Theodor Haecker von Richard Seewald
Lena liegt mit Fieber im Bett,
schon den ganzen Tag. Sie kommt einfach nicht heraus aus dem Kranksein.
Ich habe aber die Tatsache
genutzt, dass wir heute Nachmittag nicht einkaufen mussten und bin nach
Forchtenberg gefahren, um an der „Denkarbeit Weiße Rose“ teilzunehmen, die die
unermüdlichen Rosenliebhaber Renate und
Hans-Jürgen Deck an diesem 77. Todestag der zwei Geschwister Sophie und
Johannes Scholl und ihres Freundes Christoph Probst, vorschlugen. Ich kann nur
immer wieder dankbar sein, wenn ich erleben darf, was diese beiden Persönlichkeiten
für das positive Gedächtnis an die drei Märtyrer der NS-Zeit und des
menschenverachtenden Regimes beitragen. Am 22. Februar 1943 endeten die jungen
Leben unter der Guillotine des NS-Regimes.
Das Motto, dass Renate und
Hans-Jürgen ihrem mehrteiligen Gang durch das Gedenkjahr voranstellen, lautet: „Die
weiße Rose ist die Überwindung des Unerklärlichen“ – ein Satz, über den auch
ich noch nachdenken muss.
Um 14.00 Uhr begann der Rundgang,
an dem zunächst etwa fünfundzwanzig, mir zum Teil schon bekannte Menschen
teilnahmen, beim barocken Teehaus jenseits des durch den ergiebigen Regen der
letzten Tage angeschwollenen Kochers in den Kocherwiesen, umgeben von einem
kleinen, noch recht kahlen Gärtlein.
Mein erster Eindruck: ein wahres
Zwergenhaus.
Da ich eine Umleitung benutzen
musste, traf ich eine Viertelstunde zu spät ein und konnte nur noch die
allerletzten Worte, die Renate sprach, hören. So liefen wir gemeinsam über den
Kocher zum Würzburger Tor, dem früheren Wirkensort von Renate und Hans-Jürgen.
Vor der Stadtmauer versammelten wir uns kurz in einem Gärtchen, in dem für die
nächsten Jahre bis zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl im Jahre 2021 ein
Rosengarten eingerichtet werden soll. Hans-Jürgen liest eine kurze
Geschichte von Manfred Kyber vor, den die Scholls auch sehr gern lasen: „Ein
großes Ereignis“ aus den „Tiergeschichten“.
Die dritte Station war das
Rathaus, wo wir uns im Sitzungssaal versammelten, und einem sehr einfühlsamen
Vortrag von Bernhard Woll aus Eberbach an der Jagst über den christlichen Philosophen
Theodor Haecker lauschten, der am 4. Juni 1879 in eben diesem Eberbach-Mulfingen
geboren wurde und einer der geistigen Lehrer der Mitglieder der Weißen Rose,
und insbesondere auch von Sophie und Hans Scholl, war. Herr Woll hatte
verschiedene Werke des bedeutenden Mannes dabei, die leider heute nicht mehr
aufgelegt werden und deswegen nur noch antiquarisch zu haben sind, zum Beispiel
„Vergil, Vater des Abendlandes (Leipzig 1931), „Schöpfer und Schöpfung“
(Leipzig 1934) und die „Tag- und Nachtbücher 1935 - 1945“ (München Kempten
1947), seine Tagebücher, die nur knapp der Konfiszierung (und Vernichtung)
durch die Gestapo entkommen sind, wie Herr Woll anschaulich berichtete. Der
Vortragende las auch die eindrucksvolle, knappe Charakterisierung Theodor
Haeckers durch Sophie Scholls vor, die sie am 7. Februar 1943, zwei Wochen vor
ihrer Hinrichtung, in einem Brief an ihren Verlobten Fritz Hartnagel
aufschrieb:
„Seine Worte fallen langsam wie
Tropfen, die man schon vorher sich ansammeln sieht, und die in diese Erwartung
hinein mit ganz besonderem Gewicht fallen. Er hat ein sehr stilles Gesicht,
einen Blick, als sähe er nach innen. Es hat mich noch niemand so mit seinem
Antlitz überzeugt.“[1]
In seinen „Tag-und Nachtbüchern
schrieb Theodor Haecker 1941 ein „Notat an die Deutschen“:
„Euer Ruhm ist ohne Glanz. Er
leuchtet nicht. Man spricht von euch, weil ihr die besten Maschinen habt – und seid.
In diesem Staunen der Welt ist kein Funke der Liebe. Und nur Liebe gibt Glanz.
Ihr haltet euch für auserwählt, weil ihr die besten Maschinen, Kriegsmaschinen
baut und sie am besten bedient. Ihr seid grotesk und ‚un‘-menschlich. Eine
andere Rasse! Ihr Freunde, nicht diese Menschen! Lasset uns andere schaffen ...
