Freitag, 4. Januar 2019

München, 1. Juni 1907 - ein Moment von welthistorischer Bedeutung


Dieses wunderbare Breslauer Foto von Ita Wegman, das ich gestern sah, hat mich angeregt, mich einmal wieder mit dieser Persönlichkeit zu beschäftigen. Dazu las ich den Band „Ich bleibe bei Ihnen“ – Rudolf Steiner und Ita Wegman, München, Pfingsten 1907, Dornach 1923 – 1924, der im Jahr 2007 im Verlag Freies Geistesleben erschienen ist und den ich am 2. Januar 2008 in Ellwangen gekauft und sofort gelesen habe.
Nun las ich ihn gestern zum zweiten Mal und es war mir, als lese ich ihn zum ersten Mal.
Natürlich interessiert mich der Münchner Kongress an Pfingsten 1907 schon seit über zehn Jahren, eben seit 2007, aber ich wurde mir seiner Bedeutung erst gestern wirklich bewusst, als ich bemerkte, dass Rudolf Steiner damals im Kaimsaal in München den Vorläufer eines modernen „Rosenkreuzertempels“ improvisiert hat. In München sollte das neue Zentrum entstehen, das sich im Gegensatz zum Zentrum der „Theosophical Society“ von Annie Besant im indischen Adyar nicht auf die beiden östlichen Meister, sondern auf die beiden westlichen Meister, Christian Rosenkreuz und Meister Jesus, stützte. Dieser Gegensatz konnte zu einem „furchtbaren Kampf“ werden, wie Peter Selg das erste Kapitel nach einer Bemerkung Rudolf Steiners nannte. Rudolf Steiner hatte am 26. März 1907, zwei Monate vor der Eröffnung des Münchner Kongresses, an Anna Minslova, eine mit okkulten Fähigkeiten begabte Russin und seine esoterische Schülerin, geschrieben:
„Ihr Gefühl in Bezug auf das, was an Mitteilungen über okkulte Vorgänge von Adyar aus verbreitet wird, leitet Sie richtig. Nun aber befinden wir uns in einer schweren Zeit, nicht nur für den Fortgang der Theosophischen Gesellschaft, sondern für das spirituelle Leben überhaupt. Es sind viele dunkle Mächte an der Arbeit, um gerade das redlichste okkulte Streben, das für die gegenwärtige Zeit zum Heile der Menschheit so notwendig ist, zu zerstören. Im gegenwärtigen Augenblicke muss mein Mund noch geschlossen bleiben über die eigentlichen tieferen Grundlagen des Kampfes, der hinter den Kulissen geführt wird. Es kann ein furchtbarer Kampf werden und wir werden mit offenen Augen dem gegenüberstehen müssen, was da kommt (…)“[1]
Es sei klar, meint Peter Selg, dass es in dem Kampf um die „Christus-Auffassung“ ging. In der hinduistisch geprägten „Theosophical Society“ spielte Christus keine Rolle. Annie Besant erachtete sich „in Bezug auf das Christentum nicht für kompetent“ und deshalb trat sie 1904, in dem Jahr, als Rudolf Steiner seine eigene Esoterische Schule öffnete, die christlich-rosenkreuzerische Schulung an Rudolf Steiner ab.
Etwas mehr als eine Woche nach dem Münchner Kongress  fand in München am 1. Juni 1907 eine Esoterische Stunde statt, in der Rudolf Steiner unter anderem betonte:
„Dadurch, dass der Mensch (…) esoterische Übungen macht, wächst er geistig in die Zukunft hinein, er erlebt in sich das, was in Zukunft einst sein wird und das, was er so erlebt, ist das, was wir als die höheren Welten kennen. Sie stellen Zukunftszustände der Menschheit dar. (…) Wenn niemand auf der Erde wäre, der esoterische Übungen machen wollte, so müsste die Erde immer mehr und mehr erstarren.“[2]
In meiner Sicht betrifft das vor allem die jetzige Gegenwart, aber in einem noch tieferen Sinne die sechste nachatlantische Kulturepoche, die ein kleines Häuflein esoterisch arbeitender Menschen heute schon vorzubereiten hat.
Rudolf Steiner, der seine Autobiographie „Mein Lebensgang“ auf dem Sterbebett nur bis ins Jahr 1907, also bis zum Münchner Kongress, fortführen konnte[3], war damals 46 Jahre alt, Ita Wegman, die am Kongress und an der Esoterischen Stunde teilgenommen hatte 31, also 15 Jahre jünger (geboren am 22. Februar 1876 in Java).
