Heute Morgen bin ich mit der Melodie einer Arie aufgewacht, die
einstmals Raphaela so wunderschön gesungen hat: es ist die französische Fassung
des Klagelieds des Orpheus aus der Oper „Orpheus und Eurydike“ von Christoph
Willibald Gluck aus dem Jahre 1774 (Pariser Fassung)[1]:
„J’ai perdu mon Eurydice“. Immer wieder erklingt in der Arie der Klageruf: „Rien n'egale mon chagrin!“
Die Arie ist ein reiner Ohrwurm, aber sie drückt das Gefühl sehr
gut aus, das ich etwa eine Woche lang hatte: die Klage um meine Exfrau, die am
Donnerstag Gottseidank aus dem Totenreich zurückgekehrt ist.
Gestern schaute ich mit Lena spontan die Adaption des antiken Mythos
durch Jean Cocteau an, der in seinem 1950 in die Kinos gekommenen Film „Orphee“
aus dem Jahre 1949 einen modernen Dichter (gespielt von Jean Marais) zeigt, der
sich in den Tod („Princesse La Mort“, gespielt von Maria Cesares) verliebt, der
seine Liebe erwidert und ihm die Frau Euridice (gespielt von Maria Dea) raubt,
damit er allein „ihm“ gehört. Im Französischen ist der Tod weiblich; deshalb
wird er von einer edlen Dame dargestellt, die es auf den eitlen Dichter
abgesehen hat.
Ganz überzeugt hat mich die filmische „Jenseitswanderung“, die der
Künstler Jean Cocteau „als Gedankenspiel und Symbolinszenierung“ geschaffen
hat, nicht, auch wenn es natürlich, rein intellektuell, reizvoll ist, all die
Symbole, die in dem Film auftreten, zu deuten. Lena in ihrer gesunden Art
konnte dem Film bis zum Ende nichts abgewinnen und sagte zum Schluss, als „La
Mort“ und Merkur-Heurtebise „abgeführt“ werden, um vor eine höhere Instanz zu
treten, deren Gesetze sie verletzt hatten, ganz trocken: „Der Tod wirft keine
Schatten!“ Vielleicht hat sie ihn nur deshalb zu Ende angeschaut, weil auch die
junge Juliette Creco, die wir 2016 in Paris bei einem Konzert erlebt haben,
mitgespielt hat. Die Sängerin tritt in der Rolle einer feministischen Freundin
von Eurydice auf, die Orphees Frau im Sinne Simone de Beauvoirs beeinflusst, damit
sie mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem dominierenden Poeten erlangt.[2]
In der Gestalt des „Orpheus“ malt Jean Cocteau (5.7.1889 – 11.10.1963)
mit Sicherheit ein Selbstporträt, denn der auf vielen Gebieten tätige,
bisexuelle Künstler war sehr von sich selbst überzeugt. So macht Orphee im Film
einen Unterschied zwischen „Schriftsteller“ und „Dichter“ (Poet), wenn er sagt:
„Dichten heißt, den Göttern nahe zu sein.“
Sicher war diese Aussage keine Banalität und ich denke, er meinte
es ehrlich. Aber seine Jenseitsvorstellungen sind dennoch eher surrealistische
Spielereien und haben nichts mit den Erlebnissen der menschlichen Seele nach
dem Tode, wie sie in den Schilderungen von Rudolf Steiner deutlich werden,
gemein. Die Toten wandeln in Cocteaus Film eher durch ein alptraumhaftes
Spiegelkabinett, in dem vier böse Richter herrschen. Von der Lichtgestalt, die
so viele vom Tode Zurückgekehrten beschreiben, findet sich in Cocteaus Film
keine Spur.
Jean Cocteau kann man zunächst schwer einordnen. Einerseits wurde
er in Frankreich als „Dichterfürst“ gefeiert, 1955 sogar in die „Academie
Francaise“ aufgenommen. Andererseits nahmen ihm viele Franzosen die
Freundschaft zu dem deutschen Bildhauer Arno Breker übel, der auch für das
Hitler-Regime gearbeitet hat.
