Sonntag, 27. Januar 2019

Ein Gnadenstern


Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Es scheint ein besonderer Gnadenstern über unserer Kirche zu stehen. Ich komme eben aus der Kinderhandlung, die jeden Sonntag nach der Menschenweihehandlung für die Erwachsenen stattfindet. Noch nie habe ich so viele Kinder bei dieser Handlung gesehen, an der ich vielleicht erst drei- oder viermal teilgenommen habe. Allein die Kinder, die direkt daran teilnahmen, erfüllten schon zwei Stuhlreihen. Ich habe sie gezählt und kam auf die Zahl 20. Aber außerdem saßen noch mindestens zehn jüngere Kinder oder Babys bei ihren Eltern im Raum und verfolgten die Handlung erstaunlich ruhig: kein Kreischen, kein Lachen, kein Weinen und nicht einmal Geflüster „störte“ die Heilige Handlung, die so schön und einfach ist und auch mir jedes Mal zu Herzen geht.
Als die Kinderhandlung vorüber war, spürte ich plötzlich hinter mir eine Kinderhand am Ärmel: es war die kleine Fenna, das vierjährige Töchterlein der Familie, die seit September direkt unter mir wohnt. Sie war mit ihren Eltern gekommen, die auch in der Reihe hinter mir saßen. Fenna hatte mich wohl als erste entdeckt. Ich habe schon früher gespürt, dass sie mich mag, wenn sie sich mir vertrauensvoll an die Seite setzte und selig lauschte, wenn ich ihr eine Geschichte vorlas. Sie ist so ein hübsches Mädchen mit ihren goldblonden Haaren und ihren großen braunen Augen. Ihr Bruder Kiell hat an der Handlung teilgenommen, ohne dass ich ihn zunächst erkannt hatte. Auch Sarah Leiblin von der Solawi (Solidarische Landwirtschaft) war mit ihrem jüngsten Kind, einer kleinen Janne, und ihrem kleinen Sohn da. Ich hatte sie bestimmt seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen und freute mich sehr, sie wiederzusehen.
Ich fragte Frau Kristalli nach der Handlung im Vorraum: „Was passiert da gerade?“ Sie hatte auch keine Antwort und hob bescheiden die Schultern. Dabei bin ich sicher, dass es ihr segensvolles Wirken in der Waldorfschule ist, wo sie seit nunmehr anderthalb Jahren Religionsunterricht gibt, das die Eltern und ihre Kinderlein kommen lässt. Es ist die neue Generation, die hier eine geistige Heimat gesucht und gefunden hat. In allen anderen religiösen Gemeinschaften bleiben die Kinder und die Jugendlichen weg und wenn die treuen Alten gestorben sein werden, wird es kaum noch Menschen geben, die zum Gottesdienst in die Kirchen kommen.
Anders ist es in der Christengemeinschaft, zumindest hier in Schwäbisch Hall: die Gemeinde wächst, seitdem wir eine neue größere Kirche haben. Ich fürchte sogar, dass der Raum bald wieder zu klein sein wird.
In der Menschenweihehandlung war ich dieses Mal so wach wie bisher noch nie. Ich schaute und lauschte mit meinen Augen und Ohren und gleichzeitig auch mit den Augen und Ohren von Gisela Victoria Schaller, die gestern Abend mit knapp 82 Jahren in Heidenheim über die Schwelle gegangen ist. Wir waren vor nunmehr 40 Jahren in Stuttgart zusammen aufs Waldorflehrerseminar gegangen. Sie ist später Klassenlehrerin an der Waldorfschule Heilbronn geworden, ich Oberstufenlehrer in Heidenheim. Ich hatte Gisela bei der Einweihung unserer neuen Kirche am 6. Januar 2019 zum letzten Mal gesehen.
Insgesamt traten an diesem letzten Sonntag nach Epiphanias 22 Gemeindemitglieder vor den Altar, um Brot und Wein zu empfangen. Mit den beiden – heute männlichen – Ministranten waren es 24 Persönlichkeiten, denen „der Friede“ gespendet wurde. Auch das ist eine viel größere Anzahl als früher, als sich die Kirche noch in der Gelbinger Gasse befand. Lange nicht alle Anwesenden sind dabei vor zur Kommunion gegangen. Ich schätze, dass noch einmal so viele in der Kirche saßen, aber ich habe sie nicht gezählt.
Es ist ein Wunder.
Ein Wunder, das mir Mut macht.

Samstag, 26. Januar 2019

Hommage an einen Meister


Hans-Joachim Kunath hat erst vor kurzem seinen 66. Geburtstag gefeiert, nämlich am 15. Januar 2019. Fünf Tage später war er tot.
Die Bestattungsfeier in Weckelweiler mit all den Betreuten und mit seinen drei Töchtern, ihren Männern und mit seiner letzten Lebensgefährtin, Frau Harsch, war sehr berührend. Ich habe zum ersten Mal eine Totenfeier der Christengemeinschaft erlebt.
Frau Kristalli war als Priesterin in Weiß mit schwarzer Stola, genauso die beiden Ministranten an ihrer Seite, Frank-Peter H. und seine Frau Elke. Der einfache Fichtenholz-Sarg stand aufgebahrt vor den Stufen zum Altar in der Mitte der Kapelle, dort, wo in klassischen Kirchenräumen die Vierung ist. Am Altar brannten keine Kerzen. Die Priesterin und die Ministranten standen so vor dem Sarg, dass ihr Blick zum Sarg und zum Altar gerichtet war. Frau Kristalli hatte einen Weihwasserwedel aus Silber in der Hand und hielt es wie ein Zepter. Damit bespritzte sie den Sarg neunmal, dreimal von Westen, dreimal von Norden und dreimal von Süden.
Nach der Zeremonie ging sie zur Kanzel und hielt den „Nachruf“. Ich habe nie einen einfühlsameren, poetischeren Nachruf auf einen Verstorbenen gehört. Sie sprach ungewöhnlich lang und frei und man spürte, dass sie sich mit der Biographie von Hans-Joachim Kunath innerlich verbunden hat.
Ich erfuhr viele wesentliche Details aus dem Leben des Mannes, den ich erst vor etwa einem halben Jahr auf der Baustelle unserer neuen Kirche kennengelernt hatte. Herr Kunath ist in einem Ort in der Nähe von Heidenheim geboren, der den schönen Namen „Himmelstür“ trägt. Die Kindheit und Jugend war wohl schwierig. Sein Berufswunsch war Schreiner. Mit 15 Jahren begann er eine Lehre, wurde Geselle und entschloss sich, die Meisterausbildung zu machen, die er mit 27 Jahren abschloss. Damals heiratete der schöne, stattliche Mann seine Frau, mit der er drei Töchter hatte. Mit 35 wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit und eröffnete seine eigene Schreinerwerkstatt. Die Ehe geriet in eine Krise, hielt jedoch nach der Geburt der dritten Tochter noch mehrere Jahre. Mit 54 ging sie endgültig in die Brüche und Herr Kunath verlor auch wenig später seinen Betrieb. Er lernte Frau Harsch und durch sie die Anthroposophie und Weckelweiler kennen, wo er bald eine neue Arbeitsstelle fand. Fast alle Betreuten und Betreuer kannten ihn, weil er für die Türen und Schließanlagen der Häuser der Gemeinschaft zuständig war. Er litt jedoch schon seit längerem an einer Lungenfibrose. Nach der Kur, die er in Berchtesgaden machen durfte, kam er frisch und gesund zurück, bekam dann jedoch eine Lungenentzündung und starb am 20. Januar gegen 8.00 Uhr.
Herr Vogel, der Pianist von Weckelweiler, den Lena und ich im Sommer im Heidehofcafe in Stuttgart getroffen hatten, spielte auch an dieser Feier Klavier und dirigierte den Chor aus Betreuern und Betreuten. Herr Kunath hatte sich die Ode „An die Freude“ als Gesang gewünscht.
Zum Schluss verabschiedete sich jeder von dem Verstorbenen, indem er eine Blume auf dem Sarg niederlegte und ein Teelicht entzündete und auf die Stufen zum Altar stellte.
Das ganze Geschehen dauerte von 13.30 bis 14.30 Uhr.

