die Lieder, die wir sangen,
hatten kein sehr hohes musikalisches Niveau, und doch hatte ich immer das
Gefühl, dass beim Singen eine Art „Veredelung“ mit den einfachen Menschen vor
sich ging. Diese feine Umwandlung faszinierte mich. Hier geschah unbewusst
etwas, was bis in die nächste Inkarnation wirken würde.
Genauso muss es in der
osteuropäischen Bauernschaft gewesen sein. Vor der Revolution waren es vor
allem die Gesänge der Popen in der orthodoxen Kirche, die Ikonen und die
kirchlichen Feste, die den einfachen Menschen Halt gaben und sie veredelten.
Aber was waren das für neue
Ideen, von denen Rudolf Steiner spricht?
Er meint die Ideen des
Sozialismus, die von der neuen Klasse, den Proletariern, aufgegriffen wurden
und eine Lösung der sozialen Frage in Aussicht stellten. Diese Ideen bestanden
im Prinzip aus drei Elementen: aus der materialistischen Geschichtsauffassung,
der Theorie des Mehrwerts und dem Klassenkampf, wie Rudolf Steiner bereits im
zweiten Vortrag ausführte:
„Diese dreifache Anschauung:
erstens, dass dasjenige, was die Menschheit vorwärts bringt von Epoche zu
Epoche, nur materielle Impulse sind, alles andere nur ideologischer Überbau
ist, zweitens, dass der eigentliche Verderb der Mehrwert ist, der nur überwunden
werden kann durch die gemeinsame Verwaltung der Produktionsmittel, und
drittens, dass eine Möglichkeit, die Produktionsmittel gemeinschaftlich zu
machen, nur die ist, die Bourgeoisie ebenso zu überwinden, wie die Bourgeoisie
(in der Französischen Revolution) den alten Adel überwunden hat – das ist es,
was sich allmählich als die sogenannte sozialistische Bewegung über die
zivilisierte Welt verbreitet hat.“
Diese Bewegung wurde, so führt
Rudolf Steiner weiter aus, von den Mitgliedern des verbliebenen Adels und den
Mitgliedern der verbliebenen Bourgeoisie „verschlafen“ und fügt hinzu, sich auf
die Katastrophe des Ersten Weltkrieges beziehend, der in diesen Tagen, als
Rudolf Steiner seine Vorträge hielt, kurz vor seinem Ende stand:
„Es ist gar nicht auszudenken,
wie unbekümmert die Leute weitergeschlafen hätten, wenn die letzten vier Jahre
nicht eingetreten wären, wie unbekümmert darum, dass mit jedem Jahre neue
Tausende und Tausende gewonnen wurden für die sozialistischen Anschauungen, die
ich Ihnen eben charakterisiert habe, und dass endlich die Leute auf dem Vulkan
tanzen.“
Hier zeigt Rudolf Steiner auf,
was die tieferen Ursachen der Weltkriegskatastrophe waren: das Bürgertum hat
„geschlafen“ und nicht gemerkt, wie die einfachen Leute, vom Fabrikarbeiter bis
zum Dienstmädchen, von neuen Theorien ergriffen wurden, für die sich die
„Gebildeten“ überhaupt nicht interessierten. So konnte es in Russland zur
Revolution und nach dem Krieg auch in Deutschland zu revolutionären Zuständen
kommen.
