Naftali Frenkel (ganz rechts) beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals 1932 (Quelle: Wikipedia)
Ich bin immer noch wie gelähmt von der Dokumentation über den GULAG, die mir die Augen über das unvorstellbare Leid des russischen Volkes noch weiter geöffnet hat, auch wenn dieses Öffnen nur Tränen erzeugen kann. Doch muss ich es ertragen wie so vieles andere auch. Wieder werde ich mit einem „beispiellos Bösen“ konfrontiert, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, in dessen zweiter Hälfte ich aufgewachsen bin – in Frieden und Sicherheit. Die unvorstellbaren Gräuel kenne ich nur aus dem „Hörensagen“ und aus solchen Filmen wie dem von Patrick Rotman. Warum wurde meine Generation bisher nur so behütet!? Warum blieben mir bisher die „Lager“ erspart?
Ich lese jetzt Alexander
Solschenizyns erstes Buch, „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“ aus dem Jahre 1962,
um einen realistischen Eindruck vom Lagerleben im GULAG zu bekommen.
Warum ich mir das antue?
Ich fühle mich als glücklicher
Nachgeborener verpflichtet, mich in das unvorstellbare Leid einzufühlen. Ich
denke, dieses Mitgefühl haben die Gefolterten und Getöteten verdient.
Und ich versuche, das „Böse“ zu
verstehen.
Das Böse, das auch heute vor 75
Jahren wieder zuschlug, als alliierte Bomberverbände die Stadt Dresden in
Schutt und Asche legten und Tausende Frauen, Männer und Kinder in den „Feuersturm“
schickten, in die Hölle auf Erden.
Erich Kästner, mein verehrter Schriftstellerkollege, ist in der Stadt an der Elbe aufgewachsen. In seinen
Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ schrieb er über seine
Stadt:
„Wenn es zutreffen sollte, dass
ich nicht nur weiß, was schlimm und hässlich ist, sondern auch, was schön ist,
so verdanke ich diese Gabe dem Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein. Ich
durfte die Schönheit einatmen wie Försterkinder die Waldluft.“
Nach der Zerstörung schrieb er:
„Man geht hindurch, als liefe man
im Traum durch Sodom und Gomorrha. (...) Es ist, als fiele das Herz in eine
tiefe Ohnmacht.“
Nun habe ich mir einmal die Mühe
gemacht, auf Google unter dem Stichwort „Gulag+Patrick Rotman“ nach Rezensionen
bzw. Kritiken der dreiteiligen Dokumentation über den sowjetischen GULAG, den
Arte am Dienstagabend ausstrahlte und der noch bis zum 10. April 2020 in der Arte-Mediathek
verfügbar ist, zu suchen. Aufgefallen ist mir, dass die großen deutschen Tageszeitungen von der „FAZ“, über die „Süddeutsche Zeitung“ und die „TAZ“ bis zur "Bild" die Sendung
mit keiner Silbe erwähnen. Lediglich in den Magazinen „Stern“ (online) und "Fokus", nicht aber im "Spiegel" kam eine
Besprechung, nicht zu vergessen, die „Stuttgarter Zeitung“ und einige kleinere
Regionalzeitungen, die jedoch alle den gleichen dpa-Text abdruckten.
Ich finde, dieses Schweigen
spricht Bände.
Interessant finde ich folgende
Passage aus der Besprechung des „Stern“:
„Um die schrecklichen
Haftbedingungen zu belegen, greifen die drei Filmemacher Patrick Rotman,
Nicolas Werth und François Aymé auf Augenzeugenberichte zurück, die die
russische NGO-Vereinigung «Memorial»[1]
zwischen 1988 und 2014 gesammelt hat. Die Strapazen stehen den Opfern noch in
hohem Alter ins Gesicht geschrieben. Teilweise unter Tränen erzählen sie von
Willkür und drakonischen Strafen, von Vergewaltigungen, Hunger und Seuchen.“[2]
Einer der drei Autoren, Nicolas
Werth, gilt in Frankreich als Spezialist für die Geschichte der Sowjetunion,
wie ich aus einem (nur für Abonnenten reservierten) Beitrag aus „Le Monde“ vom
16. Februar 2019 erfahre:
« Directeur
de recherche au CNRS jusqu’à sa retraite en 2015, Nicolas Werth est un des
plus grands spécialistes français de l’histoire de l’URSS. Il publie Le
Cimetière de l’espérance, série d’articles parus dans le mensuel L’Histoire entre
1981 et 2016, qui offrent une synthèse accessible des connaissances réunies
dans ses livres fondamentaux (Etre communiste en URSS sous Staline, Gallimard,
1981 ; La Terreur et le Désarroi. Staline et son système, Perrin,
2007…). »[3]
Der „Tagesspiegel“ schreibt:
„Die Häftlinge mussten oft unerreichbare Arbeitsnormen
erfüllen, aber an menschlichem Nachschub mangelte es ja nicht. Rotman konnte
auf Zeitzeugen-Interviews zurückgreifen, die die einst von Andrei Sacharow
gegründete Nichtregierungsorganisation Memorial führte: Man sieht alt
gewordene, vom Leben gezeichnete Frauen und Männer, die sich an ihre
Lager-Jahre erinnern, an den Hunger, die schwere Arbeit, die Folter, die
sexuelle Ausbeutung der Frauen, die Hinrichtungen. Oder die an jenen Tag
zurückdenken, als ihre Mütter und Väter in den Tagen des „Großen Terrors“
1937/38 abgeholt wurden. 1,5 Millionen Menschen wurden in jener Zeit in den
Gulag verfrachtet.“[4]
Auch das überregionale „Abendblatt“
sowie „focus.de“ übernehmen diesen Pressebericht unverändert.[5]
Die Geschichte interessiert mich
weiter und nun recherchiere ich in den offiziell zugänglichen Medien, sprich „Wikipedia“.