Aber wie? Christlich ist nur ein Weg:
Umkehr, tätige Reue.“
Es leuchtet unmittelbar ein, dass
solche Sätze den damaligen Machthabern nicht gefielen und dass die Wohnung
Theodor Haeckers in München mehrmals durchsucht wurde, wobei die Häscher des
Systems alles auf den Kopf stellten. Wie gefährlich Worte sind, kann man unter
anderem an diesem Mann ablesen, der vor kleinem Kreis las oder sprach und es
schaffte, während der dunklen Jahre bei einem befreundeten Verleger einige hell
leuchtende Bücher zu veröffentlichen.
Renate Deck erzählte
anschließend, wie sie an einem Januar-Tag im Jahr 2005 mit dem Zug im größten
Schneetreiben nach München fuhr, um der Premiere des Films „Sophie Scholl – Die
letzten Tage“ von Marc Rothemund[2] beizuwohnen. Auf dem
Rückweg, der sie über Nürnberg und Ansbach, die beiden Kaspar-Hauser-Städte,
führte, lernte sie bei den verschiedenen durch das Schneetreiben erzwungenen
Verspätungen einen Mann kennen, der in einem Lokal in Mistlau an der Jagst mit
seinem besten Freund verabredet war. Es stellte sich heraus, dass dieser „beste
Freund“ ein Sohn des Bruders von Fritz Hartnagel war.
Renate las abschließend eine
Passage aus einem aus der Feder von Theodor Haecker stammenden Bericht über die
Hinrichtung des Lordkanzlers Thomas Morus unter dem englischen König Heinrich
VIII. vor, was wie eine Vorausdeutung auf die Hinrichtung des jungen
Dreigestirns war. Es wurde eine Parallele zwischen dem tyrannischen Heinrich
und Hitler angedeutet. Thomas Morus blieb bis zum Schluss „königstreu“, die
Geschwister Scholl waren es bis zu dem Tag, als Hans auf dem Weg an die
Ostfront sah, wie die Nazis die Juden behandelten. Damals wurden sie von
Anhängern zu erbitterten Gegnern des Regimes, was ihnen schließlich das Leben
kostete.
Die vierte Station unseres
Rundgangs war die evangelische Michaelskirche, in der Sophie Scholl am 10. Juli
1921 getauft worden ist. Man muss eine steile Treppe hoch steigen, um zu der
Kirche, die auf mittlerer Höhe des Kochertalhanges, an dem das Städtlein
Forchtenberg gelegen ist, zu gelangen. Eine Gedenktafel erinnert an den letzten
Traum, den Sophie Scholl ihrer Gefängniswärterin erzählte. Sie sah sich im
Traum in einem langen weißen Kleid einen steilen Weg hinaufsteigen. Dabei trug
sie ein Kind. Einmal drohte sie das Kind zu verlieren, aber es gelang ihr, es
rechtzeitig zu retten. Das Kind, so interpretierte Sophie Scholl den Traum
selber, seien die Ideen der Weißen Rose, die ja maßgeblich von zwei Denkern
beeinflusst waren: Von dem vorhin genannten Theodor Haecker und von dem
Kirchenvater Augustinus, dessen Büchlein „Die Bekenntnisse“ Sophie Scholl immer
bei sich trug.
Pfarrer Bernhard Glück führt uns
in der Kirche in das Leben und Denken des auch für Martin Luther wichtigen
Kirchenvaters ein. Ein Zitat, das vor allem Hans (Johannes) Scholl gefallen
haben dürfte, der gerne schrieb, gefällt auch mir:
„Durch das Schreiben komme ich
vorwärts und im Vorwärtskommen schreibe ich.“
Renate Deck beendet den
Nachmittag mit einem wunderbaren Bild. Sie erinnert an das Märchen von
Schneewittchen, das hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen vor ihrer
bösen Stiefmutter Schutz suchte und fand, bis diese es dennoch schaffte, sie zu
vergiften. Das Bild vom Schneewittchen im gläsernen Sarg mag auch auf die drei
Märtyrer und insbesondere auf Sophie Scholl hindeuten, deren mutiges Eintreten
für ein neues Menschengeschlecht eines Tages Früchte tragen wird.
Die doppelte Nennung der Zahl „sieben“
in dem Märchen weist auf den heutigen Tag, denn es ist genau 77 Jahre her, seitdem
das Schicksal der drei mutigen jungen Menschen besiegelt wurde und sie dadurch die
Ehre Deutschlands retteten, indem sie zeigten, dass die Deutschen nicht nur
Kriegsmaschinen bedienen können: Es ist seliger gehasst zu werden als zu
hassen.
Vielleicht sind die etwa 14 Zuhörer,
die bis zum Abschluss ausgeharrt haben, die Vorläufer dieses neuen
Menschengeschlechts.
Renate und Hans-Jürgen Deck sind
es mit Sicherheit.
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