Heute hatte ich im Unterricht bei
meinen Flüchtlingen ein schönes Erlebnis.
Wir sprechen seit ein paar Wochen
im Chor jene Abwandlung des bekannten sokratischen Spruches, die ich irgendwo
einmal aufgeschnappt habe und die ich immer wieder gerne rezitieren lasse: „Wer
weiß, dass er nichts weiß, weiß mehr als der, der nichts weiß und nicht weiß,
dass er nichts weiß.“ Heute habe ich aus einer Intuition heraus versucht,
meinen Schülern die Herkunft dieses Satzes von dem Spruch des Sokrates zu erklären,
der bekanntlich jene tiefgründige Weisheit aussprach: „Ich weiß, dass ich
nichts weiß.“
Zuerst nannte ich den Namen „Alexander
der Große“ und fragte in die Runde, ob jemand diesen Namen schon einmal gehört
hatte. Ich wunderte mich, dass bei meinen Schülern, die vorwiegend aus
Afghanistan und aus dem Iran kommen, nur ein betretenes Schweigen als Antwort
kam. Zaghaft nickte schließlich eine junge Frau aus der ersten Reihe und
murmelte, indem sie eine Hand ans Ohr hielt: „Alexander Graham Bell“. Andere
nickten. Ich schüttelte den Kopf und setzte neu an. Ich schrieb „Alexander aus Mazedonien“
an die Tafel. Da leuchteten bei allen plötzlich die Augen in unbeschreiblicher
Weise auf und ein freudiges Wiedererkennen ging durch die Runde. Wie aus einer
Kehle erklang es: „Iskander“. Nur meine drei afrikanischen Schüler blieben
bewegungs- und verständnislos.
Nun konnte ich auch die Namen der
großen griechischen Philosophen nennen: Aristoteles, Plato und Sokrates. Alle
drei waren bei meinen Schülern bekannt und ich spürte im Raum eine Art von strahlender Bewunderung,
wie ich es nie zuvor in einem meiner Unterrichte erlebt hatte. Selbst den
Ausspruch des Sokrates erkannten sie und verstanden jetzt zum ersten Mal, was
ich jeden Morgen mit ihnen sprach.
Eben las ich bei Peter Bamm „Alexander
oder die Verwandlung der Welt“ im letzten Kapitel folgende Zeilen:
„Alexander scheute nicht die
Mühe, ein halbes Dutzend unbedeutender Burgen in den abgelegenen Tälern des
Karakorum zu erobern. Jeder dieser Bergbarone war ein kleiner König. Jeder von
ihnen hatte das Zeug dazu, anderntags der Führer eines neuen Aufstandes, ein
neuer Spitames zu werden. Dass einer von ihnen sogar das Zeug hatte, anderntags
der Schwiegervater des Eroberers zu werden, war selbst für Alexander eine Überraschung.
Hier allerdings war eine Waffe im Spiel, gegen die auch der Schild des
Achilleus keinen Schutz bot. Es war der Pfeil des Gottes Eros. Nach der
Eroberung der Burg des Fürsten Oxyartes wurden die Gefangenen am König
vorbeigeführt. Als Alexander der Rhoxane, Oxyartes‘ Tochter, ansichtig wurde,
ergriff ihn übermächtige Liebe zu der gefangenen Prinzessin. Das Schicksal
Andromaches, der Gattin Hektors, nach dem Fall von Troia mag ihm in den Sinn
gekommen sein. Bedroht davon, in die Sklaverei verkauft zu werden, wurde
Rhoxane in einem einzigen Augenblick zur Herrin des mächtigsten Reiches. Sie
muss ein wunderschönes Mädchen gewesen sein. Die Chronisten erwähnen immer
wieder, dass Rhoxane nächst der Prinzessin Stateira, der Tochter des Dareios,
die schönste Frau gewesen sei, welche man in Asien sah. Wenn auch die Heirat
mit Rhoxane nicht ganz frei von politischen Motiven war, ist es doch das
einzige Mal, dass wir erfahren, Alexander habe eine Frau von Herzen geliebt.
Rhoxane hat Alexander später
einen Sohn geboren. Allerdings ist er erst nach dem Tode seines Vaters auf die
Welt gekommen. Er erhielt den Namen Alexandros. Dieser Prinz hat eine Zeitlang
die Aussicht gehabt, der Nachfolger seines Vaters auf dem makedonischen Thron
zu werden. Aber so wie Rhoxane glanzvoll aus der tiefsten Tiefe des Unglücks
zur höchsten Höhe aufgestiegen war, stürzte sie von der königlichen
Herrlichkeit in die Schlucht des Unglücks wieder hinab. Dreizehn Jahre nach dem
Tod Alexanders wurde sie zusammen mit
ihrem Sohn in Amphipolis in Thrakien von Kassandros, einem kaltherzigen
Nachfolger Alexanders in der Herrschaft über Makedonien. Aus politischen
Gründen ermordet.
