In seinem Ulmer Vortrag
überschaut Rudolf Steiner in Gedanken die ganze Welt, als hätte er sich im
Geiste auf den höchsten mittelalterlichen Kirchturm begeben. Sein Blick geht
von Amerika im Westen über Europa und Russland bis nach Japan im Osten.
Er sagt, es gebe in der Gegenwart
zwei Betäubungsmittel für den mitteleuropäischen Geist, dessen Wesen er in dem
Wirken eines Lessings, eines Herders, eines Goethes und eines Schillers
verkörpert sieht. Das eine sei die alte Spiritualität des Ostens. Er nennt es
eine „Kultur, die durch und durch spirituell ist, deren Zeit aber abgelaufen
ist“. „Verbrüdert sich“ das spirituelle Denken des Ostens mit dem
europäisch-amerikanischen Materialismus, dann wird es, wenn der europäische
Materialismus sich nicht vergeistigen will, ihm ganz gewiss den Rang ablaufen.
Denn der Europäer hat nicht die Beweglichkeit des Geistes, die der Japaner hat.
Die hat dieser als ein Erbgut seiner alten Spiritualität.“
Das andere Betäubungsmittel für
das Suchen des Geistes im Innern ist der Anglo-Amerikanismus.
„Englisch-amerikanische Kultur hat auf der einen Seite die Aufgabe, das
Materielle über die Erde hin zu organisieren, zu verbreiten, aber sie verbindet
diese Aufgabe vermöge einer inneren Eigenart des anglo-amerikanischen Wesens
damit, durch die Amerikanismen den Menschen zu betäuben über das Suchen nach
dem Geistigen in der Seele.“
Heute ist klar, was Rudolf
Steiner mit den „Amerikanismen“ meinte: Zum „american way of life“ gehört heute
konstitutionell die Film- und Musikindustrie dazu, die eine Art weltweite Kolonisierung
des Fühlens der Menschheit betreibt; aber auch die Ernährungs- und
Computerindustrie dominiert die Denk- und Essgewohnheiten der großen Masse im
globalen Maßstab. Man spricht von der Mac-Donaldisierung und der Mac-Intoshisierung
der Welt, also der Kolonisierung des Denkens und des Wollens. Durch das
ungesunde Fastfood werden die Menschen auf der ganzen Welt übergewichtig, durch
die Rechner, Navis und Computerspiele denkfaul. Rudolf Steiner spricht an
anderer Stelle sogar von der Zurückbildung des Menschen zum Affen durch den
Körperkult beim Bodybuilding[1], worauf die australische
Schriftstellerin Adriana Koulias in den vergangenen Tagen mehrfach hingewiesen
hat[2].
Rudolf Steiner führt aus, dass
seit dem 15. Jahrhundert eine materielle Wissenschaft existiert, die der Natur
und dem Menschen schadet, ja, die tödlich für die Erde ist. Im Jahre 1413
begann nach dem anthroposophischen Geschichtsverständnis die „fünfte
nachatlantische Kulturepoche“.
Rudolf Steiner erläutert:
„Der fünfte Zeitraum ist der
Beginn des Erdentodes. Während alle früheren Zeiträume zu dem genannten Geiste
des Universums durch dasjenige, was sich aus der Erde selbst ergab, einen
Beitrag liefern konnten, hat all die glänzende Kultur, die sich in diesem
fünften Zeitraum entwickelte – der Telegraph, das Telefon, die Eisenbahn –,
ihre große Bedeutung für die Erde, aber keine Bedeutung außerhalb der Erde.
Nichts von dem, was im Ägyptertum, im Griechentum entstanden ist, geht mit der
Erde zugrunde; aber das, was in unserer Zeit entsteht auf dem Boden der rein
materiellen Kultur, geht mit der Erde zugrunde, wenn die Erde selbst Weltenleichnam
geworden ist.“
Das ist natürlich geistig
aufzufassen. Ein Bauwerk wie das Ulmer Münster ist noch geistdurchdrungen im
spirituellen Sinne. Seine Schönheit wird in der geistigen Welt auch die äußere
Zerstörung überleben. Nicht aber werden Autos, Computer oder Kinofilme mit
hinüber in die Geisteswelt wandern, weil sie keine geistige Substanz haben. Von
Filmen werden nur jene Gedanken und Ideen übrigbleiben, welche spirituell
aufgeschlossene Regisseure und Drehbuchautoren wie der Russe Andrej Tarkowskij
(„Opfer“), der Deutsche Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) oder der
Amerikaner John Ford („Three Godfathers“) beim Konzipieren ihrer Filme hatten.
In seinem Ulmer Vortrag vom
Walpurgistag 1918 charakterisiert Rudolf Steiner sehr liebevoll und geradezu
warmherzig das russische Volk, das in der sechsten Kulturepoche dadurch die
Führungsrolle in der Menschheitsentwicklung übernehmen wird, dass es eine enge
Verbindung zwischen den auf der Erde verkörperten Menschen und den verstorbenen
Menschenseelen herzustellen verstehen wird.
