Gestern (30. 10.2018) las ich den
vierten Vortrag aus GA 182, den Rudolf Steiner am 30. April 1918 in der
Donaustadt Ulm hielt. Von dort aus sind im 18. Jahrhundert viele „Schwaben“ mit
flachen Kähnen die Donau abwärts gefahren, um in Ungarn oder Rumänien ein neues
Leben zu beginnen, wie heute die Nachkommen jener deutschstämmigen Siedler und
zusätzlich viele ihrer Landsleute wieder nach Deutschland kommen, um hier ein
neues Leben aufzubauen. Eine ungarische Kursteilnehmerin erzählte
mir neulich, dass ihre Großeltern Donauschwaben waren, die untereinander
Deutsch sprachen.
Offenbar wurde erst 1918 in Ulm
ein anthroposophischer Zweig begründet. In der Stadt, in der eine reiche
Bürgerschaft im Mittelalter eine eigene Kirche gebaut hat, die den Kathedralen in
Frankreich und am Rhein (Straßburger und Freiburger Münster) an Größe, Höhe und
Schönheit ebenbürtig ist, und seitdem fälschlich Ulmer „Münster“ genannt wird,
obwohl sie keine Bischofskirche ist, leitete Rudolf Steiner damals seinen
Vortrag mit der Frage ein, was eigentlich der Ausdruck „Gott“ bedeute.
Er sagt:
„Das Wort, nach dessen
sprachlichem und geistigem Ursprung Sie am meisten vergeblich suchen werden in
den gelehrten Hilfsmitteln, das ist das Wort ‚Gott‘. Keine Wissenschaft vermag
Ihnen heute Auskunft zu geben über den sprachlichen und geistigen Ursprung des
Wortes Gott. Das ist doch eine eigentümliche Tatsache.“
Viele, insbesondere Kleriker,
würden das Wort ständig im Mund führen, wüssten aber gar nicht, zu wem sie
eigentlich beteten.
Später führt Rudolf Steiner aus,
dass die Menschen, die von Gott sprechen und zu ihm beten, in Wirklichkeit zu
ihrem Schutzengel oder zu ihrem eigenen vorgeburtlichen Wesen beten.
„Derjenige, der weiß, was Worte
wirklich für einen Inhalt haben können, der weiß, dass alles, was in den
modernen Predigten gesagt wird von Gott, niemals auf irgendeinen höheren Gott
als auf einen Engel sich bezieht, oder, wenn nicht auf einen Engel, so noch auf
etwas anderes. Geht man nämlich der Frage nach, woher denn das eigentlich
stammt, was solche Menschen fühlen, die von ihrem Gotte sprechen, die von ihrem
Gotte predigen in ihren Kirchen, die oftmals sogar vorgeben, ein Gotteserlebnis
in ihren Seelen zu haben, wie es manche Menschen der Gegenwart tun – sie nennen
sich dann mit einem gewissen Hochmut ‚evangelisierte Menschen‘ und dergleichen
– von welchen Impulsen in ihren Seelen solche Menschen ausgehen, der kommt zu
folgendem: Solche Menschen fühlen in ihren Seelen den Impuls des eigenen Wesens,
wie sich dieses Wesen entwickelt hat in einer rein geistigen Umgebung zwischen
dem letzten Tode und der Geburt. Dieses geistige Wesen, das sich zwischen dem
letzten Tode und unserer Geburt in uns entwickelt hat, das ist jetzt in unserem
Leibe, das hat unseren Leib bezogen.“
Wenn ich in dem Tagebuch lese,
das ich vor 50 Jahren geschrieben habe, dann begegnet mir das Wort „Gott“ auf
Schritt und Tritt. Ich war schon als Kind ein religiöser Mensch und habe meine
Religiosität auch noch über die Pubertät hinaus retten können, was vielen nicht
mehr gelingt. Die beiden Söhne Lenas zum Beispiel sind zwar noch getauft, ja
sogar zweimal getauft, weil Mamitschka meinte, nur eine russisch-orthodoxe
Taufe sei eine wahre Taufe, aber seit ihrem 12. oder 13. Lebensjahr haben sie sich
von Kirche und Gott abgewendet und bezeichnen sich heute als Atheisten. Ich
finde, das ist ehrlicher, als zu einem „Gott“ zu beten, den man gar nicht
kennt.
