Neulich war ich kurz im Kaufland-Einkaufszentrum, um etwas zurückzugeben. Ich kaufte fünf Bio-Bananen und stellte mich damit in die
Schlange vor der Kasse. Das ältere Ehepaar vor mir hatte mehrere Packungen
„Schwäbische Spätzle“ im Einkaufswagen, andere Klopapier oder Küchenrollen. An
der Parallel-Kasse stand eine Oma mit ihrem Enkelkind. Weil es die Mütze tief
über die Stirn, fast bis zu den Augen gezogen hatte, konnte ich nicht erkennen,
ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Das etwa siebenjährige Kind sang in einem
fort „Jingle Bells“ und konnte nicht mehr aufhören. Alle drehten sich nach ihm
um, weil es etwas merkwürdig war, im März ein Weihnachtslied zu hören. Weil ich
mit meinen fünf Bananen länger warten musste, hatte ich das Vergnügen, diesen
amerikanischen Schlager gefühlte zwanzigmal anhören zu dürfen. Keiner der
Kunden war auf die Idee gekommen, mich vorzulassen, obwohl alle volle Wägen
hatten und ich nur Bananen für 1,73 Euro. Über der Kasse hing ein Schild: „Wenn
möglich mit Karte bezahlen“. So malte ich mir im Warten eine kleine
Horrorgeschichte aus: Ich stellte mir
vor, dass das Chorona-Virus die Menschen mutiert hätte: die Erwachsenen waren
noch egoistischer geworden und die Kinder verwechselten die Zeiten. So hörte
ich plötzlich „Jingle Bells“ nicht nur im Kaufland, sondern in allen
Supermärkten und Einkaufszentren von Aldi bis Lidl, von Penny bis Norma, in
denen die Erwachsenen, angesteckt von Virusangst, Nudeln und Toilettenpapier
„hamstern“. Und Siebenjährige Kinder singen Jingle Bells als neue Hymne des
Virus: „Jingle all the way!“
Es wird immer verrückter: Nun wurde gestern, am Freitag, den 13. beschlossen,
Schulen und Kindergärten ab kommenden Montag bzw. Dienstag bundesweit zu
schließen, vermutlich bis zu den Osterferien, also länger als einen Monat. Auch
in der Waldorfschule in Aalen wird ab nächsten Dienstag kein Unterricht mehr
stattfinden, erfuhr ich gestern von meinem Sohn. Meine Enkelin kann nicht mehr in den
Kindergarten gehen. Ob meine Kurse auch ausfallen, weiß ich noch nicht. Es wäre
eine kleine Katastrophe für mich, denn ich rechne fest mit den Honoraren, die
mich endlich aus meiner Schuldenkrise befreien würden. Auch Raphaelas Auftritte
wurden alle abgesagt. Für die Künstler soll es zumindest einen Sozialfonds
geben.
Aber andererseits verstehe ich die Vorsichtsmaßnahmen. Nur so kann
man die Ausbreitung der Pandemie verhindern.
Allerdings frage ich mich immerzu, wieso diese Seuche gerade jetzt
die gesamte Menschheit befällt. Der Zeitpunkt zu Beginn des Frühlings, inmitten
der christlichen Passionszeit, die manche auch zum Fasten benützen, erinnert
mich an das Eingreifen einer höheren Macht. Ich versuche immer, die Dinge von
ihrer spirituellen Seite und positiv zu sehen. So denke ich, dass für viele
Menschen solch eine Unterbrechung ihres angespannten Arbeitslebens eine
Möglichkeit darstellt, zur Besinnung zu kommen und sich auf etwas Wesentliches
zu konzentrieren. Das rastlose, ungebremste Leben, das alle in seinen Wirbel zu
ziehen droht, steht scheinbar einen Moment lang still, und zwar weltweit. Wir
Menschen haben jetzt die Chance, dem „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio) zu
entkommen und uns neu zu sortieren. Es wird weniger geflogen, es wird weniger
Auto gefahren: die Umwelt dankt es uns. Die Tage werden wieder länger, wir
verbrauchen weniger Strom: auch das kommt der Umwelt zugute. Das Wichtigste
aber für manche Menschen scheint zu sein, genügend Klopapier, Nudeln und Mehl
in der Küche oder in der Toilette zu haben.
