Dieses
wunderbare Breslauer Foto von Ita Wegman, das ich gestern sah, hat mich angeregt,
mich einmal wieder mit dieser Persönlichkeit zu beschäftigen. Dazu las ich den Band
„Ich bleibe bei Ihnen“ – Rudolf Steiner und Ita Wegman, München, Pfingsten 1907,
Dornach 1923 – 1924, der im Jahr 2007 im Verlag Freies Geistesleben erschienen ist
und den ich am 2. Januar 2008 in Ellwangen gekauft und sofort gelesen habe.
Nun las
ich ihn gestern zum zweiten Mal und es war mir, als lese ich ihn zum ersten Mal.
Natürlich
interessiert mich der Münchner Kongress an Pfingsten 1907 schon seit über zehn Jahren,
eben seit 2007, aber ich wurde mir seiner Bedeutung erst gestern wirklich bewusst,
als ich bemerkte, dass Rudolf Steiner damals im Kaimsaal in München den Vorläufer
eines modernen „Rosenkreuzertempels“ improvisiert hat. In München sollte das neue
Zentrum entstehen, das sich im Gegensatz zum Zentrum der „Theosophical Society“
von Annie Besant im indischen Adyar nicht auf die beiden östlichen Meister, sondern
auf die beiden westlichen Meister, Christian Rosenkreuz und Meister Jesus, stützte.
Dieser Gegensatz konnte zu einem „furchtbaren Kampf“ werden, wie Peter Selg das
erste Kapitel nach einer Bemerkung Rudolf Steiners nannte. Rudolf Steiner hatte
am 26. März 1907, zwei Monate vor der Eröffnung des Münchner Kongresses, an Anna
Minslova, eine mit okkulten Fähigkeiten begabte Russin und seine esoterische Schülerin,
geschrieben:
„Ihr
Gefühl in Bezug auf das, was an Mitteilungen über okkulte Vorgänge von Adyar aus
verbreitet wird, leitet Sie richtig. Nun aber befinden wir uns in einer schweren
Zeit, nicht nur für den Fortgang der Theosophischen Gesellschaft, sondern für das
spirituelle Leben überhaupt. Es sind viele dunkle Mächte an der Arbeit, um gerade
das redlichste okkulte Streben, das für die gegenwärtige Zeit zum Heile der Menschheit
so notwendig ist, zu zerstören. Im gegenwärtigen Augenblicke muss mein Mund noch
geschlossen bleiben über die eigentlichen tieferen Grundlagen des Kampfes, der hinter
den Kulissen geführt wird. Es kann ein furchtbarer Kampf werden und wir werden mit
offenen Augen dem gegenüberstehen müssen, was da kommt (…)“[1]
Es sei
klar, meint Peter Selg, dass es in dem Kampf um die „Christus-Auffassung“ ging.
In der hinduistisch geprägten „Theosophical Society“ spielte Christus keine Rolle.
Annie Besant erachtete sich „in Bezug auf das Christentum nicht für kompetent“ und
deshalb trat sie 1904, in dem Jahr, als Rudolf Steiner seine eigene Esoterische
Schule öffnete, die christlich-rosenkreuzerische Schulung an Rudolf Steiner ab.
Etwas
mehr als eine Woche nach dem Münchner Kongress fand in München am 1. Juni 1907 eine Esoterische
Stunde statt, in der Rudolf Steiner unter anderem betonte:
„Dadurch,
dass der Mensch (…) esoterische Übungen macht, wächst er geistig in die Zukunft
hinein, er erlebt in sich das, was in Zukunft einst sein wird und das, was er so
erlebt, ist das, was wir als die höheren Welten kennen. Sie stellen Zukunftszustände
der Menschheit dar. (…) Wenn niemand auf der Erde wäre, der esoterische Übungen
machen wollte, so müsste die Erde immer mehr und mehr erstarren.“[2]
In meiner
Sicht betrifft das vor allem die jetzige Gegenwart, aber in einem noch tieferen
Sinne die sechste nachatlantische Kulturepoche, die ein kleines Häuflein esoterisch
arbeitender Menschen heute schon vorzubereiten hat.
Rudolf
Steiner, der seine Autobiographie „Mein Lebensgang“ auf dem Sterbebett nur bis ins
Jahr 1907, also bis zum Münchner Kongress, fortführen konnte[3], war damals
46 Jahre alt, Ita Wegman, die am Kongress und an der Esoterischen Stunde teilgenommen
hatte 31, also 15 Jahre jünger (geboren am 22. Februar 1876 in Java).
Peter
Selg schreibt am Ende seines ersten Kapitels:
„Wie
alle Mitglieder der Esoterischen Schule musste sich auch Ita Wegman zwischen den
Wegen Annie Besants und Rudolf Steiners entscheiden: ‚Die östliche Schule wird von
Mrs. Annie Besant geleitet, und wer sich in seinem Herzen mehr zu ihr hingezogen
fühlt, der kann nicht länger in unserer Schule bleiben. Ein jeder prüfe genau, welchen
Weg ihn die Herzenssehnsucht führt.‘ Von Ita Wegman wollte Rudolf Steiner ihre Entscheidung
persönlich hören und ließ sie zu sich rufen.“[4]
26 Jahre
später sollte Ita Wegman am 27. Februar 1933 einen Gedenkvortrag über Rudolf Steiner
in London halten. Damals erinnerte sie sich auch an ihre Begegnung mit ihrem Geisteslehrer
nach dem Münchner Kongress. In ihrem Vortragsentwurf schrieb sie:
„Als
ungeheuer bedeutungsvoll habe ich den Münchner Kongress empfunden. Es war damals
im Jahre 1907, als in München ein großer theosophischer Kongress stattfand, zu dem
alle wichtigen theosophischen Mitglieder von überall her hinkamen. Auch Annie Besant
war zugegen. Da war schon zu bemerken, wie er (Rudolf Steiner) andere Wege ging
als Leadbeater und Annie Besant, und unter den Freunden A. Besants war große Aufregung.