Ich habe bis 9.00 Uhr geschlafen.
Lena hat mich per Telefon geweckt und dann haben wir zusammen gefrühstückt. Dabei ergriff mich solch eine Trauer, dass ich am liebsten weinen wollte. Das habe ich dann auch ein bisschen getan.
Ich zeigte Lena das kleine Foto von Herrn Kunath, das ich gestern im Vorraum der Kapelle, wo das Kondolenzbuch auslag, mitgenommen hatte. Obwohl ich diesen Mann erst seit einem halben Jahr kenne, hat mich sein Tod doch sehr berührt! Auch während des Gottesdienstes sind mir mehrmals die Tränen gekommen.
Ich sagte zu Lena, dass ich Herrn Kunath als Handwerker bewundert habe und sprach von seiner „gezügelten Energie“. Bei mir fließt die Energie oft unkontrolliert aus, beziehungsweise wird, wenn ich nicht aufpasse, „zerstörerisch“, wenn mir zum Beispiel ein Glas zu Boden fällt oder ich mich beim Gemüseschneiden selber verletze. Ich habe dann zu viel „überschüssige“ Energie. Diesen Rest an Energie konnte Hans-Joachim Kunath so wunderbar bei sich behalten und in sinnvolles Arbeiten verwandeln. Er strahlte dadurch immer Sicherheit aus.
Wenn ich jemanden nennen sollte, der nahezu  „perfekt“ war, dann wäre er es. Er hat sein Leben mit einer wunderbaren Tat vollendet: er hat der Gemeinde von Schwäbisch Hall eine wunderschöne Kirche bereitet. Ohne seine Anleitung hätten die Gemeindeglieder, die als Laien geholfen haben, nicht so viel geschafft, wie wir in den wenigen Wochen vor und nach den Sommerferien geschafft haben.
Ich bin so dankbar, dass ich drei- oder viermal mithelfen durfte und den „Meister“ dadurch kennenlernen durfte. Erst im gemeinsamen Arbeiten verbindet man sich tief mit dem Mitmenschen. Ein Gespräch ist wunderbar. Aber noch wunderbarer ist gemeinsames Tun.
Geschämt habe ich mich heimlich, als ich merkte, dass ich außer der ersten die weiteren Strophen von Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ nicht auswendig wusste. Als Deutschlehrer! Ich schäme mich noch immer. Dabei habe ich das Gedicht schon mit meinen Schülern rezitiert.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
                Seid umschlungen, Millionen!
                Diesen Kuss der ganzen Welt!
                Brüder – überm Sternenzelt
                Muss ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund.
                Was den großen Ring bewohnet,
                Huldige der Sympathie!
                Zu den Sternen leitet sei,
                Wo der Unbekannte thronet.

Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.
                Ihr stürzt nieder, Millionen?
                Ahnest Du den Schöpfer, Welt?
Such ihn überm Sternenzelt,
Über Sternen muss er wohnen.

Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.
                Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächtgen Plan,
                Wandelt, Brüder, eure Bahn,
                Freudig wie ein Held zum Siegen.

Aus der Wahrheit Feuerspiegel
Lächelt sie den Forscher an;
Zu der Tugend steilem Hügel
Leitet sie des Dulders Bahn.
Auf des Glaubens Sonnenberge
Sieht man ihre Fahnen wehn,
Durch den Riss gesprengter Särge
Sie im Chor der Engel stehn.
                Duldet mutig, Millionen!
Duldet für die bessre Welt!
                Droben überm Sternenzelt
                Wird ein großer Gott belohnen - -

Festen Mut in schweren Leiden,
Hilfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält es Gut und Blut:
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut!
                Schließt den heilgen Zirkel dichter,
                Schwört bei diesem goldnen Wein,
                Dem Gelübde treu zu sein,
                Schwört es bei dem Sternenrichter!

Donnerstag, 24. Januar 2019

An der Zeit?


Eben habe ich den dritten Vortrag aus dem Priesterkurs zu Ende gelesen, den Rudolf Steiner am 7. September 1924 gehalten hat.
Ich war nicht so konzentriert, wie ich es eigentlich hätte sein sollen, denn ich bin etwas müde. Ich habe ja seit 3.30 Uhr nicht mehr geschlafen. Dabei lebe ich im Augenblick auf einer sehr hohen „Schwingung“. Ich weiß nicht warum, aber in mir brennt wieder das Feuer, das ich schon so gut kenne und das schon mehrmals so stark war, dass es mich aus der Bahn geworfen hat. Ich versuche dieses Mal, mich in dieser Schwingung zu halten und einen klaren Kopf zu bewahren.
Irgendetwas geht im Augenblick in der Welt vor, von dem wir noch nicht wissen, wohin es uns führen wird.
Die Blicke der Menschheit gehen nach Venezuela, wo es nun zwei Staatschefs gibt: den offiziellen, durch mehr oder weniger reguläre Wahlen an die Macht gekommenen Nicolas Maduro (wie ich heute las, soll er Jude sein) und einen illegitimen, der junge 35jährige Juan Guaido, der Parlamentspräsident. Er hat sich gestern eigenmächtig zum Interim-Präsident des ganzen Landes erklärt. Die USA unterstützen ihn, Russland und China unterstützen Maduro. Kann aus diesem scheinbar kleinen Konflikt in einem südamerikanischen Staat ein Weltkonflikt entstehen?
In 3SAT-Kulturzeit kam ein Bericht des seit 20 Jahren in Peking lebenden Journalisten Frank Sieren, dessen Buch „Zukunft? China!“ eben erschienen ist, über Shenzhen[1]. Die chinesische 20-Millionen-Stadt, die vor 40 Jahren noch ein kleines Fischerdorf war, sieht heute aus wie eine Stadt aus einem Science-Fiction-Film. Überall ragen blinkende glitzernde Wohntürme in den Himmel, hunderte Elektrobusse  und tausende Elektrotaxis fahren über die mehrspurigen Stadtautobahnen und an den Straßenlaternen hängen moderne Kameras, die mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet sind. Alle Bewegungen der Einwohner werden nicht nur registriert und abgespeichert, sondern auch nach einem Sozialverhaltenskatalog bewertet.
Immer, wenn ich solche Bilder sehe, denke ich, dass hier eine geistige Macht wirksam ist, die das geistige Erbe Luzifers, der im Reich der Mitte nach den Angaben der Geisteswissenschaft im dritten vorchristlichen Jahrtausend in einem menschlichen Leibe verkörpert gewesen sein soll, aufgreift, um es gleichsam zu materialisieren. Diese Macht kann nur Ahriman sein, der bereits seit etwa 30 Jahren im Verein mit Luzifer die Macht über Millionen von Menschenseelen ergriffen hat und jetzt vermutlich unmittelbar dabei ist, seinen geplanten Auftritt im Körper eines Menschen an diesem Beginn des dritten nachchristlichen Jahrtausends zu vollziehen.
Irgendwie verwunderte ich mich, als ich vorhin im dritten Vortrag für die Priester ganz am Ende folgende Sätze las:
„Das will der Verfasser der Apokalypse sagen. Deshalb spricht er: Selig ist, wer da lieset und höret die Worte des Makrokosmos, und der da aufnimmt und in sich bewahrt, was geschrieben ist in dem Buch – wenn der Mensch es versteht –, denn die Zeit ist gekommen.
Sie ist gekommen. Es ist nicht bloße Willkür, es liegt im Karma der Gemeinschaft für christliche Erneuerung, dass wir uns jetzt in diesem Zusammenhang über die Apokalypse besprechen.“
Den ganzen Tag schon ging mir heute die Jahreszahl durch den Kopf, die über einem Fensterbogen des Hauses in der Gelbinger Gasse steht, in dessen Erdgeschoss der höhlenähnliche Raum liegt, in dem die Haller Gemeinde der Christengemeinschaft in den vergangenen 27 Jahren eine Herberge gefunden hatte: die Jahreszahl 1797.
Schon als ich sie zum ersten Mal bewusst erblickte, musste ich sofort an das „Märchen von der schönen Lilie und der grünen Schlange“ denken, das in dieser Zeit von Goethe „empfangen“ wurde. In diesem Märchen wird der Satz mehrmals ausgesprochen: „Es ist an der Zeit“.
Dieses Gefühl hatte ich in diesen Tagen wieder, denn der „unterirdische Tempel“ aus dem Märchen ist am 6. Januar 2019, als unsere neue Kirche im Egerländerweg 3 geweiht wurde, aufgestiegen und steht nun für alle sichtbar und doch äußerlich bescheiden auf der Höhe über dem Kochertal.


