Freitag, 6. März 2020

Oberwelt und Unterwelt (Erster Teil)



Michelangelo: Vertreibung aus dem Paradies, Sixtinische Kapelle, Rom

Nun habe ich in den vergangenen Tagen die sechs Berliner Vorträge Rudolf Steiners zum Fünften Evangelium (GA 148) wieder gelesen. Vieles war mir noch vertraut, und doch ist es immer wieder gut, die Einzelheiten zu erinnern.
Im letzten Vortrag vom 10. Februar 1914, den ich gestern las, spricht Rudolf Steiner von den drei „Vorstufen des Mysteriums von Golgatha“ in der geistigen Welt. In irdische Sprache übersetzt hat sich die Christus-Wesenheit bereits dreimal mit der noch unverkörperten Seele des nathanischen Jesus, den Rudolf Steiner an anderer Stelle auch „die Schwesterseele Adams“ nennt, verbunden: zum ersten Mal während der lemurischen Zeit, als es darum ging, den luziferischen Einfluss auf die zwölf Sinne des werdenden Menschenwesens auszugleichen. Damals hätten die Menschen ohne diesen Ausgleich Sinne entwickelt, die ihnen einerseits zu große Lust, andererseits zu großen Schmerz bereitet hätten, wenn sie sich in der Welt umgeschaut hätten.
Es war, das ergänze ich, die Zeit der überdimensionierten Reptilien, die man einerseits als Saurier bezeichnet, die andererseits in der Imagination als Drachen erscheinen.[1]
Der zweite Angriff auf die Evolution des werdenden Menschen fand zu Beginn der atlantischen Zeit statt, als Luzifer und Ahriman vereint die sogenannten „sieben Lebensorgane“ korrumpieren wollten, so dass die Menschen zwischen Gier und Ekel hin und her schwanken mussten. Damals verband sich das Christuswesen zum zweiten Mal mit dem nathanischen Jesus – abermals in der geistigen Welt – und milderte so den Einfluss der Widersachermächte.
Der dritte Angriff war ein Angriff Ahrimans auf die drei Seelenglieder Denken, Fühlen und Wollen. Er ereignete sich am Ende der atlantischen Zeit. Wieder brachte Christus das Opfer und verband sich zum Wohle der Menschheit mit der Seele des nathanischen Jesus. Ohne dieses Opfer würde der Mensch zwischen Hypochondrie und Wahnsinn hin und hergerissen sein. Durch das Opfer wurden die drei Seelenfähigkeiten harmonisiert.
Rudolf Steiner erklärt nun in dem Berliner Vortrag, dass in der griechischen Mythologie ein Abglanz dieses dritten Opfers zu finden sei:
„Die Griechen stellten dar den Christus, durchseelend den späteren nathanischen Jesusknaben, als ihren Apollo. (...) sie hatten jenen kastalischen Quell am Parnassos, an dem sich eröffnete aus der Erde heraus ein Schlund, aus dem Dämpfe aufstiegen. Diese Dämpfe umgaben schlangenartig den Berg, so dass man in diesen schlangenartig den Berg umgebenden Dämpfen selber ein Bild hatte der wild stürmenden menschlichen Leidenschaften, die Denken, Fühlen und Wollen in Unordnung bringen. Über dem Erdschlund, an der Stelle, wo diese schlangenartigen Dämpfe herauskamen, in denen der Python lebte, errichtete man jene Orakelstelle, welche der Pythia geweiht war. Die Pythia saß auf ihrem Dreifuß über diesem Erdschlund und wurde durch die heraufsteigenden Dämpfe in einen visionären Zustand gebracht, und was sie in diesem Zustande sprach, das fasste man auf als den Ausspruch des Apollo selber. Und die, welche Ratschlüsse haben wollten, schickten zur Pythia und ließen sich von Apollo durch den Mund der Pythia Rat erteilen.
Die Anschauung lag also bei den Griechen zugrunde, dass Apollo zurückführt auf eine wirkliche Wesenheit. Jetzt kennen wir diese Wesenheit. Es ist der von dem Christus durchseelte spätere nathanische Jesusknabe, Apollo bei den Griechen genannt. Er nimmt dem, was aus der Erde in der Seele der Pythia aufsteigt, seine luziferisch-ahrimanische Wirkung. Und weil in den Dämpfen das Opfer Apollos aufsteigt, so sind sie nicht mehr verwirrend, sondern weise ordnend Denken, Fühlen und Wollen für die Griechen.“ (S 196f)
Solche Mitteilungen finde ich atemberaubend schön. Hier erklingt echte Mysteriensprache, damals nur für einen kleinen Kreis von Menschen hörbar, die sich in der Berliner Loge der Theosophischen Gesellschaft versammelt hatten.
Jacques Offenbach und seine Librettisten hatten offenbar von dem Mysterienhintergrund der Sage keine Ahnung, als sie die Gesellschaftssatire „Orpheus in der Unterwelt“ entwarfen und komponierten.
Schon früh in der Barockzeit hatte die Sage des göttlichen Sängers die Komponisten angezogen; so war es Claudio Monteverdi, der seine „Favola in Musica“ am 24. Februar 1607 anlässlich des Geburtstages von Herzog Francesco IV. von Gonzaga in Mantua aufführen ließ. Das Musikstück gilt heute als erste Oper.