Rudolf Steiner grenzt sich klar
ab von diesen „neuen Ideen“, die bei den Massen Wirkung erzielten, denn er hat
ganz andere Ideen zur sozialen Frage als die kommunistischen Ideologen. Er
sagt:
„Diese sozialistische Überzeugung
(…) gehört zu den Symptomen der neueren Geschichte. Sie ist eine Tatsache, sie
ist nicht bloß irgendeine Theorie. Sie wirkt. Ich lege keinen Wert auf das
Feste der Lasalleschen oder der Marxschen Theorie, aber natürlich einen großen
Wert auf das Vorhandensein von Millionen von Menschen, die zu ihrem Ideal
erkoren haben, das zu tun, was sie doch erkennen können aus den drei Punkten,
die ich angeführt habe. Das aber ist etwas, was radikal entgegengesetzt ist dem
Nationalen, (…) Nun, was das Proletariat anstrebt, so wurde ja schon, als 1848
Karl Marx zunächst das Programm dieses Proletariats veröffentlichte, das im
Wesentlichen (diese drei) Punkte enthielt, (…) es wurde da geschlossen mit dem
Ruf: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ Und fast keine Versammlung
über die ganze Erde hin unter diesen Leuten wurde geschlossen, ohne dass sie
geschlossen wurde mit einem Hoch auf die internationale revolutionäre
Sozialdemokratie, auf die republikanische Sozialdemokratie. Das war ein
internationales Prinzip. Und so tritt neben die römische Internationale mit ihrer
Universalidee die Internationale des Sozialismus.“
Ich erkenne mit diesen Worten
Rudolf Steiners in gewisser Weise die Attraktivität der sozialistischen Ideen
an, insbesondere den Internationalismus, denn ich empfand mich nie als
Nationalist. Ich sympathisierte sogar selbst eine Zeitlang mit den
sozialistischen Ideen, bis ich durch meinen Lehrer Bertolt Hasen-Müller 1971
mit 19 Jahren die Anthroposophie
kennenlernte. Er gab mir folgenden Spruch mit, über den ich bis heute nachdenke:
„Wer mit 18 Jahren Sozialist ist, ist ein guter Mensch; wer mit 30 Jahren noch
Sozialist ist, ist ein dummer Mensch.“
Nun kann ich auch Lena verstehen,
die bis zu ihrem 21. Lebensjahr - zuerst als stolze „Pionierin“, später als etwas skeptische "Komsolska" - diese sozialistischen
Ideen in ihrer jungen Seele aufgenommen hatte und erst vollends erwachte, als das
kommunistische Sowjetsystem 1990/1 zusammenbrach und Chaos und Anarchie in
Russland ausbrachen. Das war für ein junges, hübsches Mädchen damals lebensgefährlich;
deshalb heiratete sie auf Empfehlung ihrer kosakischen Mutter einen Russlanddeutschen
und kam mit 25 Jahren ins Land der ehemaligen Feinde, der „Faschisten“.
Rudolf Steiner kehrt im vierten
Vortrag zurück zu dem angeschnittenen Thema der Russischen Revolution und führt
aus:
„Nun, nicht wahr, die Idee, die
mehr oder weniger richtig, oder mehr oder weniger unrichtig, oder ganz
unrichtig war, aber als moderne Idee,
als Idee von noch nicht Dagewesenem einfließen sollte in diese breite Masse der
Bevölkerung, konnte nur kommen von denjenigen, die Gelegenheit haben im Leben,
Ideen aufzunehmen, von führenden Klassen.
Nachdem der Zarismus gestürzt
war, sah man zuerst aufkommen ein Element, das im Wesentlichen zusammenhängt
mit einer völlig unfruchtbaren Klasse, mit der Großbourgeoisie – weiter
westlich nennt man sie Schwerindustrie und so weiter –, mit einer völlig
unfruchtbaren Klasse. Das konnte nur eine Episode sein (…), denn dasjenige, was
aus dieser Klasse hervorgeht, das hat ja selbstverständlich (…) keine Ideen.“
Bei diesen Worten muss ich an
unsere jetzige sogenannte Demokratie denken, wo die Politiker nur noch
Erfüllungsgehilfen der „Schwerindustrie und so weiter“ sind und immer noch
keine Ideen haben.