Ich glaube, dass nur wenige
Kirchenchristen wirklich eine Ahnung von dem tieferen Wesen der Trinität haben,
wenn sie sich in ihren evangelischen oder katholischen Gottesdiensten „im Namen
des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ versammeln.
Der Begriff der „Heiligen
Dreieinigkeit“ ist mit dem gewöhnlichen Verstand gar nicht zu erfassen. Ich
habe erst etwas davon begriffen, als ich im Jahre 1972 in der Philosophie-AG
meines verehrten Lehrers Bertold Hasen-Müller zum ersten Mal von der
dreigliedrigen Gestalt des Menschen einerseits und der Pflanze andererseits
hörte und staunte: Beim Menschen unterschied er mit Rudolf Steiner zwischen
Nerven-Sinnespol und Stoffwechsel-Fortpflanzungspol. Dazwischen findet sich im
Herz-Lungenraum das rhythmische System mit Atem und Blutkreislauf als Vermittler
zwischen den beiden Polen. Bei der Pflanze, so machte Herr Hasen-Müller anschaulich
klar, ist es genau umgekehrt: Die Wurzeln entsprechen dem Nerven-Sinnespol beim
Menschen, die Blüte mit der Frucht dem Stoffwechsel-Fortpflanzungspol. Das Blätterwerk entspricht dem rhythmischen
System. Deshalb isst der Mensch einerseits Wurzelgemüse, andererseits Früchte,
aber auch Blattgemüse oder Salat.
Das war mir sofort vertraut und
später habe ich die ganze Welt trinitarisch anzuschauen gelernt. Das Göttliche
war für mich seitdem nie mehr getrennt von der Welt.
An den Mitteilungen aus der
Geisteswissenschaft, die seitdem mein inneres Leben begleitet und bereichert
haben, haben mich immer die Angaben zu den Hierarchien interessiert. Ich weiß
noch, wie ich vor mehr als 40 Jahren im Baptisterium San Giovanni des Domes von
Florenz die wunderschönen Kuppel-Mosaiken der hierarchisch gegliederten Engelswelt bewunderte und mich
gar nicht satt sehen konnte.
Deswegen verwundert es mich gar
nicht, dass auch in dem Ulmer Vortrag vom 30. April 1918 kurz auf die
Engelshierarchien hingewiesen wird.
Rudolf Steiner sagt:
„Was ist eigentlich Gott, von dem
die meisten Menschen der Gegenwart sprechen, die vorgeben, religiöser Natur zu
sein?
Nun, die Menschen weisen es ab,
wenn wir vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus davon sprechen, dass über
uns andere Wesenheiten sind, die Angeloi, Archangeloi, Archai und so weiter, so
dass wir eine Hierarchie von geistigen Wesenheiten schauen, und dass der Weg weit
hinauf ist zu dem, was das höchste Göttliche ist. Diese erkenntnismäßige
Bescheidenheit wollen die Menschen der Gegenwart nicht haben.“
Immer wenn ich gegenüber Kirchgängern
von Engeln sprach, erntete ich Kopfschütteln. Manche meinten sogar, das sei Aberglaube.
Im Grunde können zeitgenössische
Menschen, die wirklich nach den tieferen Schichten des religiösen Empfindens
fragen, nur in der Geisteswissenschaft kompetente und letztlich überzeugende
Antworten finden, die so umfassend sind, dass man nahezu ein ganzes Leben
braucht, um sie zu studieren und sich zu eigen zu machen.
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