Auch das Datum ist interessant: es war im Jahre 1607, ein Jahr, das Rudolf Steiner explizit im fünften Berliner Vortrag zum Fünften Evangelium erwähnt, wo er ausführlich aus dem Werk „Harmonices Mundi“ von Johannes Kepler zitiert, das in diesem Jahr erschienen ist.
In dem vierten der Berliner Vorträge hat Rudolf Steiner von dem Gespräch zwischen Jesus von Nazareth und seiner Mutter erzählt, das unmittelbar vor der Jordantaufe stattfand. Damals geschah mit den beiden Persönlichkeiten etwas Außergewöhnliches, was nur durch den entwickelten Hellseher aus der „Akasha-Chronik“ erfahren werden kann. Weil Rudolf Steiner das konnte, haben wir heute diese einzigartigen Mitteilungen aus dem „Fünften Evangelium“, die für meinen Geschmack alles „übertreffen“, was Judith von Halle, Therese Neumann oder Anna Katharina Emmerich vom irdischen Leben des Jesus von Nazareth berichtet haben.
Das Außergewöhnliche war jener geradezu einmalige Austausch der Wesensglieder. Die salomonische Maria, die nun die „Stief- und Ziehmutter“ des Jesus war, ist nun von der Seele der nathanischen Mutter, die bereits vor 18 Jahren, als ihr Sohn 12 Jahre alt war, verstorben ist, durchdrungen worden. „Für den Jesus von Nazareth selbst aber ergab sich, dass mit seinen Worten gleichsam das Ich des Zarathustra fortgegangen war. Was sich jetzt auf den Weg machte zur Johannestaufe im Jordan, das war im Grunde genommen der nathanische Jesus, der die drei Hüllen in der Weise gestaltet hatte, wie es öfter besprochen worden ist, ohne das Ich des Zarathustra, aber mit den Wirkungen des Zarathustra-Ichs, so dass tatsächlich alles, was das Zarathustra-Ich in diese dreifache Hülle hineingießen konnte, in dieser dreifachen Hülle auch war.“ (Vierter Vortrag vom 6. Januar 1914, S 155f).
Nun erzählt Rudolf Steiner im fünften Vortrag vom 13. Januar 1914 von Johannes dem Täufer, der dazu prädestiniert war, dass nun das göttlich-geistige Christuswesen in der Taufe den Leib des Jesus von Nazareth ergreifen konnte. „Dies ist mein geliebter Sohn, den ich an diesem Tage empfangen habe.“ So erklingt die Stimme aus den Himmeln, als Johannes den Jesus in die Wasser des Jordans untertaucht. Die christliche Kirche feiert diesen – leider kaum noch verstandenen Akt – als Epiphanias. Das bedeutet: Erscheinung und meint die Erscheinung des Gottes in einem Menschen.
Johannes der Täufer, so erläutert Rudolf Steiner weiter, hatte noch ganz in der hebräischen Vererbungslinie gestanden, die auf Abraham zurückgeht.
Der hebräische Gott Jahwe ist einer der sieben Elohim, der sich insbesondere um die Schaffung des menschlichen Hauptes „kümmerte“. Rudolf Steiner führt weiter aus:
„Gleich zu Beginn der Genesis wird uns dargestellt, dass Jahwe den Menschen aus der Substanz der Erde macht. Adam heißt: der aus der Erde Gemachte, der Erdene. Und während die um das althebräische Volk herumlebenden Religionssysteme (...) überall darauf ausgehen, in demjenigen, was nicht eigentlich der Erde entstammt, sondern was von außen in die Erde hereinkommt, die Elemente zu sehen, in denen sie ihre Götter verehren, sieht das althebräische Altertum in demjenigen, was durch die Erde auf der Erde vor sich geht, die Elemente, in denen der Gott Jahve (...) verehrt werden soll. Zum Sternenhimmel, nach den Gestirnen und ihrem Gange schauen einzelne der umliegenden Völker auf. Sie haben das, was man eine Astralreligion nennt. Und andere Völker wieder beobachten Blitz und Donner und wie sich darin die Elemente äußern, und fragen sich dann: wie kündigen sich durch die Sprache von Blitz und Donner, von Wolkenbildungen und dergleichen die göttlich-geistigen Wesen an?
Man beachtet (...) heute viel zu wenig, dass es dem althebräischen Altertum eigen ist, sich ganz und gar mit der Erde, mit dem, was vom Inneren der Erde kommt, als zusammenhängend zu betrachten.“ (Fünfter Vortrag vom 13. Januar 1914, S 174f)
Jahve ist, so sagt Rudolf Steiner in diesem Vortrag, vor allem eine „Erdengottheit“, auch wenn er sie an anderer Stelle mit dem Mond in Verbindung bringt. Dann meint er jedoch den Mond als dasjenige Gestirn, das bei der Schaffung des Spiegelorgans des menschlichen Gehirns maßgeblich beteiligt war.