Rudolf Steiner fährt fort, sich
auf die Anfänge der Russischen Revolution beziehend:
„Nun waren, nach links stehend,
zunächst diejenigen Elemente, die aufgestiegen waren aus dem Bürgertum, mehr
oder weniger vermischt mit arbeitenden Elementen. Es war die führende
Bevölkerung der sogenannten Sozialrevolutionäre, zu denen sich auch die
Menschewiki nach und nach geschlagen haben. Es sind diejenigen Menschen, die im
Wesentlichen, rein äußerlich nach ihrer Zahl gerechnet, sehr leicht eine
führende Rolle hätten spielen können innerhalb der weiteren Entwicklung der
russischen Revolution. Sie wissen, es ist nicht so gekommen. Es sind die radikalen,
nach links stehenden Elemente an die
Führung gekommen. (…) Nun, was liegt da eigentlich zu Grunde? Physikalisch
gesprochen möchte ich sagen: Dieses Problem der Russischen Revolution vom
Oktober, durch die nächsten Monate hindurch und bis heute, ist kein
Druckproblem, physikalisch gesprochen, sondern ein Saugproblem. (…) Sie wissen
ja, wenn man hier den Rezipienten einer
Luftpumpe hat, die Luft herausgesaugt und im Rezipienten einen luftleeren Raum
geschaffen hat und öffnet den Stöpsel, so strömt pfeifend die Luft ein. Sie
strömt ein, nicht weil die Luft dort hineinwill durch sich selber, sondern weil
ein leerer Raum geschaffen ist. (…)
So war es auch mit Bezug auf
diejenigen Elemente, die gewissermaßen in der Mitte standen zwischen
Bauernschaft und den Sozialrevolutionären, den Menschewiki und eben den weiter
links stehenden, den radikalen Elementen, den Bolschewiki. Was ist denn da
eigentlich geschehen? Nun, was geschehen ist, war, dass die
sozialrevolutionären Menschewiki absolut ideenlos waren. Sie waren in der
überwiegenden Mehrzahl, aber sie waren absolut ideenlos; die hatten gar nichts
zu sagen, was geschehen soll mit der Menschheit gegen die Zukunft hin. Sie
hatten zwar allerlei ethische und sonstige Sentimentalitäten im Kopfe, aber mit
ethischen Sentimentalitäten (…) kann man nicht die wirklichen Impulse, welche
die Menschheit weiter treiben können, finden.“
Das erinnert mich an das von
linksgrüner Seite angesichts der „Flüchtlingskrise“ immer wieder ins Feld geführte
Argument der „Menschenrechte“. Mit diesen ethischen Grundsätzen löst man aber
nicht das Problem. Die Menschenrechte geraten in ihrer wiederholten gedankenlosen
Propagierung zu Sentimentalitäten. Wirklichkeit werden sie erst, wenn man alles
dafür tut, dass die Menschenrechte in der Heimat der Flüchtlinge nicht durch
die westliche Politik verletzt werden. Aber solche „Musterdemokratien“ wie
Großbritannien, Frankreich und die USA haben durch ihre rein materialistischen
geostrategischen Interessen (vor allem Öl und andere Bodenschätze) die dort
herrschenden traditionellen Kulturen zerstört und den Menschen das elementare
Recht auf Leben und Heimat geraubt. Wenn man immer nur mit einem Finger auf die
sogenannten „Diktaturen“ im Orient oder in Afrika zeigt, dann zeigen vier
Finger auf die völlig ideenlosen „Demokratien“ im Westen zurück, zu denen
selbstverständlich auch die EU-Länder gehören, die durch ihre subventionierten Handelsgüter
(Lebensmittel und Textilien) die Märkte in jenen Regionen zerstören.
Rudolf Steiner fährt fort:
„So ist ein luftleerer Raum, das heißt
ideenleerer Raum entstanden, und da pfiff selbstverständlich dasjenige, was weiter
nach links radikal steht, hinein. Man darf nicht glauben, dass es gewissermaßen
durch ihr eigenes Wesen den radikalsten sozialistischen Elementen in Russland, die
wenig mit Russland selbst zu tun haben, vorgezeichnet war, da besonders Fuß zu fassen.
Sie hätten es nie gekonnt, wenn die Sozialrevolutionäre und andere mit ihnen Verbundene
– es gibt ja die verschiedensten Gruppen – irgendwelche Ideen gehabt hätten, um
Führende zu werden. Allerdings können Sie fragen: Welche Ideen hätten sie denn haben
sollen? – Und da kann nur derjenige eine fruchtbringende Antwort heute finden, der
nicht mehr erschrickt und nicht mehr feige wird, wenn man ihm sagt: Es gibt für
diese Schichten keine anderen fruchtbaren Ideen als diejenigen, welche aus den geisteswissenschaftlichen
Erkenntnissen kommen. Es gibt keine andere Hilfe.“
Und diese nur scheinbar anmaßende
Aussage, so meine ich, stimmt bis heute.
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