Ich möchte heute (25.01.2019) um 13.30 Uhr in der Kapelle der Christengemeinschaft in Weckelweiler an der Bestattungsfeier für Hans-Joachim Kunath teilnehmen, der am vergangenen Sonntag, den 20. Januar, überraschend gestorben war.
Immer wieder wandern meine Gedanken zu diesem Mann, den ich bei der Einweihungsfeier zu unserer neuen Kirche zum letzten Mal gesehen habe. Ich hatte ihn und seine Lebensgefährtin herzlich begrüßt und er machte eigentlich einen frischen und gesunden Eindruck auf mich. Ich denke schon seit Sonntag  immer wieder an ihn, insbesondere wenn ich im Priesterkurs lese. Die gemeinsame Arbeit beim „Bau“ unserer Kirche verbindet mich mit ihm. Er war der fachkundige und umsichtige Leiter dieser Bauarbeiten. Er wusste, was zu tun war und zeigte es uns in seiner ruhigen, freundlichen Art. Ich werde heute mehr über diesen Mann erfahren, der ungefähr in meinem Alter war, als er von uns gegangen ist. Jedenfalls hat er den Bau unserer Kirche ganz praktisch begleitet. In gewisser Weise erinnerte er mich an den Meister, der den Bau einer mittelalterlichen Kathedrale überwachte, natürlich im kleinsten Maßstab. Aber sein ernstes, sicheres Können war das eines Meisters.

Dass er genau 14 Tage nach der Einweihung der Kirche gestorben ist, scheint mir kein Zufall zu sein. Wie auch immer die Gemeindemitglieder unsere neue Kirche nennen werden, er wird von nun an immer eine Art himmlischer Schutzgeist dieses Hauses sein und dem „Engel der Gemeinde“ als „Geselle“ zur Seite stehen.

Mittwoch, 23. Januar 2019

Wie ich zu Rudolf Steiner fand


Schwäbisch Hall, der 24. Januar 2019 (Donnerstag, 4.06 Uhr)

Warum drängt mich etwas, die Erinnerungen und Gedanken, die gerade in diesen Tagen meine Seele erfüllen, aus dem Dunkel meines privaten Tagebuchs ins helle Licht der Öffentlichkeit zu stellen? Diese Frage treibt mich seit gestern um und so bin ich heute Morgen um 3.30 Uhr aufgewacht und versuche nun, mir selbst darüber Rechenschaft abzugeben.
Auslöser war – wie bereits gesagt – die „biografische Notiz“ von Wibke Reinstein vom 19. Januar 2019.[1] Durch ihren Mut und ihre Offenheit konnte ich selbst etwas anschauen, das mich nun schon seit 33 Jahren bewegt und manchmal sogar „plagt“: wer war ich in einem früheren Leben?
Anthroposophie war für mich nie Theorie. Ich habe die Bücher und Vorträge Rudolf Steiners immer so gelesen, dass ich von ihrer geistigen Wahrhaftigkeit berührt war. Alles leuchtete mir unmittelbar ein, obwohl ich mich nicht als Intellektuellen bezeichnen würde. Ich habe die Mitteilungen aus der geistigen Welt, die Rudolf Steiner in all seinen schriftlichen und mündlichen Äußerungen den Menschen übermittelte, immer als das genommen, was sie waren: in die Sprache der Menschen übersetzte Botschaften der Hierarchien. Alles, was ich etwa hundert Jahre, nachdem es geschrieben oder gesprochen worden war, las – ich begann mit der Lektüre der „Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung“ aus dem Jahr 1886 im Rahmen eines „Studium Generale“ an der Universität Stuttgart ungefähr im Jahr 1976 – nahm ich als das auf, was es offensichtlich ist.
Die Arbeit an dieser Grundschrift hatte ich nicht von mir aus gesucht. Sie kam gleichsam auf mich zu. Durch meinen Lehrer Bertolt Hasen-Müller war ich 1972 auf das Buch „Substanzenlehre“ von Rudolf Hauschka hingewiesen worden. Als ich in Stuttgart am Alexanderplatz in der Nähe der Uhlandshöhe meinen Zivildienst absolvierte, wanderte ich kurz nach meinem 21. Geburtstag eines Vormittages im April 1973 auf der Hausmannstraße nach Osten. Mein Dienst als Zivi lag eher am Nachmittag und am Abend, so dass ich vormittags in der Regel frei hatte. Beim Spaziergang entdeckte ich voller Erstaunen die erste Waldorfschule, die ich vom Hörensagen nur vage kannte, kam auch zum „Rudolf-Steiner-Haus“ mit dem „Eurhythmeum“ und gelangte schließlich zur Buchhandlung am Urachhausplatz. Ich hatte zuvor noch nie eine anthroposophische Buchhandlung betreten.
Dort fragte ich nach dem genannten Buch aus dem Vittorio Klostermann-Verlag. Aber es war nicht mehr lieferbar. Eine andere Kundin, die sich gerade in der Buchhandlung des Urachhausverlages aufhielt, hörte mein Anliegen und wandte sich mir zu: Sie könne mir das Buch schenken, denn sie habe es aus dem Nachlass ihres verstorbenen Mannes übernommen. Ich war hoch erfreut.
Die ältere Dame gefiel mir und ich fasste sofort Vertrauen zu ihr. Sie lud mich ein, mit ihr nach Hause zu kommen. So gelangte ich mit ihr zum „Priesterseminar der Christengemeinschaft“.
Verwundert betrat ich das architektonisch ungewöhnliche Gebäude und tauchte mit meiner Begleiterin in eine Wohnatmosphäre ein, wie ich sie bis dahin noch nicht erlebt hatte und die mir trotzdem sofort vertraut vorkam. Mir war schon aufgefallen, dass die Dame, die hier in der verwaisten Wohnung ihres Mannes lebte, einen besonderen Sprachakzent hatte, jedoch trotzdem ein außergewöhnlich schönes und nahezu korrektes Deutsch sprach. Von sich aus erklärte sie mir, als hätte sie meine unausgesprochene Frage vernommen, dass sie gebürtige Russin war.
Alles war für mich neu und aufregend. In den Regalen standen eine Unmenge Bücher. Mit sicherem Griff zog sie die „Substanzenlehre“ heraus und dazu noch drei andere Taschenbücher aus einem anderen Fach. Ich hatte bis zu diesem Tag noch nie eine Buchausgabe mit einer Schrift Rudolf Steiners gesehen. Die drei weißen Bändchen waren wohl auch die ersten Taschenbuchausgaben seiner Schriften im Verlag Freies Geistesleben: „Die Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, „Die Philosophie der Freiheit“ und „Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“.
Alle vier Bücher schenkte mir die Dame. Ich war verzaubert von ihr und der ganzen Umgebung, in die ich hier durch „Zufall“ geraten war. Glücklich lief ich mit meinem Schatz zurück in die Unterkunft am Alexanderplatz. Dort kassierte ich als erstes eine Rüge, weil ich so lange weg gewesen war, ohne mich formell abzumelden. Ich hatte, wie ein Kind, die Zeit total vergessen.
In den Einbänden der vier Bücher, die ich geschenkt bekommen hatte, stand mit Bleistift geschrieben der Name des Vorbesitzers: Gottfried Husemann. Ich hatte seine Witwe Luba getroffen.
So waren die ersten drei Bücher Rudolf Steiners, ohne dass ich sie gesucht hatte, zu mir gekommen.
Ich habe später andere Menschen aus meinem Umkreis gefragt, wie sie auf Rudolf Steiner gestoßen waren und hatte immer wieder ähnliche Geschichten gehört.
Später wurde mir bewusst: Rudolf Steiner sucht die Menschen, die zu ihm gehören, selbst aus, auch wenn er schon lange „tot“ ist. Ich begriff, bei diesem Menschen handelte es sich um eine absolute Ausnahme-Persönlichkeit. An diesem Tag, unmittelbar nach meinem 21. Geburtstag, erlebte ich zum ersten Mal – damals natürlich noch unbewusst – das Walten des Schicksals.
Seitdem stehen Rudolf Steiner und die Anthroposophie im Zentrum meines Lebens und Strebens. Dabei bin ich gewiss sicher oftmals abgeglitten, habe mich immer wieder auf Abwegen verrannt oder mich furchtbar geirrt, fühlte mich auch oft „abgehoben“: Auf meinem Weg zum Zentrum der Anthroposophie wurde meine Seele heftig geprüft. Aber es scheint mir, dass ich alle Krisen gut überstanden habe, ohne dass je ein Zweifel an Rudolf Steiner und seiner Geisteswissenschaft in mir aufgetreten wäre.
Ich denke, es geht vielen Menschen, die mit diesem überragenden Geist in Berührung kommen, ähnlich.
Der anthroposophische Schulungsweg ist ein Weg voller Hürden, voller großer und kleiner Prüfungen und eins ist gewiss: man hört sein ganzes Leben lang nicht auf zu lernen.
Was ich bisher veröffentlicht habe, waren persönliche Zeugnisse.
Ich glaube, es ist die Zeit gekommen, dass wir offen und öffentlich über solche individuellen Erfahrungen austauschen können. Für solch einen Austausch dürfen solche Zeugnisse als Grundlage dienen, denke ich.
Vielleicht kann man durch solche Berichte der Frage nach dem Karma und nach der eigenen ewigen Individualität näher kommen, die jeden umtreibt, der sich ernsthaft – und nicht nur theoretisch-intellektuell – mit Anthroposophie beschäftigt.
Die Frage, wer ich bin, stellte sich mir mein ganzes Leben lang. Die Frage, wer ich war, ist noch unbeantwortet, aber ich weiß, dass ich Rudolf Steiner sehr nahe stehe. Alles andere ist für mich im Augenblick zweitrangig und ich denke, eine definitive Antwort wird mir möglicherweise eines Tages „von außen“ zufliegen, wenn ich es gar nicht mehr wissen „will“.
So ist das Leben.



[1]Vor 26 Jahren, mit 21, hatte ich ein nahtodesähnliches Erlebnis im Vollbewusstsein (also ohne klinischen Tod). Ich kenne die Liebe des jenseitigen Lichts! Es ging um schicksalsmäßig entdeckte Reinkarnation. Außerordentlich viele und differenzierte soziale Kompetenzen konnte ich mit diesem Impuls durch das vierjährige Studium der "Sprachkünstlerischen Therapie" in der Anthroposophie erwerben. Danach lieferte ich auch grundlegende Ansätze zur Revolutionierung der Anthroposophie mit meiner Biographie "Persönliche Lichtstrahlen" und dem Buch "Das letzte Geheimnis über Mann und Frau", das ich gerne als Doktorarbeit bezeichne. Im Zuge dessen durfte ich Vorträge und Seminare abhalten. Nebenbei arbeitete ich ungelernt 20 Jahre sehr einsatzfreudig in der Altenpflege. Durch all das war ich immer etwas außen vor vor dem sonstigen Leben, pflegte aber Beziehungen zu Menschen darin.
Nach dem Tod meiner Mutter im Mai 2017 habe ich das ungelernte Berufsleben und die anthroposophische Vergangenheit hinter mir gelassen und die musische und soziale Priorität aus meinem Berufsleben drastisch reduziert. Im Juli 2018 startete ich eine Umschulung zur Steuerfachangestellten mit großer Lust dazu, noch tiefer in die Welt einzutauchen. Es hat etwas mit den Gehirnhälften zu tun. Ich stärke nun die linke Gehirnhälfte. Erfolg: Notendurchschnitt 1,29.
Durch meine vergangenen öffentlichen Mitteilungen und aus meinem biographischen Buch, das noch immer käuflich zu erwerben ist, gibt es Menschen, die wissen, um wen es in meiner Reinkarnationserfahrung geht. Man könnte nun die Frage stellen oder weiterhin die Behauptung aufstellen, das mein jetziger Lebenswandel umso eindeutiger die Unwahrscheinlichkeit dieser Reinkarnations-Interpretation der früheren Ereignisse zeigen würde. Dem ist nicht so. Für weitere Informationen stehe ich gerne persönlich zur Verfügung.“


Dienstag, 22. Januar 2019

In Klingsors Reich?


Ich habe das Gefühl, dass ich im Augenblick wieder eine Metamorphose in meiner Biographie erleben darf, vielleicht vom Puppen- zum Schmetterlingsstadium, wer weiß? Dazu mag auch das konsequente Teil-Fasten beitragen, das ich seit vergangenem Freitag praktiziere: ich lasse einfach die Abendmahlzeit weg. 
Irgendwie hat es mir aber auch gut getan, über meine „Reinkarnationsinterpretationen“ offen zu „sprechen“. Zu verdanken habe ich diese neue Dimension der Ehrlichkeit vor allem Wibke Reinstein, aber auch Irene Diet, die davon vielleicht gar nichts ahnen. Aber auch an den vorvorgestrigen Traum denke ich dabei, in dem ich einen Brief mit der Schrift von V. gesehen hatte. Seit vielen Jahren haben wir keinen persönlichen Kontakt mehr und plötzlich sah ich deutlich ihre charakteristische Schrift, auch wenn der Brief in dem Traum nicht an mich, sondern an einen mir völlig unbekannten „Philippe“ (französische Schreibweise)  gerichtet war.
Ich hatte unter meinen Text im Blog in Klammern „a suivre“ gesetzt, weiß aber nicht, ob ich mich noch weiter „hinauslehnen“ darf. Ich habe ja auch meinen gestrigen Text überhaupt nicht in der Absicht verfasst, ihn zu veröffentlichen. Erst in der Mittagspause verspürte ich die Möglichkeit und vielleicht sogar die Notwendigkeit, das zu tun.
Was ich geschrieben habe, beschäftigt mich natürlich selbst weiter und ich gehe es immer wieder in Gedanken durch. Besonders jene Stelle, wo ich den 7. Juli 1984 beschreibe. Hier treffen mein höchstes spirituelles Erlebnis und meine sexuellen Bedürfnisse unmittelbar aufeinander. Ich war jung und wieder einmal verliebt. D. konnte meine Gefühle abdämpfen. Und erst dann bekam ich den Gral zu „sehen“.
War es im „Parzival“ nicht ähnlich? Was war es anderes als die ungeläuterte Sexualität des Gralskönigs Amfortas, die die Gralsgemeinschaft ins Unglück gestürzt hatte?
Ich habe den Prozess an einem Abend mit Hilfe von D. geschafft, für den Amfortas viele Jahre gebraucht hat. Aber man sollte nicht vergessen, dass der Artusritter Gawan, sozusagen stellvertretend für Parzival, in Chastelmarveille, dem Gegenstück zur Gralsburg Munsalvaesche, die Tat vollbracht hat, durch welche Klingsor schließlich besiegt und seine vierhundert gefangenen Damen aus hoher Gesellschaft, darunter Arnive, die Mutter von König Artus, befreit wurden.
Ich sah lange Zeit in Karl Langenstein eine ähnliche Figur wie Klingsor.
Auch Karl Langenstein hielt sich mehrere (echte oder falsche?) Jungfrauen, darunter meine eigene, damals noch minderjährige Tochter, die er mit seinen ungeläuterten Kräften  in geistig-spirituelle Gefangenschaft führte. Ihm wollte ich mich 1986 ahnungslos und gutgläubig anvertrauen, um zu erfahren, ob meine „Reinkarnations-Interpretationen“ zutreffen oder nicht. Er wurde mir als „Hellseher“ empfohlen.
Zuvor hatte ich in Bad Dürrheim schon Dr. Johannes Tautz, den Biographen von Walter Johannes Stein, aufgesucht und ihm zwei oder drei meiner damaligen Tagebücher überlassen. Ich hatte ihn bei einem ersten Besuch darum gebeten, meine „Erlebnisse“ zu überprüfen. Ich glaube, er hat meine detaillierten Aufzeichnungen nicht einmal ganz gelesen, sondern sich ziemlich schnell ein Urteil gebildet. Dieses Urteil teilte er mir bei meinem zweiten Besuch mit: „Immer wenn Sexualität im Spiel ist, dann gerät man in Gefahr, luziferischen Täuschungen zu erliegen.“
Diese Antwort hat mich enttäuscht und ich merkte, dass Dr. Tautz, den ich als Lehrer hoch verehrte, wohl selbst ein Problem mit der Sexualität hatte. Der schöne Gentleman hatte seine Frau, mit der er Jahrzehnte verheiratet war, für eine wesentlich jüngere verlassen, mit der er jetzt abgeschieden wie ein „Zweisiedler“ in dem Donaustädtchen lebte. Er gehört einer anderen Generation an und hätte über Sexualität wohl nie offen sprechen können, wie wir es damals unter der Anleitung von D. in Einzeltherapien taten. D. ist bis heute eine hervorragende Spezialistin auf therapeutischem Gebiet.
Karl Langenstein, der eine Tochter an der Pforzheimer Waldorfschule hatte, wurde unseren damaligen Freunden C. und F. von Thomas Pape empfohlen, der Lehrer von F. Langenstein war, und Karl Langenstein als Schulvater kannte. C. war nach der ungerechtfertigten Entlassung aus der französischen Tochter der anthroposophischen Heilmittel-Firma „Weleda“ in Huninge, wo er pharmazeutischer Leiter war, krank geworden.
Der ehemalige Fernmeldetechniker und spätere Künstler[1] Karl Langenstein galt damals als Heiler. Seine kleine Wohnung in der Kleinsteinbacher Ochsenstraße wurde in den 70er und 80er Jahren von unzähligen hilfesuchenden Menschen aufgesucht, darunter auch von Gerard Klockenbring, dessen Frau schwer krank war. Auch C., der sich nun ganz auf die Imkerei verlegte, hoffte von Karl Langenstein Heilung. In gewisser Weise hat er sie wohl auch erhalten. Karl Langenstein nannte ihn immer den „Bienenkönig“.
Unter anderem mein Kontakt zu dem „gefährlichen Guru Langenstein“ führte schließlich dazu, dass mir die Waldorfschule in C. die weitere Zusammenarbeit aufkündigte. Ich galt bei meinen Kollegen plötzlich als „Allemand en delir mystique“ und war untragbar geworden, die Oberstufe der jungen Schule aufbauen zu helfen, was ich immer als meine eigentliche Mission angesehen hatte.

