Donnerstag, 1. November 2018

Matruschka und die Russische Seele - weitere Gedanken zum Ulmer Vortrag Rudolf Steiners vom 30. April 1918

In seinem Ulmer Vortrag überschaut Rudolf Steiner in Gedanken die ganze Welt, als hätte er sich im Geiste auf den höchsten mittelalterlichen Kirchturm begeben. Sein Blick geht von Amerika im Westen über Europa und Russland bis nach Japan im Osten.
Er sagt, es gebe in der Gegenwart zwei Betäubungsmittel für den mitteleuropäischen Geist, dessen Wesen er in dem Wirken eines Lessings, eines Herders, eines Goethes und eines Schillers verkörpert sieht. Das eine sei die alte Spiritualität des Ostens. Er nennt es eine „Kultur, die durch und durch spirituell ist, deren Zeit aber abgelaufen ist“. „Verbrüdert sich“ das spirituelle Denken des Ostens mit dem europäisch-amerikanischen Materialismus, dann wird es, wenn der europäische Materialismus sich nicht vergeistigen will, ihm ganz gewiss den Rang ablaufen. Denn der Europäer hat nicht die Beweglichkeit des Geistes, die der Japaner hat. Die hat dieser als ein Erbgut seiner alten Spiritualität.“
Das andere Betäubungsmittel für das Suchen des Geistes im Innern ist der Anglo-Amerikanismus. „Englisch-amerikanische Kultur hat auf der einen Seite die Aufgabe, das Materielle über die Erde hin zu organisieren, zu verbreiten, aber sie verbindet diese Aufgabe vermöge einer inneren Eigenart des anglo-amerikanischen Wesens damit, durch die Amerikanismen den Menschen zu betäuben über das Suchen nach dem Geistigen in der Seele.“
Heute ist klar, was Rudolf Steiner mit den „Amerikanismen“ meinte: Zum „american way of life“ gehört heute konstitutionell die Film- und Musikindustrie dazu, die eine Art weltweite Kolonisierung des Fühlens der Menschheit betreibt; aber auch die Ernährungs- und Computerindustrie dominiert die Denk- und Essgewohnheiten der großen Masse im globalen Maßstab. Man spricht von der Mac-Donaldisierung und der Mac-Intoshisierung der Welt, also der Kolonisierung des Denkens und des Wollens. Durch das ungesunde Fastfood werden die Menschen auf der ganzen Welt übergewichtig, durch die Rechner, Navis und Computerspiele denkfaul. Rudolf Steiner spricht an anderer Stelle sogar von der Zurückbildung des Menschen zum Affen durch den Körperkult beim Bodybuilding[1], worauf die australische Schriftstellerin Adriana Koulias in den vergangenen Tagen mehrfach hingewiesen hat[2].
Rudolf Steiner führt aus, dass seit dem 15. Jahrhundert eine materielle Wissenschaft existiert, die der Natur und dem Menschen schadet, ja, die tödlich für die Erde ist. Im Jahre 1413 begann nach dem anthroposophischen Geschichtsverständnis die „fünfte nachatlantische Kulturepoche“.
Rudolf Steiner erläutert:
„Der fünfte Zeitraum ist der Beginn des Erdentodes. Während alle früheren Zeiträume zu dem genannten Geiste des Universums durch dasjenige, was sich aus der Erde selbst ergab, einen Beitrag liefern konnten, hat all die glänzende Kultur, die sich in diesem fünften Zeitraum entwickelte – der Telegraph, das Telefon, die Eisenbahn –, ihre große Bedeutung für die Erde, aber keine Bedeutung außerhalb der Erde. Nichts von dem, was im Ägyptertum, im Griechentum entstanden ist, geht mit der Erde zugrunde; aber das, was in unserer Zeit entsteht auf dem Boden der rein materiellen Kultur, geht mit der Erde zugrunde, wenn die Erde selbst Weltenleichnam geworden ist.“
Das ist natürlich geistig aufzufassen. Ein Bauwerk wie das Ulmer Münster ist noch geistdurchdrungen im spirituellen Sinne. Seine Schönheit wird in der geistigen Welt auch die äußere Zerstörung überleben. Nicht aber werden Autos, Computer oder Kinofilme mit hinüber in die Geisteswelt wandern, weil sie keine geistige Substanz haben. Von Filmen werden nur jene Gedanken und Ideen übrigbleiben, welche spirituell aufgeschlossene Regisseure und Drehbuchautoren wie der Russe Andrej Tarkowskij („Opfer“), der Deutsche Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) oder der Amerikaner John Ford („Three Godfathers“) beim Konzipieren ihrer Filme hatten.


