Dienstag, 11. April 2017

Mysterienluft

Ich komme eben zu Fuß aus der Gelbinger Gasse zurück, wo ich nach vielen Jahren einmal wieder in der Menschenweihehandlung war. In der stillen Woche gibt es jeden Morgen von 9.00 Uhr bis 9.45 Uhr einen Gottesdienst im Raum der Christengemeinschaft. Eigentlich wäre ich gerne gestern, am Kar-Montag, schon gegangen. Aber die Grabpflege hat auch zu dem Tag gepasst. Heute, am Mars-Tag, konnte ich also an dem Kultus teilnehmen, der vor nunmehr 95 Jahren von Rudolf Steiner inauguriert wurde und seitdem kontinuierlich auf der ganzen Welt begangen wird. Dabei wird eine spirituelle Dimension erreicht, die heutzutage äußerst selten sein dürfte. Es waren außer mir nur fünf Männer und fünf Frauen anwesend. Der Pfarrerin Aliki Kristalli assistierten zwei ältere Ministrantinnen, so wie ich es gewohnt bin. Ich hatte das Gefühl, dass ich, neben der Pfarrerin, der Jüngste im Raum war.
Pfarrerin Aliki Kristalli, Jahrgang 1961, ist, wie ich der Facebookseite des Priesterseminars entnehme, erst am 25. Februar diesen Jahres zur Priesterin geweiht worden. Sie war zuvor Dozentin am Waldorfkindergartenseminar in Stuttgart. Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht, ihr dichtes leicht gewelltes dunkles Haar und ihre besonderen Augen erinnern mich an eine griechische Priesterin, vielleicht an die Pythia von Delphi. Frau Kristalli dürfte ganz neu in Schwäbisch Hall sein.
Ihre Stimme ist schön und getragen, ihre Gesten ruhig und bewusst und ihr Blick beim Segen nach dem Abendmahl, als wir uns beide gefühlte dreißig Sekunden (in Wirklichkeit nur drei Sekunden) lang in die Augen schauen, selbstlos.
Ihr Name ist besonders. Er erinnert mich an die russische Fassung des Märchens vom „singenden, springenden Löweneckerchen“, die Grimmsche Fassung des antiken Apulejus-Märchens von „Amor und Psyche“.[1] Lena sagte mir einmal, nachdem ich ihr die Urfassung in der Übersetzung von Hella Krause-Zimmer vorgelesen hatte, dass ein Freund sie immer „Alinki“ genannt habe. Alinki heißt in der russischen Fassung des Märchens das rote Blümchen, das sich die jüngste Tochter als Mitbringsel von der Reise ihres Vaters, eines reichen Kaufmanns, wünscht.
Mir wurde bei der Menschenweihehandlung bewusst, wie wichtig es ist, dass solche reinen Kulte existieren und ich dachte dabei an die derzeitige Weltsituation.
Seit dem völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf einen Flughafen bei Homs in Syrien steht die Welt wieder einmal vor dem Abgrund. Jetzt hat der amerikanische Präsident auch noch Kriegsschiffe in Richtung der koreanischen Halbinsel schicken lassen, woraufhin sich Nord-Korea bedroht fühlt. Sowohl diese kleine Atommacht, als auch die große Atommacht Russland drohen Amerika mit einem Gegenschlag, falls Trump weitere Aggressionen befiehlt. In der toskanischen Stadt Lucca verhandeln eben die Außenminister der G7-Staaten über den anstehenden Konflikt. Morgen will der amerikanische Außenminister Rex (zu Deutsch: "König") Tillerson, ein ehemaliger Exxon-Manager, nach Moskau fliegen, und sich dort mit seinem Kollegen Lawrow (zu Deutsch: „der mit Lorbeer Gekrönte“) treffen.
Was diese wenig spirituellen Menschen bei solchen Treffen verhandeln, kann aus den Lügen und Aggressionen der Mächtigen, die über die Köpfe ihrer Völker hinweg über Krieg und Frieden entscheiden, keine Wahrheit und keinen Frieden schaffen. Hierzu bedarf es stärkerer Mächte. An diese wendet sich solch ein Kult wie die Menschenweihehandlung.
Die Heilige Woche ist am Palmsonntag überschattet worden durch das blutige Attentat in einer koptisch-christlichen Kirche in Ägypten, bei dem während des Gottesdienstes 40 Menschen getötet und zahlreiche andere verletzt wurden. Bereits am Vortag wurden durch ein Attentat in der „Königinnen-Straße“ in der Altstadt von Stockholm vier Menschen getötet und etliche verletzt.
Die Christengemeinschaftsperikope für den gestrigen Kar-Montag, an dem Christus die alten Kulte, die durch den „Feigenbaum“ symbolisiert wurden, „verfluchte“ und den Tempel „reinigte“, steht bei Markus 11, 12 – 19. Die heutige Perikope, wo es um ein Streitgespräch zwischen Jesus und den Hohepriestern und Ältesten des Tempels um die „Vollmacht“ Jesu geht, findet sich bei Matthäus 21, 23 – 27. Emil Bock weist darauf hin, dass Jesus Christus am Abend dieses dem Kriegsgott Mars geweihten Tages in der „Ölberg-Apokalypse“ seinen Jüngern sein Wiederkommen „in den Wolken des Himmels“ verkündet (Matth., Kapitel 24).
Dieses Kapitel endet mit der Prophezeiung: „Da wird sein Heulen und Zähneklappern“ (Matth. 24, 51).
Auf dem Weg zur Kirche der Christengemeinschaft komme ich an einer Reihe von Symbol-Gestalten vorbei, die mich gleichsam auf meinem Gang „begleiten“. Das Fotografieren dieser „Wegbegleiter“ hilft mir, den Weg in erhöhtem Bewusstsein zu machen. 


Von Sankt Michael an folge ich dem Jakobsweg in gegenläufiger Richtung. Der schlicht gestaltete Raum der Christengemeinschaft befindet sich in einem äußerlich unscheinbaren Wohnhaus. Es ist mir, als tauche ich beim Eintreten in eine Welt ein, in der ich einmal wieder Mysterienluft atmen darf. Diese Weihehandlung ist für unsere Oberflächenkultur gewiss seltsam, und doch kann sie wie ein echtes Heilmittel für die überforderten Seelen unserer Zeit wirken. Gestärkt trete ich den Rückweg an und bin hellwach.




[1] Madame Leprince de Beaumont hat daraus in Frankreich das Kunstmärchen „La Belle et la Bete“ gemacht, das zuerst Jean Cocteau, später die Disney-Studios verfilmt haben. Zurzeit läuft ein Film dieser Studios mit echten Schauspielern im Kino, der mich jedoch nicht interessiert.

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