Donnerstag, 8. November 2018

Was ist deutsch? - Rudolf Steiners Aussagen aus den Vorträgen vom 21. und 22. Januar 1917


Gestern las ich gleich zwei Vorträge aus den „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“, die Vorträge vom 21. und 22. Januar 1917. Beide sind so berührend und erhellend! Es ist manchmal unglaublich, welche Einblicke Rudolf Steiner sowohl für das Leben nach dem Tod als auch für die irdische Geschichte und Geographie gibt. Bis in die Details der Lautverschiebung kannte er sich aus und bringt sie in einen überzeugenden Zusammenhang!
Wenn ich diese Vorträge vor dreißig Jahren gelesen hätte, dann hätte ich einen wesentlich besseren Unterricht machen können. Aber offenbar war ich erst gestern reif dafür. Im Grunde hat mich auch dazu ein Verstorbener geführt, dem ich im Leben mehrmals begegnet bin: Christoph Lindenberg, mein Geschichtslehrer während der „Ausbildung“ zum Waldorflehrer[1]. In der Einleitung zum Jahr 1917 stieß ich in seiner „Rudolf-Steiner-Chronik“, die ich vor ein paar Tagen aufschlug und las, auf den entscheidenden Hinweis, wie ich bereits weiter oben berichtet habe. Und so las ich einfach im dritten Band der „Zeitgeschichtlichen Betrachtungen“ weiter, wenn auch nicht, wie üblich, systematisch von vorne, das heißt von Band eins an.
Im Vortrag vom 21. Januar 1917 schildert Rudolf Steiner die Stufen, die der Verstorbene nach dem Tod durchmacht, und kommt schließlich dazu, aufzuzeigen, dass sein Bewusstsein nach einer Weile, wenn er den Ätherleib abgelegt hat, viel umfassender wird. Dann vereinen sich nämlich mit seinem eigenen Engel, dem „Schutzengel“, weitere Geisteswesen aus der Angeloi-Hierarchie, die den Verstorbenen gleichsam leiten. Aber mit diesen verbinden sich schließlich auch Geistwesen aus der Hierarchie der Archangeloi, die erst dafür sorgen, dass das zuvor eher traumhafte Bewusstsein des Verstorbenen hell wird.
Rudolf Steiner erzählt dann, wie die hochgradigen „Eingeweihten“ westlicher „Bruderschaften“, die (bis heute) aus gewissen Gruppeninteressen die Menschheit noch tiefer in den Materialismus drücken wollen, durch „zeremonielle Magie“ versuchen, die Verstorbenen ausgerechnet von diesen Archangeloi zu trennen, und sie stattdessen in eine Verbindung zu den auf der Stufe der Erzengel zurückgebliebenen Archai, also ahrimanischen Geistwesen, zu bringen.
In einem weiteren Schritt zeigt Rudolf Steiner auf, dass die Verstorbenen genauso wenig, wie sie nach dem Tod die mineralische Welt wahrnehmen können, auch abstrakte Gedanken wahrnehmen können. Nur wenn der auf der Erde Lebende ihnen lebendige, bewegliche Begriffe, die mit Empfindungen verbunden sind, sendet, kann er sie wahrnehmen und sich mit ihm in Verbindung setzen, was er so gerne tun möchte, weil er ja mit seinem höheren Bewusstsein klarer sieht und den Lebenden helfen möchte.
Und dann führt Rudolf Steiner etwas aus, was ich so gerne früher gewusst hätte, bevor ich meinen Schülern Geographie und Deutsch beibrachte: Er sagt, und das kann ich vollauf bestätigen, dass nur die Deutschen in der Mitte Europas bis in die Sprache hinein sich ihre Beweglichkeit bewahrt hätten und weist in diesem Zusammenhang auf die Lautverschiebung hin, bei der die harten germanischen „Explosiv-Laute“ (Verschlusslaute) p, t und k zu den weichen deutschen Reibelauten (Affrikaten) f, s und ch  wurden.
Ich finde dazu folgende Beispiele: altsächsisch „slapan“ wird zu „schlafen“, altsächsisch „Strata“ zu „Straße“ und altsächsisch „riki“ zu „Reich“. Die englische Sprache macht diese Lautverschiebung, so zeigt Rudolf Steiner weiter auf, nicht mit, sondern beharrt bei der alten germanischen Form: Das „p“ bleibt „p“ in „to sleep“ (= schlafen), das „t“ bleibt „t“ in „street“ (= Straße) und das „k“ bleibt „k“ in dem Verb „to seek“ (= suchen).
Im Angelsächsischen, das unmittelbar aus dem altsächsischen hervorgeht, hat sich also die Sprache nicht weiterentwickelt. Besonders weit ist dagegen die Entwicklung in Süddeutschland gegangen, denn die Norddeutschen haben manche Lautverschiebungen bis heute nicht mitgemacht: So sprechen die Hamburger immer noch von der „Waterkant“ statt von der Wasserkante und die Berliner sagen „ikke“ statt „ich“. Am weitesten ging die Lautverschiebung in der Schweiz, wo aus dem „Kind“ das „Chind“ wird.
Schon allein durch diese Formbarkeit der deutschen Sprache können sich die Verstorbenen besser mit den Lebenden verbinden, wenn sie wollen. Denn nur bewegliche Begriffe, und nicht starre Definitionen können von den Toten wahrgenommen werden.
Und nun kommt Rudolf Steiner zu einer Charakterisierung Deutschlands, die überhaupt nichts Nationalistisches an sich hat, sondern den wissenschaftlich nachvollziehbaren Tatsachen entspricht. Er führt aus, dass die Nachbarländer nie den von den Deutschen für ihr eigenes Land geprägten Namen „Deutschland“ benützen, sondern in der Regel Deutschland mit Namen für Völker bezeichnen, die längst untergegangen sind. Die Engländer und die Italiener sprechen von „Germany“ oder von „Germania“, also geben damit den Deutschen uralte Namen. Die Germanen gibt es seit mindestens tausend Jahren genauso wenig wie die Teutonen oder die Alamannen. Dennoch nennen die Franzosen die Deutschen bis heute „les allemands“ und meinen, dass alle Deutschen „alemannisch“ sprechen würden. Selbst die slawischen Völker kennen das Wort „Deutsch“ nicht, sondern nennen die Deutschen die „Nemetzki“.
Kein anderes Land würde sich das gefallen lassen. Für „Frankreich“ und für die „Angelsachsen“ stimmen die Namen, weil sie eben – sprachlich gesehen – auf ihrer germanischen Stufe stehen geblieben sind: die Franzosen stammen zum Teil von den germanischen Franken, die Engländer von den germanischen Angeln und Sachsen ab. Interessant ist, dass die drei Völker, die Rudolf Steiner im Vortrag vom 15. Januar charakterisiert hat, aus dem „Urbrei“ in der Mitte Europas nach Süden, Westen und Nordwesten gezogen sind: die Priesterkaste der Germanen nach Italien, die Kriegerkaste der Germanen nach Frankreich und die Handwerker- und Händlerkaste der Germanen nach England. In diesen drei europäischen Völkern hat sich das Germanische in gewisser Weise bewahrt.[2]
In Mitteleuropa selbst haben sich die Germanen zu den „Deutschen“ weiterentwickelt. Und so erklang in den Verträgen von Verdun (749), als das Frankenreich Karls des Großen unter seinen drei Enkeln aufgeteilt wurde, zum ersten Mal die Urform des Wortes „deutsch“ in dem germanischen Ausdruck „tiudisc“. Was bedeutet aber „Deutsch“? Das Wort heißt, übersetzt, nichts anderes, als „zum Volk gehörig“ und deutet dabei auf ein Übernationales, auf ein allgemein Menschliches hin.
Diese Zusammenhänge sind heute auch jenen, die bei ihren Demonstrationen im nationalistischen Sinne „Wir sind das Volk“ rufen, in der Regel wohl eher nicht bewusst.