Sonntag, 20. Januar 2019

Schneewittchen, Großväterchen Lenin und Großmütterchen Vera


Ich bin heute weder zum evangelischen Gottesdienst noch in die Menschenweihehandlung der Christengemeinschaft gegangen, weil ich mit Lena sein wollte. Sie hält mich nicht, aber ich spüre, dass sie das Wochenende gerne mit mir verbringen möchte, wenn wir schon in der Woche wenig Zeit füreinander haben, weil wir beide viel arbeiten müssen.
Die Geschichten aus ihrer Jugend, die mir Lena nach und nach erzählt, sind so interessant, dass ich ihr heute vorgeschlagen habe, einmal einen Vortrag darüber zu halten. Sie wehrte ab und erwiderte nur: „Wen interessiert das schon?“
Neulich sprachen wir über die sowjetischen Kindergärten. Die Kinder wurden dort vorbildlich versorgt, während beide Elternteile arbeiteten. Zwar frühstückten sie noch zu Hause, aber im Kindergarten gab es ein warmes Mittagessen, Milch und Obst – alles für 1 Rubel 60 in der Woche, also für 20 Kopeken pro Tag.
In der Mittagspause durften die Kinder schlafen. Dazu gab es Schlafsäle mit kleinen Betten. Betreut wurden die Kindergruppen mit 25 bis 30 Kindern von einer Erzieherin und mehreren „Nanjas“, also Helferinnen. Die Kinder konnten selbstverständlich auch draußen spielen, wo es auf den Spielplätzen zum Beispiel Holzhäuschen gab.
Alles fühlte sich an wie im Märchen von Schneewittchen. Es ist die Atmosphäre eines Zwergenreiches.
Allerdings hatte dieses Zwergenreich einen kleinen Schönheitsfehler: In jedem Essensraum hing ein großes Portrait von Djeduschka Lenin (Großväterchen Lenin). Den Kindern wurde erzählt, dass sie nur wegen ihm die glücklichsten Kinder auf der Welt seien und wie im Paradies wohnen würden. Jetzt würden alle zusammen, also die Kleinsten und die Großen, den Sozialismus bauen, später dann den Kommunismus. Dann erst würde es allen Menschen auf der Welt gut gehen, dann gäbe es keine Armen oder Reichen mehr, sondern alle Menschen wären gleich. Sie aber seien die Pioniere dieser zukünftigen Welt.[1]
Später in der Schule wurden die Kinder in die Gruppe der Jungen Pioniere aufgenommen, bekamen eine Uniform, ein rotes Halstuch und ein Käppi. In der Freizeit durften sie Krieg spielen. Natürlich ging es in diesen Kriegsspielen vorwiegend um den siegreichen Kampf der glorreichen Roten Armee gegen die Faschisten, die vor allem in Deutschland verortet wurden, auch wenn das nicht immer ganz deutlich gesagt wurde.
Als Lena auch Pionierin geworden war, ging sie ganz stolz zu ihrer Babuschka (Großmutter) und wollte ihr das sagen. Als sich Oma Vera, die 1920 als Don Kosakin in der Nähe von Rostow am Don geboren worden war, nicht wirklich darüber zu freuen schien und andeutete, dass Großväterchen Lenin nicht nur Gutes gemacht habe, fragte die kleine Lena weiter. Da brachte ihre Großmutter einen weiteren Namen ins Spiel, von dem Lena bis dahin noch nie etwas gehört hatte: Stalin. 
Großmutter Vera erzählte ihr, was sie als 13-jähriges Mädchen erlebt hatte: Eines Tages waren die Schergen Stalins in ihr Dorf am Don gekommen und hätten allen Kulaki die Häuser weggenommen. Als Kulaki bezeichneten die Bolschewiki die Kleinbürger und Bauern, die Privatbesitz hatten. Sie passten genauso wenig wie die Angehörigen der Aristokratie und der Bourgeoisie ins System des Sozialismus, wo es keine Besitzenden mehr geben durfte. Noch unter den Kulaki standen die Christiani, die Kleinbauern, denen nach der Abschaffung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. im Jahr 1881 ein eigenes Stückchen Land zugesprochen worden war.
Nachdem die Bolschewiki den Urgroßeltern von Lena das Haus im Jahre 1933 weggenommen hatten, gruben diese sich Löcher in die Erde und hausten dort ein Jahr lang, bis die Schergen Stalins wiederkamen und ihnen auch noch die Saat für die Felder wegnahmen, die Weinstöcke und Obstbäume fällten und die Felder verwüsteten. Das offensichtliche Ziel war es, die Kulaki verhungern zu lassen.
Plötzlich änderte sich die Politik noch einmal. Nun wurden Arbeiter gesucht, die in der kasachischen Steppe eine Stadt aufbauen und dort die Bodenschätze ausbeuten sollten. Die Großeltern Lenas wurden zusammen mit tausend anderen in Viehwaggons gesetzt und in mehrtägiger Reise nach Sibirien und nach Kasachstan gebracht. Die meisten hatten nichts zu essen und verhungerten schon während der Fahrt im Zug, viele andere  anschließend, nachdem sie mitten in der Steppe ausgesetzt worden waren. Lenas Urgroßvater hatte die gute Idee gehabt, sich selbst und seinen Kindern jeweils einen Kranz Zwiebeln um den Hals zu hängen. So überlebten sie. Zusammen mit den anderen Überlebenden kamen sie nach Karaganda, wo sie als Zwangsarbeiter Kohle und Erze aus den Gruben holen mussten, die für die sowjetische Schwerindustrie gebraucht wurden.
Nach und nach begriff das neugierige Mädchen, wie sehr die Utopie und die Realität des real existierenden Sozialismus auseinanderklafften.
Desillusioniert schaute sie schon früh nach dem Westen, was zunächst einmal DDR bedeutete. Sie hatte dort eine Brieffreundin und bekam hin und wieder ein Päckchen mit guter Schokolade oder mit Kleidern, die an Chic die Einheitskleidung des Sowjetmenschen weit in den Schatten stellten. So bekam die 1968 geborene Sozialistin Geschmack am Kapitalismus.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahre 1991 kam es unter Präsident Jelzin zu Mord und Totschlag in der ehemaligen Sowjetunion. Verschiedene Banden bekämpften sich. Verwandte und Bekannte von Lena wurden brutal ermordet, nachdem sie ihr Eigentum unter Folter den Kriminellen überzeichnet hatten. Es war die reine Anarchie. Dazu kam, dass die Minenarbeiter, Fabrikarbeiter und Angestellten mehr als zwei Jahre lang keine Löhne erhielten, weil der Staat zahlungsunfähig war. Wer einen kleinen Garten hatte, konnte überleben. Die anderen mussten auch kriminell werden. Sie machten für Geld alles, was man von ihnen verlangte. So wurden viele zu Killern. Diese selbst konnten allerdings auch nicht sicher sein, weil die Auftraggeber auch sie aus dem Weg räumen ließen, um die Spuren, die zu ihnen führen konnten, zu verwischen.
Viele dieser Kriminellen wurden damals in den weit verbreiteten Bandenkriegen getötet. Die brutalsten überlebten und machten ein Vermögen. Das sind die heutigen Oligarchen, die mit ihren Millionen überall in den reichen Ländern der Welt nur so um sich werfen.
Dass es vorwiegend „Blutgeld“ ist, scheint ihr Gewissen nicht weiter zu belasten.
Ich denke, dass ist die schlimmste Folge des siebzigjährigen sozialistischen Experiments: Der historische Materialismus, den sie von Kindesbeinen an aufgenommen haben, hat bei etlichen Menschen das Gewissen ausgelöscht. Oder aber es handelt sich bei diesen gewissenlosen Menschen um „Sorat-Menschen“, von denen Rudolf Steiner spricht:
„Sorat-Menschen werden äußerlich kenntlich sein, sie werden in furchtbarster Weise nicht nur alles verspotten, sondern alles bekämpfen und in den Pfuhl stoßen, was geistiger Art ist.“[2]
Lena arbeitete später als Bauingenieurin in einem Immobilienbüro, das von einem korrupten sowjetischen Juden geleitet wurde, der sie ebenfalls zu kleinen oder größeren Betrügereien, die damals üblich waren, verleiten wollte. Lena hat sich geweigert und hat gekündigt. Sie hat auf Anraten ihrer Mutter einen Russlanddeutschen geheiratet und ist 1993 ausgewandert.
Von ihrem Vater, der immer noch in Russland lebt, hat sie an Weihnachten erfahren, dass ihr ehemaliger Chef heute ein Bestattungsunternehmen hat und Millionär ist. Warum er so reich geworden ist, hängt damit zusammen, dass er als erster wusste, welche Immobilien frei wurden, wenn jemand gestorben war. Er kaufte sie billig und verkaufte sie teuer weiter.
Lena könnte heute reich und wohlhabend sein, wenn sie das Angebot angenommen hätte. 
Sie hat sich anders entschieden und ist heute „Reinigungskraft“ in reichen Haushalten. Tag für Tag darf sie die schönen Wohnungen putzen, von denen sie selbst immer geträumt hat.


[1] Hier sieht man, dass das „sozialistische Experiment“ ein Zerrbild der zukünftigen slawischen Kulturepoche war, von dem Rudolf Steiner spricht. Diese wird allerdings erst im vierten nachchristlichen Jahrtausend anbrechen und eine Kultur echter Selbstlosigkeit hervorbringen. Die New Ager irren sich auch, wenn sie meinen, das sogenannte „Wassermann-Zeitalter“, das auf das jetzige „Fische-Zeitalter“ folgt, sei jetzt schon angebrochen.
[2] R. Steiner (GA 346, 122f)