Er führt aus:
„Merkwürdig, wie seit dem 9.
Jahrhundert von dem übrigen Europa doch wie zurückgeschoben worden ist nach dem
Osten dasjenige, was bleiben sollte, was nicht angefressen werden sollte von
dem Westen, wie es dann in der äußeren Form des sogenannten Russischen Reiches
in den verschiedenen Jahrhunderten auftritt, innerlich merkwürdig das Alte
bewahrend und in der Hülle des Alten wie in einer Puppenhülle ein Neues
vorbereitend für eine spätere Kultur! Mysterienkulte, möchte man sagen, haben
sich noch erhalten innerhalb dieses russischen Volkes, mit
Mysterienvorstellungen lebt dieses russische Volk, welches wenig verstanden hat
von den abstrakten religiösen Begriffen des Westens, welches aber viel erfühlt,
im tiefsten, tiefsten Inneren erfühlt von den Kultformen, von dem, was des
Menschen Gemüt in bildhafter Form zu dem Göttlichen herüberbringt. In der
eigenen Seele fühlt im Osten der Mensch dasjenige, wovon der westliche
Religionsherrscher den Namen trägt: ‚Pontifex‘, das heißt Brückenmacher,
Brückenmacher zum Geistigen hinüber. Aber im Osten, da bewahrte man sich von
dem Alten noch so viel, als nötig war, um unberührt von dem Neuen, dem
Materialistischen, die Brücke wenigstens sich freizuhalten ins Geistige.“
Bei dem Ausdruck „Puppenhülle“
muss ich natürlich gleich an die russischen Puppen, die Matruschkas, denken.
Öffnet man solch eine Puppe, dann kommt die nächste, etwas kleinere zum
Vorschein.
Ist das nicht ein wunderbares
Symbol für die immer wieder erfolgende Erneuerung der menschlichen Seele!?
Ich
habe letztes Jahr in Sankt Petersburg zwei handbemalte Matruschkas mit jeweils fünf
Puppen gekauft, eine blaue und eine rote. Eine Puppe entspricht dadurch der Entwicklung
der menschlichen Seele durch die fünf nachatlantischen Kulturepochen.
Solche Symbolik trägt in der Tat
Mysteriencharakter.
Bezeichnend ist auch, dass der
erste russische Fürst, Wladimir der Große, als er für seine Kiewer Rus eine
Religion wählen sollte, drei Gesandtschaften ausschickte. Eine ging zu den
Moslems, eine zu den Juden. Die dritte ging nach Konstantinopel zu den
griechisch-orthodoxen Christen. Als sie wiederkamen, berichteten sie von ihrem
Besuch eines Gottesdienstes in der Hagia Sophia. Sie sagten, dass sie meinten,
im Himmel gewesen zu sein, so schön sei die Feier in dieser Kirche gewesen. So
entschied sich Großfürst Wladimir für das Christentum und ließ sein Volk im
Dnjepr taufen.
Welches Leid das Russische Volk
im 20. Jahrhundert erleiden musste, das deutet Rudolf Steiner, der 1918 gerade
einmal die ersten Anfänge erfahren hat, in folgender Passage seines Vortrages
an:
„Und jetzt nehmen Sie mit diesem
zusammen die heutigen Zeichen der Zeit! Man möchte sagen: die allerbitterste
Ironie der menschlichen Entwicklung ist gerade über den Osten von Europa
ausgegossen, die bitterste Ironie! Die Karikatur jedes höheren
Menschheitsstrebens, die im Leninismus, im Trotzkismus als letzte
karikaturhafte Konsequenz der rein materialistischen sozialistischen Ideen sich
geltend gemacht hat, ist wie ein Kleid, das nicht zum Leibe passt, übergezogen
den Menschen des Ostens. Noch nie sind größere Gegensätze zusammengestoßen als
die Seele des europäischen Ostens und der widermenschliche Trotzkismus oder Leninismus.
Das ist nicht aus irgendeiner Sympathie oder Antipathie heraus gesprochen, das
ist aus der Erkenntnis heraus gesprochen, aus der Erkenntnis, die uns zeigen
soll, was furchtbar sich braut im europäischen Osten durch die Zusammenfügung
der größten Gegensätze, die jemals zusammengekommen sind.
(…) Nun, wie durch eine
wunderbare Weisheit, möchte ich sagen, war die russische Volksseele vor allem,
was in abgründige Entwicklung, in die Dekadenz führt, bewahrt geblieben. Aber
sie soll nun vergiftet werden durch den Leninismus und Trotzkismus. Sie soll
infiziert werden von demjenigen, was überhaupt den Geist aus der ganzen
Erdenkultur auslöschen würde, wenn es zur Herrschaft kommen würde.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
[1] Siehe Rudolf Steiners Vortrag vom 18. November 1918 in GA 178. Siehe auch: http://theconversation.com/sex-genes-the-y-chromosome-and-the-future-of-men-32893?fbclid=IwAR1czQcmldtZ2KQuOT8n9oLLJTAMPGmi6QL5sDlzAMQgNZT0hYAH951YUwY
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