Samstag, 26. Januar 2019

Hommage an einen Meister


Hans-Joachim Kunath hat erst vor kurzem seinen 66. Geburtstag gefeiert, nämlich am 15. Januar 2019. Fünf Tage später war er tot.
Die Bestattungsfeier in Weckelweiler mit all den Betreuten und mit seinen drei Töchtern, ihren Männern und mit seiner letzten Lebensgefährtin, Frau Harsch, war sehr berührend. Ich habe zum ersten Mal eine Totenfeier der Christengemeinschaft erlebt.
Frau Kristalli war als Priesterin in Weiß mit schwarzer Stola, genauso die beiden Ministranten an ihrer Seite, Frank-Peter H. und seine Frau Elke. Der einfache Fichtenholz-Sarg stand aufgebahrt vor den Stufen zum Altar in der Mitte der Kapelle, dort, wo in klassischen Kirchenräumen die Vierung ist. Am Altar brannten keine Kerzen. Die Priesterin und die Ministranten standen so vor dem Sarg, dass ihr Blick zum Sarg und zum Altar gerichtet war. Frau Kristalli hatte einen Weihwasserwedel aus Silber in der Hand und hielt es wie ein Zepter. Damit bespritzte sie den Sarg neunmal, dreimal von Westen, dreimal von Norden und dreimal von Süden.
Nach der Zeremonie ging sie zur Kanzel und hielt den „Nachruf“. Ich habe nie einen einfühlsameren, poetischeren Nachruf auf einen Verstorbenen gehört. Sie sprach ungewöhnlich lang und frei und man spürte, dass sie sich mit der Biographie von Hans-Joachim Kunath innerlich verbunden hat.
Ich erfuhr viele wesentliche Details aus dem Leben des Mannes, den ich erst vor etwa einem halben Jahr auf der Baustelle unserer neuen Kirche kennengelernt hatte. Herr Kunath ist in einem Ort in der Nähe von Heidenheim geboren, der den schönen Namen „Himmelstür“ trägt. Die Kindheit und Jugend war wohl schwierig. Sein Berufswunsch war Schreiner. Mit 15 Jahren begann er eine Lehre, wurde Geselle und entschloss sich, die Meisterausbildung zu machen, die er mit 27 Jahren abschloss. Damals heiratete der schöne, stattliche Mann seine Frau, mit der er drei Töchter hatte. Mit 35 wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit und eröffnete seine eigene Schreinerwerkstatt. Die Ehe geriet in eine Krise, hielt jedoch nach der Geburt der dritten Tochter noch mehrere Jahre. Mit 54 ging sie endgültig in die Brüche und Herr Kunath verlor auch wenig später seinen Betrieb. Er lernte Frau Harsch und durch sie die Anthroposophie und Weckelweiler kennen, wo er bald eine neue Arbeitsstelle fand. Fast alle Betreuten und Betreuer kannten ihn, weil er für die Türen und Schließanlagen der Häuser der Gemeinschaft zuständig war. Er litt jedoch schon seit längerem an einer Lungenfibrose. Nach der Kur, die er in Berchtesgaden machen durfte, kam er frisch und gesund zurück, bekam dann jedoch eine Lungenentzündung und starb am 20. Januar gegen 8.00 Uhr.
Herr Vogel, der Pianist von Weckelweiler, den Lena und ich im Sommer im Heidehofcafe in Stuttgart getroffen hatten, spielte auch an dieser Feier Klavier und dirigierte den Chor aus Betreuern und Betreuten. Herr Kunath hatte sich die Ode „An die Freude“ als Gesang gewünscht.
Zum Schluss verabschiedete sich jeder von dem Verstorbenen, indem er eine Blume auf dem Sarg niederlegte und ein Teelicht entzündete und auf die Stufen zum Altar stellte.
Das ganze Geschehen dauerte von 13.30 bis 14.30 Uhr.

Ich habe bis 9.00 Uhr geschlafen.
Lena hat mich per Telefon geweckt und dann haben wir zusammen gefrühstückt. Dabei ergriff mich solch eine Trauer, dass ich am liebsten weinen wollte. Das habe ich dann auch ein bisschen getan.
Ich zeigte Lena das kleine Foto von Herrn Kunath, das ich gestern im Vorraum der Kapelle, wo das Kondolenzbuch auslag, mitgenommen hatte. Obwohl ich diesen Mann erst seit einem halben Jahr kenne, hat mich sein Tod doch sehr berührt! Auch während des Gottesdienstes sind mir mehrmals die Tränen gekommen.
Ich sagte zu Lena, dass ich Herrn Kunath als Handwerker bewundert habe und sprach von seiner „gezügelten Energie“. Bei mir fließt die Energie oft unkontrolliert aus, beziehungsweise wird, wenn ich nicht aufpasse, „zerstörerisch“, wenn mir zum Beispiel ein Glas zu Boden fällt oder ich mich beim Gemüseschneiden selber verletze. Ich habe dann zu viel „überschüssige“ Energie. Diesen Rest an Energie konnte Hans-Joachim Kunath so wunderbar bei sich behalten und in sinnvolles Arbeiten verwandeln. Er strahlte dadurch immer Sicherheit aus.
Wenn ich jemanden nennen sollte, der nahezu  „perfekt“ war, dann wäre er es. Er hat sein Leben mit einer wunderbaren Tat vollendet: er hat der Gemeinde von Schwäbisch Hall eine wunderschöne Kirche bereitet. Ohne seine Anleitung hätten die Gemeindeglieder, die als Laien geholfen haben, nicht so viel geschafft, wie wir in den wenigen Wochen vor und nach den Sommerferien geschafft haben.
Ich bin so dankbar, dass ich drei- oder viermal mithelfen durfte und den „Meister“ dadurch kennenlernen durfte. Erst im gemeinsamen Arbeiten verbindet man sich tief mit dem Mitmenschen. Ein Gespräch ist wunderbar. Aber noch wunderbarer ist gemeinsames Tun.
Geschämt habe ich mich heimlich, als ich merkte, dass ich außer der ersten die weiteren Strophen von Friedrich Schillers Ode „An die Freude“ nicht auswendig wusste. Als Deutschlehrer! Ich schäme mich noch immer. Dabei habe ich das Gedicht schon mit meinen Schülern rezitiert.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
                Seid umschlungen, Millionen!
                Diesen Kuss der ganzen Welt!
                Brüder – überm Sternenzelt
                Muss ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund.
                Was den großen Ring bewohnet,
                Huldige der Sympathie!
                Zu den Sternen leitet sei,
                Wo der Unbekannte thronet.

Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.
                Ihr stürzt nieder, Millionen?
                Ahnest Du den Schöpfer, Welt?
Such ihn überm Sternenzelt,
Über Sternen muss er wohnen.

Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.
                Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächtgen Plan,
                Wandelt, Brüder, eure Bahn,
                Freudig wie ein Held zum Siegen.

Aus der Wahrheit Feuerspiegel
Lächelt sie den Forscher an;
Zu der Tugend steilem Hügel
Leitet sie des Dulders Bahn.
Auf des Glaubens Sonnenberge
Sieht man ihre Fahnen wehn,
Durch den Riss gesprengter Särge
Sie im Chor der Engel stehn.
                Duldet mutig, Millionen!
Duldet für die bessre Welt!
                Droben überm Sternenzelt
                Wird ein großer Gott belohnen - -

Festen Mut in schweren Leiden,
Hilfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält es Gut und Blut:
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut!
                Schließt den heilgen Zirkel dichter,
                Schwört bei diesem goldnen Wein,
                Dem Gelübde treu zu sein,
                Schwört es bei dem Sternenrichter!

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