Freitag, 18. Januar 2019

Spaltungstendenzen



Eben kam in 3SAT-Kulturzeit ein Nachruf auf Amoz Oz, den linksliberalen israelischen Schriftsteller und Friedensaktivisten, der am 28. Dezember 2018 mit 79 Jahren gestorben ist. Er wird in dem Portrait als „Das Gewissen Israels“ bezeichnet, das nun fehle. Er wird auch ein moderner „Prophet“ genannt, weil er bereits mit 28 Jahren während des Sechs-Tage-Krieges davor warnte, die eroberten Gebiete besetzt zu halten.[1] Ohne ihn, so heißt es, würde sich Israel nicht zum besseren, sondern zum schlechteren verändern.
Das erinnert mich an einen anderen Beitrag, den ich heute auf Facebook fand. In einer – mir bisher völlig unbekannten – Zeitschrift („Das Magazin“) kam eine Reportage von Hannes Grassegger mit dem Titel „Der böse Jude“. Es geht um die Machenschaften des im Hintergrund arbeitenden Arthur J. Finkelstein, der für die amerikanischen Republikaner Kampagnen organisiert hatte, indem er die Methode anwandte, den politischen Gegner schlecht zu reden. Im Jahre 2011 gipfelte seine Aktivität in einer Kampagne gegen George Soros, den er als eine Art „Antichrist“ hinstellte, um die Wahl Victor Orbans in Ungarn zu unterstützen. Am Ende des Artikels lese ich den Satz, den der im August 2017 gestorbene Finkelstein in seiner letzten öffentlichen Rede ausgesprochen haben soll:
„Ich wollte die Welt ändern. Das habe ich getan. Ich habe sie schlechter gemacht.“[2]
Dass es unter Juden immer wieder zu Spaltungen kommt, die offenbar seit alttestamentarischen Zeiten zu ihrer Geschichte dazu gehören, dafür kann man viele Beispiele finden. Dass diese „Unsitte“ aber auch unter den Anthroposophen seit Rudolf Steiners Tod massiv aufgetreten ist und heute andauert, das tut mir tief in der Seele weh.
Natürlich darf es geistige Auseinandersetzung geben, aber sie muss sachlich geführt werden. Wer den anderen menschlich herabsetzt oder gar verteufelt, disqualifiziert sich selbst.
Jeder Konflikt ist Ausdruck einer geistigen Auseinandersetzung, die man losgelöst von den Trägern anschauen sollte, rät Rudolf Steiner.
Das ist für mich maßgeblich.
Wer sich zur Diffamierung des politischen Gegners versteigt, macht die Welt nicht besser, sondern schlechter. Deshalb mag ich auch das „Trump-Bashing“ oder auch das beliebte „AfD-Bashing“, sobald es personalisiert wird, nicht.
Auf eine Metaebene angesichts solcher Auseinandersetzungen stellt sich der emeritierte Kieler Kognitionsforscher Werner Mausfeld in seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer?“, Westend-Verlag, 2018. Er spricht von der bewussten Fragmentierung der Wahrnehmung durch die staatsabhängigen Medien, die im Dienste der Eliten statt Information Propaganda liefern.
Er führt aus:
„Die Anwendung von ‚Hard Power‘[3] hat aus Sicht der Herrschenden einen gewissen Nachteil, weil wir aufgrund unserer natürlichen moralischen Sensitivitäten dazu neigen, darauf mit Empörung und Auflehnung zu reagieren. Dies wiederum ist für die Herrschenden mit Kosten verbunden. Der einflussreiche amerikanische Politikwissenschaftler und Propagandatheoretiker Harold D. Lasswell hat dies 1930 in der Encyclopedia of the Social Sciences auf den Punkt gebracht: Meinungsmanagement ist ‚kostengünstiger als Gewalt, Bestechung oder irgendeine andere Kontrolltechnik.‘
Daher wurde seit den historischen Anfängen versucht, Machttechniken zu entwickeln, mit denen sich unsere moralischen Sensitivitäten gleichsam unterlaufen lassen, die also weniger Widerstand im Volk aktivieren. Diese Machttechniken werden heute oft als ‚Soft Power‘[4] bezeichnet; sie umfassen das gesamte Spektrum von Techniken, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Vermittlungsinstanzen für diese Formen der Machtausübung sind – unterstützt durch Stiftungen, Think-Tanks, Elitennetzwerke und Lobbygruppen – insbesondere private und öffentliche Medien, Schulen und der gesamte Erziehungs- und Ausbildungssektor sowie die Kulturindustrie. Die Wirkungen von ‚Soft-Power-‚Techniken sind für die Bevölkerung weitgehend unsichtbar; es ist also kaum mit Protesten gegen diese Formen der Indoktrination zu rechnen. (…) Es geht also bei ‚Soft Power‘ letztlich um eine psychologische Kriegsführung gegen die Bevölkerung …“ (S 64 f)
Zu dieser „Soft Power“ gehört auch das machiavellistische Prinzip: „Divide et impera“, (Teile und herrsche). Die hinter all den Spaltungen stehenden Machteliten können das Volk, das heißt, die ‚Lämmer‘ dadurch schwächen, dass sie sich spalten.
Als in den Jahren 1932 bis 1935 auch in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft vehemente Spaltungsversuche unternommen wurden, die schließlich zum Ausschluss von über 3000 Mitgliedern, darunter enge Schüler von Rudolf Steiner, und von zwei durch Rudolf Steiner bei der Weihnachtstagung 1923/24 selbst eingesetzten Vorstandsvorsitzenden, fehlte in der Welt eine wichtige moralische Instanz. Wo immer solche personalisierten Spaltungstendenzen in der anthroposophischen Gesellschaft auch heute auftreten, sollten sich die Akteure prüfen, welchen geistigen Mächten, vielleicht ohne es zu merken, sie dienen.