Unter dem Stichwort „Solowezki-Inseln“ finde ich in einem Eintrag folgenden
Satz:
„Die geografische Lage des
Archipel Solowezki sowie die Tatsache, dass sich im Kloster bereits ein
Gefängnis befand, spielten eine Rolle für die Entstehung der Lager. Alle
klösterlichen Einrichtungen und Einsiedeleien auf der Insel wurden durch die
sowjetischen Behörden in Lagereinrichtungen umfunktioniert.“
Was mit den Mönchen geschah, wird
nicht erwähnt. Vermutlich waren es die ersten Lagerinsassen, wenn sie nicht
getötet worden sind, wie es bei der Auflösung von vielen Klöstern geschehen ist.
Religion war für die Bolschewiki nach Meinung von Lenin „Opium für das Volk“.
Wikipedia weiter:
"Bereits im Mai 1920 entstand im
Kloster ein Arbeitslager, das ab 1923 der Verwaltung der Nördlichen Lager unterstellt wurde. Im Oktober 1923 entstand das ‚Solowezki-Lager zur besonderen
Verwendung‘ (SLON) sowie USLON, die ‚Verwaltung der Solowezki-Lager zur
besonderen Verwendung‘ mit den ersten 130 Insassen. Beide unterstanden der OGPU
in Moskau. Eine ‚Spezialabteilung‘ innerhalb der OGPU hatte die Zuständigkeit der
Lager inne.“[6]
Nun verstehe ich auch, wieso Arte
die Dokumentation über den GULAG ausgerechnet zu Beginn dieses Jahres zeigt:
Wenn man das Jahr 1920 als Begründung des ersten Lagers nimmt, so kommt man in diesem Jahr 2020 auf eine Runde Zahl – 100 Jahre.
In Wikipedia lese ich weiter:
„Eine wesentliche Rolle als
Organisator des Solowezki-Straflagers zu einem Modell für den ganzen GULAG
spielte Naftali Frenkel (1883 – 1960). Das Motto über dem Eingangstor lautete: ‚Lasst
uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben.‘“[7]
Auch über Naftali Aronowitsch
Frenkel kann man Interessantes in einem Wikipedia-Eintrag lesen:
„Frenkel war jüdischer Herkunft
und stammte ursprünglich aus dem Osmanischen Reich oder aus Odessa, der
Geburtsort ist unklar. Er wurde wegen ‚illegalen Grenzübertritts‘ entweder als
Schmuggler oder als erfolgreicher Geschäftsmann im Jahr 1923 zu zehn Jahren
Zwangsarbeit auf den Solowezki-Inseln verurteilt. Dort traf er 1924 oder 1925
ein und brachte es innerhalb kürzester Zeit zum Chef der Betriebs- und
Handelsabteilung.
In dieser Zeit erdachte er einen
Plan zur ‚wirtschaftlicheren‘ Ausbeutung der Häftlinge. Von ihm stammt der
Ausspruch: ‚Aus Häftlingen müssen wir alles in den ersten drei Monaten
herausholen – danach brauchen wir sie nicht mehr.‘ Dazu kam die Idee, die
Essensrationen an die Erfüllung der Arbeitsnormen beziehungsweise die
Arbeitsleistung zu koppeln.
Ob es jemals zu einem Gespräch
zwischen Frenkel und Stalin kam, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass Frenkel
mit den Oberen der OGPU zusammenkam, ihnen seine Pläne zeigte und man ihm
danach freie Hand ließ.
Zwischen 1931 und 1933 hatte er
die Aufsicht über den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, Aufseher im BelBaltLag – ‚für
einen ehemaligen Gefangenen ein unerhörter Aufstieg‘. Dort nahm seine Karriere
einen weiteren Aufstieg. Beim Bau des Kanals starben mindestens 25 000
Menschen. Die Arbeitssklaven bekamen täglich etwa 1300 Kilokalorien an Nahrung.
Nach Fertigstellung des Kanals kam er zur Baikal-Amur-Magistrale,
bis er später für die Leitung der Hauptverwaltung
der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken (GULShDS) verantwortlich wurde.
Frenkel wurde mit dem Orden Held der sozialistischen Arbeit und
dreimal mit dem Leninorden
ausgezeichnet.“[8]
Wenn ich diese Kurzbiographie kommentieren
soll, so fällt mir ein, dass der vergleichbare NS-Kriegsverbrecher Adolf
Eichmann (1906 - 1962) nach einem Schauprozess in Jerusalem am 1. Juni 1962 im Ajalon
Gefängnis in Ramla, Israel, hingerichtet wurde. Naftali Frenkel, ein ähnlicher
Kriegsverbrecher, wurde im Sowjetstaat hoch dekoriert und lebte bis 1960 in
Moskau, wo er mit 77 Jahren starb.
[1]
Gegründet von Andrej Sacharow
[2]
https://www.stern.de/kultur/tv/tv-tipp-gulag---die-sowjetische--hauptverwaltung-der-lager--9131044.html
[3]
https://www.lemonde.fr/idees/article/2019/02/16/nicolas-werth-en-russie-aujourd-hui-on-en-est-a-dire-que-le-goulag-a-contribue-a-la-mise-en-valeur-des-richesses-de-la-siberie_5424387_3232.html
[4]
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/tv-doku-ueber-sowjetische-gulags-stalins-sklaven/25529900.html
[5]
https://www.abendblatt.de/kultur-live/tv-und-medien/article228392145/Gulag-Die-sowjetische-Hauptverwaltung-der-Lager.html
[7]
Ebenda
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