Auf die gewalttätigen, rauhen,
trunkfesten, kampffrohen Männer der Steppe und der Berge hat ein Mann von der
Art Alexanders natürlich einen außerordentlichen Eindruck gemacht. Er konnte
mindestens ebenso gut trinken, reiten und schießen wie sie. Dazu war er noch
vom strahlenden Glanz seiner königlichen Würde und seines weltweiten Ruhmes umgeben.
Die Art, wie Alexander diese wilden Kerle behandelte, war von unübertrefflicher
psychologischer Meisterschaft. Auf das geringste Symptom von Rebellion hin
griff er sie an. Aber wenn er sie besiegt hatte, benahm er sich nicht, wie
Sieger sich gewöhnlich zu benehmen pflegen. Er verzieh ihnen großmütig und
machte sie, womöglich noch auf dem Gefechtsfeld, zu seinen Verbündeten, so dass
bei diesen leidenschaftlichen, freiheitsliebenden Männern kein Gefühl der
Schande und damit kein Hass zurückblieb. Man kann sich vorstellen, welche
Begeisterung es bei den Aristokraten dieser wilden Welt auslöste, dass
Alexander, der große ruhmreiche König, mit der Tochter eines der Ihren eine
legitime Ehe einging. Sogar aus dieser von seinem Herzen diktierten Handlung
erwuchs Alexander politischer Erfolg.
Von der Mischung von Respekt,
Bewunderung, Furcht und Zuneigung, die Alexander in Asien genossen hat, sind
Spuren bis in unsere Tage hinein erhalten geblieben. Unter den kleinen Fürsten
nördlich und südlich des Hindukusch gibt es noch immer einige, die ihre
Abstammung mit Stolz auf Alexander zurückführen. Reverend Joseph Wolff, der
zwischen 1843 und 1845 durch Mittelasien reiste, um das Schicksal zweier in
Buchara verschollener englischer Offiziere aufzuklären, entdeckte sogar in
Kashgar, wohin Alexander nie gekommen ist, einen Fürsten, der glaubte, ein
Nachkomme Alexanders des Großen zu sein.
An den Lagerfeuern der Nomaden
ist Iskander, der sagenhafte Mann, immer lebendig geblieben.“ (Peter Bamm,
Alexander oder die Verwandlung der Welt,
1965, Knaur-Taschenbuch, 10. Auflage 1980, S 189ff)
Genau diese Bewunderung für
Alexander konnte ich heute bei meinen Schülern erleben. Wie oft habe ich im
Unterricht vor Waldorfschülern schon die Geschichte von Alexander erzählt! Aber
nie konnte ich solche Begeisterung hervorrufen wie heute bei meinen
afghanischen Flüchtlingen. Sie kommen aus Kabul, Kandahar und Herat, Orten, mit
denen die meisten heute nur Terror und Tod verbinden.
Dass einige dieser Städte einmal
den Namen Alexanders des Großen trugen, weiß jetzt niemand mehr. So hieß Herat einst Alexandreia
Areion und Kandahar einst Alexandreia Arachoton. In der Nähe dieser Stadt fand man die
östlichste griechische Inschrift, die es auf der Welt gibt, ein in griechischer
und aramäischer Sprache abgefasstes Edikt des Kaisers Asoka aus der Mitte des
3. Jahrhunderts vor Christi, ungefähr 70 Jahre nach Alexanders Tod im Jahre 323
v. Chr. In Kabul gibt es ein Museum, in dem eine Fülle von Kostbarkeiten aus
der griechischen Vergangenheit des Landes ausgestellt sind.
In meinem Kurs ist auch ein
Ehepaar aus Herat. Der Mann war zwanzig Jahre lang Polizist in der Stadt. Acht
seiner Kollegen fielen in dieser Zeit Attentaten zum Opfer. Er selbst ist
einmal nur knapp entkommen. Mit seiner Frau, einer Lehrerin, und den drei
Kindern ist er vierzig Tage lang zu Fuß durch Steppen, über Gebirge und Ebenen gewandert,
um nach Europa zu gelangen, von Herat durch Pakistan und den Iran bis in die
Türkei. Von dort aus sind sie mit einem Schlauchboot nach Griechenland gelangt.
Vermutlich hat die Familie dabei Wege genommen, die einst auch Iskander
gegangen ist, allerdings in die andere Richtung.
Das
älteste Kind dieser Familie geht jetzt in die zweite Klasse einer Waldorfschule
und wird dort mit Sicherheit auch die Geschichte von Alexander dem Großen
kennenlernen
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