„Die exponierteste Religion unter den damaligen Völkern hatten die alten Juden. Und wie die Menschen heute nicht glauben können, dass man sozusagen nicht nach oben, sondern nach dem Erdmittelpunkt hinschauen kann, wenn man von dem Gotte redet, an den man sich zunächst als einen höchsten wendet, so empfanden dieses Streben nach oben auch die Juden; und sie empfanden dieses Streben nach oben insbesondere, wenn sie bei allen umliegenden Völkerschaften sahen: die beten an, was außerhalb der Erde seinen Ursprung hat.
Es war aber gerade der große Unterschied der jüdischen Geheimlehre gegenüber den außer dieser Geheimlehre Stehenden, dass sie den Menschen klarmachte: Aus der Erde gehen die Kräfte hervor, selbst bis zum Monde herauf, an die wir uns zu halten haben, und es ist eine Versuchung, sich an andere Kräfte zu halten; denn die anderen Kräfte sind konzentriert in dem, was das Schlangensymbolum ausdrückt.“ (S 176f)
Dieses Schlangensymbolum gilt natürlich auch für die Versuchung im Paradies. In der Schlange sehen die hellsichtigen Priester Luzifer am Werke. Vor diesem Verführer warnte Johannes der Täufer, als er den Juden den Ausdruck „Ihr Otterngezücht“ entgegen schleuderte. Nicht Kinder Abrahams, sondern Kinder der Schlange seien sie.
Rudolf Steiner geht auch auf die Gegend am Jordan ein, wo dann die Taufe stattfand:
„In den Gegenden, in denen der Täufer Johannes seine Worte sprach, waren alte Lehren vorhanden, welche man etwa in der folgenden Weise charakterisieren kann: Ja, im Beginne der Menschheitsentwickelung haben einmal aus dem Jahve-Ursprung heraus der Mensch und die höheren Tiere den Luftatem bekommen; aber durch die Tat des Luzifer ist der Luftatem schlecht geworden. Nur diejenigen Tiere sind gut geblieben, sind sozusagen im Stadium der ursprünglichen Entwicklung geblieben, die nicht den Luftatem haben: die Fische. – Da mochten denn manche hingekommen sein nach dem Jordan – wie es in manchen Gegenden die Juden heute noch tun – und zu einer gewissen Zeit des Jahres sich an das Gewässer hingestellt und ihre Kleider geschüttelt haben, weil sie glaubten, dadurch ihre Sünden den unschuldigen Fischen hinzuwerfen, die sie dann weiter zu tragen hätten.“ (S 179)
Seit der Jordantaufe leben in der menschlichen Seele “Inhalte, die von außerirdischen Regionen kommen, die nicht bloß vererbt sind. Alles, was man vorher hat wissen können: es ist bloß vererbt, es ist mit den physischen Verhältnissen von Generation zu Generation übergegangen. Und der Letzte, der es noch dazu gebracht hatte, höhere Fähigkeiten zu erwerben auf Grundlage dessen, was man vererben kann, das ist Johannes der Täufer. ‚Einer der größten von denjenigen, die vom Weibe geboren sind‘, so sagt der Christus Jesus von ihm.“ (S 184)
Nun zitiert Rudolf Steiner eine lange Passage aus dem 1607 erschienenen Buche „Harmonices Mundi“ von Johannes Kepler aus dem siebten Kapitel des vierten Buches. Er nennt diese Passage einen „durchchristeten Aufblick nach oben“. In Keplers Worten, die ich hier nicht zitieren kann, „klingt schon herauf, was neuerdings das Aufschauen zu den Sternen wiederum werden soll: es ist das neue Lesen in der Sternenschrift, wie wir es in unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung versuchen.“ (Rudolf Steiner, S 188).
Was Rudolf Steiner zuerst vom 1. Oktober bis zum 6. Oktober 1913 in fünf Vorträgen in Oslo (damals Kristiania genannt) als „Das fünfte Evangelium“ verkündete, ist aus der „Sternenschrift“ heruntergeholte Weisheit.
Marie Steiner hat die fünf Osloer Vorträge kurz vor ihrem Tod in Druck gegeben, so dass sie im Jahre 1948 unter dem Titel „Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium“ in Dornach erscheinen konnten. Diese Vorträge sind gewiss nur von einem kleinen Kreis von Menschen gelesen worden. Erst 1963 wurden dann die übrigen Vorträge zum Fünften Evangelium zusammen mit den Osloer Mitteilungen in der Gesamtausgabe veröffentlicht. Damit waren 50 Jahre seit 1913 vergangen, in denen ein größerer Teil der Menschheit reif geworden war, diese Geheimnisse zu erfahren, die das Verständnis des Christentums und des sogenannten „Mysteriums von Golgatha“ ungeheuer vertiefen können.



[1] Ich denke, hier handelt es sich um den in der Genesis beschriebenen „Sündenfall“, als die Schlange Luzifer die beiden ersten Menschen überredete, vom Baum der Erkenntnis zu essen.

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