In seinem Ulmer Vortrag vom Walpurgistag 1918 charakterisiert Rudolf Steiner sehr liebevoll und geradezu warmherzig das russische Volk, das in der sechsten Kulturepoche dadurch die Führungsrolle in der Menschheitsentwicklung übernehmen wird, dass es eine enge Verbindung zwischen den auf der Erde verkörperten Menschen und den verstorbenen Menschenseelen herzustellen verstehen wird.
Er führt aus:
„Merkwürdig, wie seit dem 9. Jahrhundert von dem übrigen Europa doch wie zurückgeschoben worden ist nach dem Osten dasjenige, was bleiben sollte, was nicht angefressen werden sollte von dem Westen, wie es dann in der äußeren Form des sogenannten Russischen Reiches in den verschiedenen Jahrhunderten auftritt, innerlich merkwürdig das Alte bewahrend und in der Hülle des Alten wie in einer Puppenhülle ein Neues vorbereitend für eine spätere Kultur! Mysterienkulte, möchte man sagen, haben sich noch erhalten innerhalb dieses russischen Volkes, mit Mysterienvorstellungen lebt dieses russische Volk, welches wenig verstanden hat von den abstrakten religiösen Begriffen des Westens, welches aber viel erfühlt, im tiefsten, tiefsten Inneren erfühlt von den Kultformen, von dem, was des Menschen Gemüt in bildhafter Form zu dem Göttlichen herüberbringt. In der eigenen Seele fühlt im Osten der Mensch dasjenige, wovon der westliche Religionsherrscher den Namen trägt: ‚Pontifex‘, das heißt Brückenmacher, Brückenmacher zum Geistigen hinüber. Aber im Osten, da bewahrte man sich von dem Alten noch so viel, als nötig war, um unberührt von dem Neuen, dem Materialistischen, die Brücke wenigstens sich freizuhalten ins Geistige.“
Bei dem Ausdruck „Puppenhülle“ muss ich natürlich gleich an die russischen Puppen, die Matruschkas, denken. Öffnet man solch eine Puppe, dann kommt die nächste, etwas kleinere zum Vorschein.
Ist das nicht ein wunderbares Symbol für die immer wieder erfolgende Erneuerung der menschlichen Seele!?
Ich habe letztes Jahr in Sankt Petersburg zwei handbemalte Matruschkas mit jeweils fünf Puppen gekauft, eine blaue und eine rote. Eine Puppe entspricht dadurch der Entwicklung der menschlichen Seele durch die fünf nachatlantischen Kulturepochen. 



Solche Symbolik trägt in der Tat Mysteriencharakter.
Bezeichnend ist auch, dass der erste russische Fürst, Wladimir der Große, als er für seine Kiewer Rus eine Religion wählen sollte, drei Gesandtschaften ausschickte. Eine ging zu den Moslems, eine zu den Juden. Die dritte ging nach Konstantinopel zu den griechisch-orthodoxen Christen. Als sie wiederkamen, berichteten sie von ihrem Besuch eines Gottesdienstes in der Hagia Sophia. Sie sagten, dass sie meinten, im Himmel gewesen zu sein, so schön sei die Feier in dieser Kirche gewesen. So entschied sich Großfürst Wladimir für das Christentum und ließ sein Volk im Dnjepr taufen.
Welches Leid das Russische Volk im 20. Jahrhundert erleiden musste, das deutet Rudolf Steiner, der 1918 gerade einmal die ersten Anfänge erfahren hat, in folgender Passage seines Vortrages an:
„Und jetzt nehmen Sie mit diesem zusammen die heutigen Zeichen der Zeit! Man möchte sagen: die allerbitterste Ironie der menschlichen Entwicklung ist gerade über den Osten von Europa ausgegossen, die bitterste Ironie! Die Karikatur jedes höheren Menschheitsstrebens, die im Leninismus, im Trotzkismus als letzte karikaturhafte Konsequenz der rein materialistischen sozialistischen Ideen sich geltend gemacht hat, ist wie ein Kleid, das nicht zum Leibe passt, übergezogen den Menschen des Ostens. Noch nie sind größere Gegensätze zusammengestoßen als die Seele des europäischen Ostens und der widermenschliche Trotzkismus oder Leninismus. Das ist nicht aus irgendeiner Sympathie oder Antipathie heraus gesprochen, das ist aus der Erkenntnis heraus gesprochen, aus der Erkenntnis, die uns zeigen soll, was furchtbar sich braut im europäischen Osten durch die Zusammenfügung der größten Gegensätze, die jemals zusammengekommen sind.
(…) Nun, wie durch eine wunderbare Weisheit, möchte ich sagen, war die russische Volksseele vor allem, was in abgründige Entwicklung, in die Dekadenz führt, bewahrt geblieben. Aber sie soll nun vergiftet werden durch den Leninismus und Trotzkismus. Sie soll infiziert werden von demjenigen, was überhaupt den Geist aus der ganzen Erdenkultur auslöschen würde, wenn es zur Herrschaft kommen würde.“


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen