Nun war ich also mit Hamid aus
meinem Kurs, dem vor drei Jahren in der Uni-Klinik Würzburg ein bösartiger
Tumor aus dem Gehirn operiert worden war, und der sich seitdem nicht mehr so
gut konzentrieren kann und vieles vergisst, in Würzburg. Wir brauchten etwa
eine Stunde Zeit für die Fahrt. Um 8.00 Uhr parkte ich das Auto vor der Klinik,
um 8.30 Uhr musste er ins MRT; anschließend musste er mit seinem Arzt sprechen.
Um 11.00 Uhr war er fertig.
Ich wartete geduldig und las in verschiedenen
ausgelegten Zeitschriften, unter anderen in einer Ausgabe der Mode-Zeitschrift „Elle“
vom November 2017. Thema dieses Heftes war die Farbe „blau“. Ein Artikel hat
meine Aufmerksamkeit besonders auf sich gezogen. Er ist überschrieben: „Ach,
Welt...“ und handelt vom „Weltschmerz“. Die Autorin oder der Autor sagt, dass
dieses Wort, das als typisch deutsche Seelenstimmung sogar in andere Sprachen
übernommen wurde[1]
zum ersten Mal von dem Dichter Jean Paul
benutzt wurde. Ein moderneres Wort für diese Stimmung kommt aus dem Englischen
zurück: der „Blues“.
„Der Blues ist nicht bleiern wie
die Depression, nicht schmerzhaft wie die Trauer. Man kann in diese Tristesse
royale lustvoll abtauchen wie in ein warmes Bad. Aber wehe, man schaut durch
diese mitternachtsblau getönte Brille und der Blick fällt auf eine Gruppe
aufgekratzter Menschen, die sich für das siebte Selfie in Pose werfen. Schon
fühlt man sich wie ein Alien. Denn das Glück ist in unserer spaßverliebten
Gesellschaft die Leitkultur du jour. Wer nicht gut drauf ist, dem droht der soziale
Tod.“
Weil ich noch Zeit hatte, bis ich
um 15.00 Uhr für meine Nachhilfeschüler zurück in Crailsheim sein musste,
schlug ich Hamid, der wegen der durch die OP verursachten
Konzentrationsschwierigkeiten immer wieder in Depressionen versinkt und weint,
weil er seiner Frau kein „richtiger Mann“ und seinem 11-jährigen Sohn, der sich
so sehr ein Schwesterchen wünscht, kein „richtiger Vater“ sein kann, vor, ein
wenig durch Würzburg zu laufen. Ich nahm ihn mit in die Hofkirche der Residenz,
nachdem uns ein Blick auf Tiepolos berühmtes Fresko im Treppenhaus verwehrt
worden war, um ihm den barocken Glanz der Marmorsäulen, der weißen Statuen und
der Fresken zu zeigen. Er wollte als tief gläubiger Muslim die Kirche, die hier
eigentlich mehr ein Museum ist, gar nicht betreten. Ich musste ihn geradezu dazu
„überreden“. Ich verstand, dass es ihm unangenehm war, und führte ihn deshalb anschließend
nicht durch den Würzburger Dom, sondern an ihm vorbei bis zur Mainbrücke mit
ihren Heiligen- und Fürstenstatuen aus grauem Sandstein.
Hamid erklärte mir, dass er sich
früher, als er noch in einer kleinen Stadt bei Skopie gewohnt hat,
Kultursendungen gerne im Fernsehen angeschaut hat. An diesem Rosenmontag aber
schien er kein sonderliches Interesse an europäischer Kultur zu haben,
vielleicht, weil er ganz andere Sorgen hatte. Er folgte mir eher wie ein
Diener, der seinem Herrn einen Gefallen tun will. Ich spürte nicht die
geringste Begeisterung.
Natürlich fragte ich mich bei
diesem kurzen Ausflug in die barocke Residenzstadt, wie weit die Integration
unserer muslimischen Mitbürger überhaupt gehen kann. Ich hatte zum wiederholten
Mal erlebt, dass die meisten Menschen vom Balkan oder den arabischen Ländern wenig
Sinn für europäische Kultur haben: das Essen gefällt ihnen nicht, von deutscher
Literatur wissen sie nichts, von deutscher Geschichte kennen sie gerade den
Namen Hitler.
Das wurde mir besonders bewusst,
als ich 2016 mit meinem ersten Kurs, in dem ich vorwiegend akademisch gebildete
Syrer, Iraker und Iraner unterrichten durfte, zu einer „Wilhelm-Busch-Ausstellung“
nach Schwäbisch Hall fuhr, nachdem wir schon im Kurs die ersten Zeilen dieser „Lausbubengeschichte“
rezitiert hatten. Die Kursteilnehmer waren also vorbereitet. Dennoch spürte ich
bei den wenigsten einen echten Zugang. Bei einer recht strenggläubigen Muslimin,
die selber Lehrerin war und drei Kinder hat, erlebte ich sogar offene
Ablehnung. Sie meinte, dass man solch ein Buch mit Kindern nicht lesen dürfe.
Ich bin – offen gesagt – kein großer
Freund der Religion des Islam, auch wenn ich ihn selbstverständlich toleriere
wie jede andere ehrliche religiöse Überzeugung. Schon allein das Frauenbild
Mohameds gefällt mir nicht. Auch das Verbot des Baus christlicher Kirchen in
den meisten muslimischen Ländern finde ich ungerecht.
Ich bin ein religiöser Mensch und
würde mich als Christ bezeichnen. Niemals würde ich mich jedoch deshalb als
eine Art besserer Mensch über andere erheben wollen. Für mich gilt der Satz
Christi: „Was ihr einem der geringsten eurer Brüder getan habt, das habt ihr
mir getan.“
Ich mag nicht, wenn sich Menschen
abfällig über andere Menschen erheben und sei es auch nur über ihre Meinung oder
ihren Glauben. Andererseits kann ich Kritik akzeptieren, denn ich hinterfrage
meine Ansichten jeden Tag. Ich habe die Wahrheit nicht gepachtet.
Deshalb finde ich es so
unverständlich, dass intelligente Menschen ständig andere abkanzeln, die ihre
Meinung offen vertreten. Ich bin kein Anhänger der AfD, aber ich achte die
Menschen- und Bürgerrechtsartikel unseres Grundgesetzes als Grundlage unserer Demokratie.
Wenn diese jedoch ausgehebelt werden, weil sich einige darüber hinwegzusetzen
meinen, weil sie „Kante“ zeigen wollen und Angst vor einer „faschistischen
Machtergreifung“ haben, dann kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Wahl-, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit sind hohe demokratische Güter. Wenn nun einer von einem Teil der
Deutschen auf demokratische Weise gewählten Partei in vielen Städten durch die sogenannten „Antifaschisten“ Versammlungsräume verweigert werden, so kann ich das nicht mehr
akzeptieren. Wenn diejenigen, die sich für etwas Besseres halten, die
Abgeordneten der AfD als „Brandstifter“ und „Rassisten“ klassifizieren, so
führt das nur zu einer Spaltung in unserem Land, die nichts Gutes für
die Zukunft verspricht.
Wer ständig die Worte „Antisemitismus“
und „Rassismus“ im Munde führt, könnte tatsächlich dazu beitragen, dass genau
diese Dinge in einer Art „selffulfilling prophecy“ in naher Zukunft unser Land bestimmen
werden. Nicht die vielen, die ihren Mund nicht aufmachen, weil sie inzwischen
Angst haben, ihre Meinung offen zu sagen, sind die „Bösen“, sondern jene, die
meinen, sie seien die „Besseren“, indem sie in ihrer Selbstüberschätzung
demonstrativ verbal „Haltung“ gegen rechts zeigen. Diese sich selbst für die „Anständigen“
Haltenden degradieren in Wirklichkeit die „Würde“ all jener Menschen, die sie zum
„rechten Pack“ zählen. Schon allein dieser Ausdruck ist genauso diskriminierend
wie die Bezeichnung „Faschist“ für den AfD-Politiker Björn Höcke.
Immer noch steht für mich der Mensch über seiner politischen
Anschauung. Jeder Mensch hat eine Würde, die „unantastbar“ ist. Wer in seiner
ideologischen Verblendung Menschen, die er gar nicht persönlich kennt, zu
Feinden der Demokratie abstempelt, der ist für mich der wahre Feind der
Demokratie.
Wenn es Menschen gibt, bei denen
der „Weltschmerz“ angesichts solcher Einstellungen unerträglich wird, dass sie
ihren Gefühlen in einer Wahnsinnstat Luft verschaffen, dann ist das unendlich
tragisch, aber vielleicht auch eine Folge jener ständigen Isolierung und
Diffamierung, die die „Anständigen“ seit ein paar Jahren betreiben.
Wie unhaltbar die sofort parate
Formel vom „Rassismus“ des Täters von Hanau ist, sieht man schon daran, dass er
in seiner totalen Verzweiflung die eigene Mutter getötet hat, also den
Menschen, der ihm das Leben geschenkt hat. Es ist so wahnsinnig, dass es unendlich
weh tut. Wenn man von Rasse im Sinne von genetischem „Material“ sprechen
möchte, das von einer Generation auf die andere übertragen wird, dann wird man
als echter Rassist nicht seine Mutter töten. Wenn man sich als Mitglied einer "überlegenen" Rasse für wertvoller als andere Menschen hält, dann wird man sich auch nicht
selbst töten.
Ich bleibe dabei: Die Tat von
Hanau war die Wahnsinnstat eines einzelnen, der den „Blues“ nicht mehr
aushielt.
[1]
Ich denke dabei auch an ein anderes
Wort, dass zumindest in den englischsprachigen Ländern bekannt ist, nämlich an
das Wort „german angst“.
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