Freitag, 4. Januar 2019

München, 1. Juni 1907 - ein Moment von welthistorischer Bedeutung


Dieses wunderbare Breslauer Foto von Ita Wegman, das ich gestern sah, hat mich angeregt, mich einmal wieder mit dieser Persönlichkeit zu beschäftigen. Dazu las ich den Band „Ich bleibe bei Ihnen“ – Rudolf Steiner und Ita Wegman, München, Pfingsten 1907, Dornach 1923 – 1924, der im Jahr 2007 im Verlag Freies Geistesleben erschienen ist und den ich am 2. Januar 2008 in Ellwangen gekauft und sofort gelesen habe.
Nun las ich ihn gestern zum zweiten Mal und es war mir, als lese ich ihn zum ersten Mal.
Natürlich interessiert mich der Münchner Kongress an Pfingsten 1907 schon seit über zehn Jahren, eben seit 2007, aber ich wurde mir seiner Bedeutung erst gestern wirklich bewusst, als ich bemerkte, dass Rudolf Steiner damals im Kaimsaal in München den Vorläufer eines modernen „Rosenkreuzertempels“ improvisiert hat. In München sollte das neue Zentrum entstehen, das sich im Gegensatz zum Zentrum der „Theosophical Society“ von Annie Besant im indischen Adyar nicht auf die beiden östlichen Meister, sondern auf die beiden westlichen Meister, Christian Rosenkreuz und Meister Jesus, stützte. Dieser Gegensatz konnte zu einem „furchtbaren Kampf“ werden, wie Peter Selg das erste Kapitel nach einer Bemerkung Rudolf Steiners nannte. Rudolf Steiner hatte am 26. März 1907, zwei Monate vor der Eröffnung des Münchner Kongresses, an Anna Minslova, eine mit okkulten Fähigkeiten begabte Russin und seine esoterische Schülerin, geschrieben:
„Ihr Gefühl in Bezug auf das, was an Mitteilungen über okkulte Vorgänge von Adyar aus verbreitet wird, leitet Sie richtig. Nun aber befinden wir uns in einer schweren Zeit, nicht nur für den Fortgang der Theosophischen Gesellschaft, sondern für das spirituelle Leben überhaupt. Es sind viele dunkle Mächte an der Arbeit, um gerade das redlichste okkulte Streben, das für die gegenwärtige Zeit zum Heile der Menschheit so notwendig ist, zu zerstören. Im gegenwärtigen Augenblicke muss mein Mund noch geschlossen bleiben über die eigentlichen tieferen Grundlagen des Kampfes, der hinter den Kulissen geführt wird. Es kann ein furchtbarer Kampf werden und wir werden mit offenen Augen dem gegenüberstehen müssen, was da kommt (…)“[1]
Es sei klar, meint Peter Selg, dass es in dem Kampf um die „Christus-Auffassung“ ging. In der hinduistisch geprägten „Theosophical Society“ spielte Christus keine Rolle. Annie Besant erachtete sich „in Bezug auf das Christentum nicht für kompetent“ und deshalb trat sie 1904, in dem Jahr, als Rudolf Steiner seine eigene Esoterische Schule öffnete, die christlich-rosenkreuzerische Schulung an Rudolf Steiner ab.
Etwas mehr als eine Woche nach dem Münchner Kongress  fand in München am 1. Juni 1907 eine Esoterische Stunde statt, in der Rudolf Steiner unter anderem betonte:
„Dadurch, dass der Mensch (…) esoterische Übungen macht, wächst er geistig in die Zukunft hinein, er erlebt in sich das, was in Zukunft einst sein wird und das, was er so erlebt, ist das, was wir als die höheren Welten kennen. Sie stellen Zukunftszustände der Menschheit dar. (…) Wenn niemand auf der Erde wäre, der esoterische Übungen machen wollte, so müsste die Erde immer mehr und mehr erstarren.“[2]
In meiner Sicht betrifft das vor allem die jetzige Gegenwart, aber in einem noch tieferen Sinne die sechste nachatlantische Kulturepoche, die ein kleines Häuflein esoterisch arbeitender Menschen heute schon vorzubereiten hat.
Rudolf Steiner, der seine Autobiographie „Mein Lebensgang“ auf dem Sterbebett nur bis ins Jahr 1907, also bis zum Münchner Kongress, fortführen konnte[3], war damals 46 Jahre alt, Ita Wegman, die am Kongress und an der Esoterischen Stunde teilgenommen hatte 31, also 15 Jahre jünger (geboren am 22. Februar 1876 in Java).
Peter Selg schreibt am Ende seines ersten Kapitels:
„Wie alle Mitglieder der Esoterischen Schule musste sich auch Ita Wegman zwischen den Wegen Annie Besants und Rudolf Steiners entscheiden: ‚Die östliche Schule wird von Mrs. Annie Besant geleitet, und wer sich in seinem Herzen mehr zu ihr hingezogen fühlt, der kann nicht länger in unserer Schule bleiben. Ein jeder prüfe genau, welchen Weg ihn die Herzenssehnsucht führt.‘ Von Ita Wegman wollte Rudolf Steiner ihre Entscheidung persönlich hören und ließ sie zu sich rufen.“[4]
26 Jahre später sollte Ita Wegman am 27. Februar 1933 einen Gedenkvortrag über Rudolf Steiner in London halten. Damals erinnerte sie sich auch an ihre Begegnung mit ihrem Geisteslehrer nach dem Münchner Kongress. In ihrem Vortragsentwurf schrieb sie:
„Als ungeheuer bedeutungsvoll habe ich den Münchner Kongress empfunden. Es war damals im Jahre 1907, als in München ein großer theosophischer Kongress stattfand, zu dem alle wichtigen theosophischen Mitglieder von überall her hinkamen. Auch Annie Besant war zugegen. Da war schon zu bemerken, wie er (Rudolf Steiner) andere Wege ging als Leadbeater und Annie Besant, und unter den Freunden A. Besants war große Aufregung. Man beschäftigte sich eingehend damit, woher hat Rudolf Steiner sein großes Wissen über die übersinnliche Welt; ein Wissen, an das sie nicht herankommen konnten. Und als Rudolf Steiner Annie Besant selbst erklärte, dass er sein Wissen über die Mondsphäre hinaus von der Sonnensphäre hole mit einem Bewusstsein, das nicht erst in den Schlaf zu gehen brauche, wurde diese seine Sprache als ketzerisch empfunden, stolz und eigenmächtig.
Ich hatte das eigenartige Erlebnis, zuerst mit Annie Besant zusammenzukommen, durch meine Beziehungen zu den holländischen Freunden, unter denen der Fall Steiner eifrig besprochen wurde. Kurz darauf ließ er mich rufen. Ich wusste, ein entscheidender Moment meines Lebens wird stattfinden, ich musste mich entscheiden, entweder voll und ganz den Weg Rudolf Steiners zu nehmen und ihm zu folgen oder bei den holländischen Freunden zu bleiben.
Rudolf Steiner empfing mich ernst, sein Blick war fragend. Es wurde nicht viel gesprochen zwischen uns, wir verstanden uns sehr gut. Ich sagte einfach, weil ich fühlte, dass er von den Dingen wusste: ‚Ich bleibe bei Ihnen.‘
Dann wurde sein Blick strahlend, er nahm meine Hand, gab mir das Michael Zeichen und sagte wichtige Dinge zu mir, die ich nicht wiederholen darf. Ein uraltes Karma, das zwischen ihm und mir bestand, wurde erneut. Die Tragweite dieser Begegnung wurde mir erst viele Jahre später bewusst.“
Am 11. Juni 1924, als Rudolf Steiner anlässlich des Landwirtschaftlichen Kurses, auf dem er die Biologisch-Dynamische Landwirtschaft (Demeter) begründete, schrieb der seit dem Brand des Goetheanums in der Silvesternacht 1922/23 bereits stark geschwächte Geisteslehrer aus dem schlesischen Koberwitz an seine Freundin, Schülerin und Mitarbeiterin in Dornach einen langen Brief, der im Buch von Peter Selg auch als Faksimile abgedruckt ist. Darin heißt es am Ende:
„Ich war alt geworden, als Du mich damals vor Zeiten verließest[5]; dieses Alter überkam mich gerade so stark in dem Zeitpunkte, während des Münchner Kongresses, den Du erwähnst. Man bemerkte dies äußerlich nicht. Ich erschien regsam, sogar vielen vielleicht betriebsam. Ich gab mich eben immer der geistigen Welt hin, und dies ließ die Müdigkeit nach außen hin nicht auftreten. Aber es war schon Müdigkeit gegenüber allem, nur nicht der geistig-anthroposophischen Strömung gegenüber. Diese Müdigkeit war das karmische Abbild meines Alterns, nachdem Du von mir gegangen warst. Und jetzt warst Du im Auditorium. Aber noch war die Scheidelinie zwischen Asien und Europa im karmischen Abbild zwischen uns. Jetzt ist das alles nicht mehr. Und ich darf nun auch zu den Menschen anders sprechen als früher. Die geistigen Mächte, deren Ausdruck die Anthroposophie ist, sehen wohlwollend, liebend, wie ich mich stütze nunmehr auf die Liebe, die ich hege zu Deiner von mir so hochgeschätzten Seele. Und dies ist mir die stärkste Stütze.
Ich möchte gerne weiterschreiben. Doch bald wird das Auto zum Abendvortrag vorfahren, das von hier nach Breslau fast eine Stunde braucht.“[6]


[1] Zitiert nach Peter Selg, 2007, S  27f
[2] A.a.O. S 38
[3] Ich las natürlich gestern noch einmal seinen letzten Eintrag in der Ausgabe von Irene Diet, die ich sehr schätze, weil sie mir einen authentischen Einblick in Rudolf Steiners Schreiben ermöglicht. Irene Diet druckt in ihrer verdienstvollen Ausgabe die Beiträge aus dem „Nachrichtenblatt“ Goetheanum genauso ab, wie sie damals erschienen waren, ohne sie wie in der GA-Ausgabe zu verändern.
[4] A.a.O. ebenda
[5] Die Kenner der karmischen Beziehung zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman wissen, wie er das meinte. Er sprach von Alexander dem Großen, der seinen Lehrer Aristoteles verließ, um auf seinen großangelegten Feldzug nach Asien zu ziehen.
[6] A.a.O. S 78