Wenn nun zum Beispiel die isolierten Bewohner in den Städten
Italiens beginnen, von ihren Balkonen aus zu singen, dann wäre das in meinen
Augen eine sinnvolle Betätigung. Der Phantasie sind jetzt keine Grenzen
gesetzt, die Krise kreativ zu nützen.
Gestern habe ich mit Lena Steven Soderberghs Endzeit-Vision „Contagion“
aus dem Jahre 2011[1]
angeschaut, in der erzählt wird, wie eine weltweite Pandemie Millionen von
Menschen dahinrafft. Der Film ist sicher, im Vergleich zu dem, was wirklich
passiert, übertrieben, aber er scheint erstaunlich aktuell: die Ursache der
Pandemie liegt in der Übertragung des Virus von einer in China heimischen Fledermausart auf Schweine und von dort auf Chinesen, die Schweinefleisch gegessen haben.
Wenn die Krise dazu beitragen würde, dass weniger (Schweine-)
Fleisch verzehrt werden würde, dann wäre das auch ein positiver Effekt.
Seit zwei Monaten beziehe ich täglich die Bildzeitung im
Abonnement. Nur wer einmal dieses Experiment macht, kann sich, so meine ich, ein zutreffendes Urteil über dieses Boulevard-Blatt bilden. Natürlich bin ich in den vergangenen
acht Wochen kein Fan dieser Zeitung geworden. Einen solchen radikalen Gesinnungswechsel
von einem ehemaligen Sympathisanten der 68er-Jugendbewegung, der in der „Springerpresse“
die „Vorhut des Kapitals“ und den „reaktionären Geist“ der alten Bundesrepublik
am Werk sah, werde ich auch heute nicht vollziehen. Ich lese sie jedoch jeden
Tag und staune, wie genau die Bild-Journalisten auf die allgemeine Stimmung der
„einfachen Menschen“ reagieren. Sie haben wirklich den Daumen am „Puls der Zeit“.
Das ist, von einem volkspsychologischen Gesichtspunkt aus, schon interessant.
Im Januar hatte ich den zustimmenden Kommentar von Chefredakteur Julian
Reichelt zur Liquidierung von Ghassem Suleimani
und sieben seiner Gefährten durch eine amerikanische Bombe noch kritisiert[2],
heute kann ich den Kommentar von Matthias Döpfner einmal vorbehaltlos loben. Der
Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlages schreibt auf der Titelseite der
heutigen Ausgabe (vom 14.03.2020) unter der Überschrift „Die wahren Helden“:
„Die Corona-Krise lenkt den Blick auf Ärzte, Virologen und
Intensivmediziner in den Krankenhäusern. Die ‚Götter in Weiß‘ stehen wieder im
Mittelpunkt, weil jeder weiß, wenn es darauf ankommt, liegt unser Leben in
ihrer Hand.[3]
Ich danke allen Ärzten. Ich bewundere und verehre sie.[4]
Die wahren Helden aber sind für mich die Krankenschwestern und
Pfleger. Sie sind es, die unsere Hand halten, wenn wir Angst haben vor einer
schmerzhaften Behandlung, die uns aufmuntern, wenn wir vor einer Operation in
düstere Gedanken sinken, die uns trösten, wenn wir alleine auf der Station
liegen und uns einsam fühlen.
Und die unser Leben retten, wenn sie auf ihrem nächtlichen
Rundgang, den sie nicht hätten machen müssen, bemerken, dass es eine
Komplikation oder einen Notfall gegeben hat. Und sie sind da, wenn nichts mehr
hilft. Wenn einer gehen muss.