Man beschäftigte sich eingehend damit, woher hat Rudolf Steiner sein großes Wissen
über die übersinnliche Welt; ein Wissen, an das sie nicht herankommen konnten. Und
als Rudolf Steiner Annie Besant selbst erklärte, dass er sein Wissen über die Mondsphäre
hinaus von der Sonnensphäre hole mit einem Bewusstsein, das nicht erst in den Schlaf
zu gehen brauche, wurde diese seine Sprache als ketzerisch empfunden, stolz und
eigenmächtig.
Ich hatte
das eigenartige Erlebnis, zuerst mit Annie Besant zusammenzukommen, durch meine
Beziehungen zu den holländischen Freunden, unter denen der Fall Steiner eifrig besprochen
wurde. Kurz darauf ließ er mich rufen. Ich wusste, ein entscheidender Moment meines
Lebens wird stattfinden, ich musste mich entscheiden, entweder voll und ganz den
Weg Rudolf Steiners zu nehmen und ihm zu folgen oder bei den holländischen Freunden
zu bleiben.
Rudolf
Steiner empfing mich ernst, sein Blick war fragend. Es wurde nicht viel gesprochen
zwischen uns, wir verstanden uns sehr gut. Ich sagte einfach, weil ich fühlte, dass
er von den Dingen wusste: ‚Ich bleibe bei Ihnen.‘
Dann
wurde sein Blick strahlend, er nahm meine Hand, gab mir das Michael Zeichen und
sagte wichtige Dinge zu mir, die ich nicht wiederholen darf. Ein uraltes Karma,
das zwischen ihm und mir bestand, wurde erneut. Die Tragweite dieser Begegnung wurde
mir erst viele Jahre später bewusst.“
Am 11.
Juni 1924, als Rudolf Steiner anlässlich des Landwirtschaftlichen Kurses, auf dem
er die Biologisch-Dynamische Landwirtschaft (Demeter) begründete, schrieb der seit
dem Brand des Goetheanums in der Silvesternacht 1922/23 bereits stark geschwächte
Geisteslehrer aus dem schlesischen Koberwitz an seine Freundin, Schülerin und Mitarbeiterin
in Dornach einen langen Brief, der im Buch von Peter Selg auch als Faksimile abgedruckt
ist. Darin heißt es am Ende:
„Ich
war alt geworden, als Du mich damals vor Zeiten verließest[5]; dieses Alter
überkam mich gerade so stark in dem Zeitpunkte, während des Münchner Kongresses,
den Du erwähnst. Man bemerkte dies äußerlich nicht. Ich erschien regsam, sogar vielen
vielleicht betriebsam. Ich gab mich eben immer der geistigen Welt hin, und dies
ließ die Müdigkeit nach außen hin nicht auftreten. Aber es war schon Müdigkeit gegenüber
allem, nur nicht der geistig-anthroposophischen Strömung gegenüber. Diese Müdigkeit
war das karmische Abbild meines Alterns, nachdem Du von mir gegangen warst. Und
jetzt warst Du im Auditorium. Aber noch war die Scheidelinie zwischen Asien und
Europa im karmischen Abbild zwischen uns. Jetzt ist das alles nicht mehr. Und ich
darf nun auch zu den Menschen anders sprechen als früher. Die geistigen Mächte,
deren Ausdruck die Anthroposophie ist, sehen wohlwollend, liebend, wie ich mich
stütze nunmehr auf die Liebe, die ich hege zu Deiner von mir so hochgeschätzten
Seele. Und dies ist mir die stärkste Stütze.
Ich möchte
gerne weiterschreiben. Doch bald wird das Auto zum Abendvortrag vorfahren, das von
hier nach Breslau fast eine Stunde braucht.“[6]
[1] Zitiert nach
Peter Selg, 2007, S 27f
[2] A.a.O. S
38
[3] Ich las natürlich
gestern noch einmal seinen letzten Eintrag in der Ausgabe von Irene Diet, die ich
sehr schätze, weil sie mir einen authentischen Einblick in Rudolf Steiners Schreiben
ermöglicht. Irene Diet druckt in ihrer verdienstvollen Ausgabe die Beiträge aus
dem „Nachrichtenblatt“ Goetheanum genauso ab, wie sie damals erschienen waren, ohne
sie wie in der GA-Ausgabe zu verändern.
[4] A.a.O. ebenda
[5] Die Kenner
der karmischen Beziehung zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman wissen, wie er das
meinte. Er sprach von Alexander dem Großen, der seinen Lehrer Aristoteles verließ,
um auf seinen großangelegten Feldzug nach Asien zu ziehen.
[6] A.a.O. S
78
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