[1] Ich hatte eigentlich nur zwei wirkliche Geschichtslehrer, die mein Interesse an Geschichte befriedigen konnten. An den Geschichtsunterricht im Gymnasium erinnere ich mich nur mit Grausen. Während des Studiums (Germanistik, Geographie und Kunstgeschichte) habe ich auch Geschichtsvorlesungen bei August Nitschke (geboren 1926) und Wolfgang Stürner (geboren 1940) besucht (und mitgeschrieben). Aber ein vertieftes Geschichtsverständnis  habe ich erst durch die beiden Waldorfgeschichtslehrer und Autoren Christoph Lindenberg (1930 - 1999) und Johannes Tautz (1914 - 2008) bekommen. Beide hatten gegensätzliche Herangehensweisen an die Geschichte. Der im Stil eines Professors dozierende Christoph Lindenberg erschien mir durch sein enormes Wissen, seinen gewaltigen Kopf mit der hohen Stirn und seinem apodiktischen Redestil immer als unnahbar. Johannes Tautz hatte für mich durch seinen ganzen Habitus etwas Aristokratisches, war aber menschlich viel zugänglicher als sein Kollege. Auch wissenschaftlich lagen sie weit auseinander, was ihre beiden Veröffentlichungen zum Nationalsozialismus zeigen. Johannes Tautz „dämonisierte“ Adolf Hitler in seinem 1976, auf 1966 gehaltenen Vorträgen basierendem Büchlein „Der Eingriff des Widersachers – Fragen zum okkulten Aspekt des Nationalsozialismus“. Christoph Lindenberg fand einen anderen Zugang zum Nationalsozialismus und hat in seiner 1978 erschienenen Untersuchung „Die Technik des Bösen –Zur Vorgeschichte und Geschichte des Nationalsozialismus“ versucht, die Zeit von 1933 – 1945 als ein dreifaches Vakuum-Phänomen zu erklären.
Beide Historiker aber haben mich zum ersten Mal auf die Bedeutung des Jahres 1917 als Wendejahr hingewiesen.
[2] Allerdings gibt es auch ein paar andere Länder, in denen die Nachbarn nicht den Eigennamen des betreffenden Landes benützen. Ich habe in meinem Crailsheimer Deutschkurs einen Albaner, der in Mazedonien aufgewachsen ist. Er sagt, dass er Albanisch zwar als Muttersprache spricht, aber kein Albaner sei. Die Albaner nennen sich selbst „Skipetaren“, ein Ausdruck, der auf einen Volksstamm zurückgeht, den heute nur noch diejenigen kennen, die einmal Karl May gelesen haben.

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