Der Job ist hart. Oft seelisch an der Grenze des Ertragbaren. Anerkennung
bekommen sie dafür meistens wenig. Die Bezahlung der 1,7 Millionen Pflegekräfte
in der Kranken- und Altenpflege in Deutschland ist bescheiden: Durchschnittlich
rund 2900 Euro brutto im Monat.
Eine richtige Lobby haben sie nicht. Der Glanz, das Licht der
Anerkennung trifft andere und zu selten die, die selbstlos da sind, wenn es uns
wirklich dreckig geht.
Nun ist Pandemie. Alle dürfen Angst vor dem Virus haben. Nur die
Schwestern und Pfleger nicht. Sie müssen da sein. Jeden Tag und jede Nacht. Der
Gedanke, dass auch sie erkranken können, mit viel höherem Risiko als alle
anderen, wird verdrängt. Sie riskieren ihr Leben und das ihrer Angehörigen, um
die Leben anderer zu retten.
Sie machen das einfach, ohne viele Worte. Ich verneige mich vor
allen Krankenschwestern und Pflegern.“
Das sind schöne Worte und ich nehme sie Matthias Döpfner als
ehrlich gemeint ab. Ich finde es gut, wenn einer der einflussreichsten und
wohlhabendsten CEOs der Bundesrepublik einmal – zumindest jetzt in der Krise –
den Blick auf die wahren „Helden“ lenkt. Und das sind all jene, die ihre
tägliche Arbeit in der Pflege leisten.
Der Kommentar erinnerte mich sofort an ein Kapitel aus dem
Büchlein „Die Rettung der Seele“ von Bernard Lievegoed, das ich schon mehrmals
erwähnt habe und das mir in vielen Punkten aus dem Herzen spricht. Es ist das
vorletzte Kapitel seines im Jahre 1992 unmittelbar vor seinem Tod auf
dem Sterbebett diktierten „Testaments“: „Der siebte Tag – Die Aufgabe Manus in
der Zukunft“
Dort heißt es:
„Zwischen der heutigen Sitzung und der letzten liegt ein
Wochenende, in dem ich mich ausruhen konnte. Ich musste beim letzten Mal die
Aufzählung von Berufen, die in der Mani-Strömung beheimatet sind, abbrechen. Ich
möchte das noch einmal zusammenfassen.
Wir haben es hier in erster Linie natürlich mit der Heilpädagogik
zu tun. Aber auch mit anderen Pflegeberufen, zum Beispiel in Krankenhäusern. Es
entstehen in dieser Strömung ja laufend neue Berufe, wie zum Beispiel die ‚buddies‘
in der Aids-Hilfe und die Menschen, die sich der Begleitung von Sterbenden
widmen. Dann gibt es die Psychotherapeuten, die künstlerischen Therapeuten, die
Physiotherapeuten und so weiter. All diese Menschen beschäftigen sich eine
Weile mit anderen, die in Not sind. Eine wichtige Gruppe bilden alle Mütter
dieser Welt, die viele Jahre ihres Lebens den Kindern schenken.“
Das Charakteristische dieser Strömung ist der selbstlose Einsatz
für andere auf der einen Seite und die Selbstverständlichkeit, mit der diese
Leute – ohne Berechnung – ihre soziale Arbeit leisten. Rudolf Steiner nimmt
einmal das Beispiel der „sozialen Berufe“, um zu veranschaulichen, dass Arbeit
keine Ware ist. Soziale Dienstleistungen sind nicht bezahlbar.
Wie will man auch die Rettung eines Lebens in Geld beziffern?
[3]
Das haben wir am 27. Februar 2020 erlebt, als meine Ex-Frau mit einem Herzinfarkt in
die Intensivstation des Ostalbklinikums eingeliefert wurde, einen
Herzstillstand erlitt, reanimiert und operiert werden musste. Die
dortigen Ärzte haben ihr das Leben gerettet. Ihnen sei Dank, dass sie nun
zweimal Geburtstag feiern darf.
[4]
Diese Worte berühren mich. Ich empfinde sie als wahr und ehrlich.
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