Auch von den Surrealisten wurde Jean Cocteau nicht
hundertprozentig anerkannt. Andre Breton, der selbsternannte Führer dieser
Gruppe, nannte ihn 1953 einen „notorischen falschen Dichter, einen Versmacher,
der alles, was er berührt, entwertet statt aufwertet.“
In dem Buch „Der Heilige Gral und seine Erben“ von dem Autorentrio
Henri Lincoln, Michael Baighent und Richard Leigh (1982) lese ich:
„Cocteau, der einer Familie angesehener Juristen und Politiker
entstammte, verließ mit Fünfzehn sein Elternhaus und stürzte sich in die
Subkultur von Marseille. Als Zwanzigjähriger hatte er sich in der Boheme
etabliert und verkehrte mit Proust, Gide und Barres. Einer seiner Freunde war
Victor Hugos Urenkel Jean, dessen spiritualistische und okkulte Vorlieben er
teilte. Spätestens seit 1912 stand er in regem Kontakt mit Debussy, den er
häufig, wenn auch unverbindlich in seinen Tagebüchern erwähnt. Im Jahre 1926
entwarf Cocteau das Bühnenbild für eine Aufführung der Oper „Pelleas et Melisande“,
weil er, wie ein Zeitgenosse bemerkte, ‚der Versuchung nicht widerstehen
konnte, seinen Namen für alle Zeiten mit dem Claude Debussys zu verbinden.‘“ (Taschenbuchausgabe,
11. Auflage 2005, S. 129)
Die drei Autoren machen ihn zu einem der Großmeister der
geheimnisvollen Bruderschaft „Prieure de Sion“ und erläutern, dass alle
Großmeister des Ordens mit Vornamen „Jean“ (Johannes) hießen, weil sie sich
nicht in der Tradition des Apostels Petrus, sondern in der Tradition des „Jüngers,
den der Herr liebhatte“ sahen.
Ich habe an anderer Stelle bereits festgestellt, dass ich diese
Parallelorganisation der Templer für ein Konstrukt und den ganzen Zirkus um die
sogenannten „Dokumente“ („Dossiers secrets“), die die Existenz eines solchen
Ordens beweisen sollen, für eine Mystifikation halte. Dennoch finde ich es
interessant, dass der Franzose, der sich in einem Zeitraum von 30 Jahren und in
drei Filmen mit dem Mythos von Orpheus beschäftigt hat („Le Sang d’un Poete“,
1930, „Orphee“, 1949/50 und „Le Testament d’Orphee“, 1960) von dem Trio zum „Großmeister
des Ordens“ erklärt wird.
Ich halte den Künstler, dessen Adaption des Barockmärchens „La
Belle et la Bete“ von Madame Leprince de Beaumont in einer ersten Kinoversion
im Jahre 1946 mir einst sehr viel bedeutet hat, eher für einen „Verführer“ und einen
„in dunkle Gefilde verirrten“ Geistessucher, der durch seine Opiumsucht die
sicher vorhandenen Anlagen korrumpiert hat. Er hat zwar auch einige Kapellen
ausgemalt, so zum Beispiel diejenige von Milly La Foret südlich von Paris, in
der er seine letzte Ruhestätte gefunden hat, aber sein Verhältnis zum
Christusimpuls war offensichtlich eher ambivalent, wie ich folgender
Schilderung aus dem oben erwähnten „Gralbuch“ entnehme:
„Gleich Sauniere verwandte Cocteau zum Beispiel bei seinen für
Kirchenräume bestimmten Arbeiten mitunter eigenartige und vieldeutige Motive,
von denen einige in der Kirche Notre Dame de France in London zu bewundern
sind. Die 1865 erbaute Kirche wurde 1940 durch Bomben zerstört und nach dem
Krieg von französischen Künstlern restauriert und neu ausgestaltet. 1959 schuf
Cocteau für dieses Gotteshaus eine Reihe von Wandgemälden, darunter auch eine
höchst sonderbare Darstellung der Kreuzigung Christi. Die Sonne ist schwarz,
und in der rechten unteren Ecke steht eine düstere, grün getönte, nicht weiter
erkennbare Gestalt. Ein römischer Soldat trägt einen Schild mit der
heraldischen Darstellung eines Vogels (eine Anspielung auf Horus?). Unter den
wehklagenden Frauen und den würfelnden Zenturionen befinden sich zwei im Stil
des zwanzigsten Jahrhunderts gekleidete Männer, von denen einer Cocteau selber
ist. Bemerkenswerterweise kehrt er dem Kreuz den Rücken zu. Am auffallendsten
aber ist der Ausschnitt, den das Wandgemälde zeigt: Man sieht nur den unteren
Teil des Kreuzes (bis zu den Knien des Gekreuzigten), ohne genau zu wissen, wer
da ans Kreuz geschlagen wurde. Und zu Füßen des Unbekannten ist eine
überdimensional große Rose am Kreuz befestigt. Kurzum: Das Gemälde ist
eindeutig ein Sinnbild, und ein recht sonderbares zumal für die katholische
Kirche.“ (S 130)
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