Peter Selg schreibt am Ende seines ersten Kapitels:
„Wie alle Mitglieder der Esoterischen Schule musste sich auch Ita Wegman zwischen den Wegen Annie Besants und Rudolf Steiners entscheiden: ‚Die östliche Schule wird von Mrs. Annie Besant geleitet, und wer sich in seinem Herzen mehr zu ihr hingezogen fühlt, der kann nicht länger in unserer Schule bleiben. Ein jeder prüfe genau, welchen Weg ihn die Herzenssehnsucht führt.‘ Von Ita Wegman wollte Rudolf Steiner ihre Entscheidung persönlich hören und ließ sie zu sich rufen.“[4]
26 Jahre später sollte Ita Wegman am 27. Februar 1933 einen Gedenkvortrag über Rudolf Steiner in London halten. Damals erinnerte sie sich auch an ihre Begegnung mit ihrem Geisteslehrer nach dem Münchner Kongress. In ihrem Vortragsentwurf schrieb sie:
„Als ungeheuer bedeutungsvoll habe ich den Münchner Kongress empfunden. Es war damals im Jahre 1907, als in München ein großer theosophischer Kongress stattfand, zu dem alle wichtigen theosophischen Mitglieder von überall her hinkamen. Auch Annie Besant war zugegen. Da war schon zu bemerken, wie er (Rudolf Steiner) andere Wege ging als Leadbeater und Annie Besant, und unter den Freunden A. Besants war große Aufregung. Man beschäftigte sich eingehend damit, woher hat Rudolf Steiner sein großes Wissen über die übersinnliche Welt; ein Wissen, an das sie nicht herankommen konnten. Und als Rudolf Steiner Annie Besant selbst erklärte, dass er sein Wissen über die Mondsphäre hinaus von der Sonnensphäre hole mit einem Bewusstsein, das nicht erst in den Schlaf zu gehen brauche, wurde diese seine Sprache als ketzerisch empfunden, stolz und eigenmächtig.
Ich hatte das eigenartige Erlebnis, zuerst mit Annie Besant zusammenzukommen, durch meine Beziehungen zu den holländischen Freunden, unter denen der Fall Steiner eifrig besprochen wurde. Kurz darauf ließ er mich rufen. Ich wusste, ein entscheidender Moment meines Lebens wird stattfinden, ich musste mich entscheiden, entweder voll und ganz den Weg Rudolf Steiners zu nehmen und ihm zu folgen oder bei den holländischen Freunden zu bleiben.
Rudolf Steiner empfing mich ernst, sein Blick war fragend. Es wurde nicht viel gesprochen zwischen uns, wir verstanden uns sehr gut. Ich sagte einfach, weil ich fühlte, dass er von den Dingen wusste: ‚Ich bleibe bei Ihnen.‘
Dann wurde sein Blick strahlend, er nahm meine Hand, gab mir das Michael Zeichen und sagte wichtige Dinge zu mir, die ich nicht wiederholen darf. Ein uraltes Karma, das zwischen ihm und mir bestand, wurde erneut. Die Tragweite dieser Begegnung wurde mir erst viele Jahre später bewusst.“
Am 11. Juni 1924, als Rudolf Steiner anlässlich des Landwirtschaftlichen Kurses, auf dem er die Biologisch-Dynamische Landwirtschaft (Demeter) begründete, schrieb der seit dem Brand des Goetheanums in der Silvesternacht 1922/23 bereits stark geschwächte Geisteslehrer aus dem schlesischen Koberwitz an seine Freundin, Schülerin und Mitarbeiterin in Dornach einen langen Brief, der im Buch von Peter Selg auch als Faksimile abgedruckt ist. Darin heißt es am Ende:
„Ich war alt geworden, als Du mich damals vor Zeiten verließest[5]; dieses Alter überkam mich gerade so stark in dem Zeitpunkte, während des Münchner Kongresses, den Du erwähnst. Man bemerkte dies äußerlich nicht. Ich erschien regsam, sogar vielen vielleicht betriebsam. Ich gab mich eben immer der geistigen Welt hin, und dies ließ die Müdigkeit nach außen hin nicht auftreten. Aber es war schon Müdigkeit gegenüber allem, nur nicht der geistig-anthroposophischen Strömung gegenüber. Diese Müdigkeit war das karmische Abbild meines Alterns, nachdem Du von mir gegangen warst. Und jetzt warst Du im Auditorium. Aber noch war die Scheidelinie zwischen Asien und Europa im karmischen Abbild zwischen uns. Jetzt ist das alles nicht mehr. Und ich darf nun auch zu den Menschen anders sprechen als früher. Die geistigen Mächte, deren Ausdruck die Anthroposophie ist, sehen wohlwollend, liebend, wie ich mich stütze nunmehr auf die Liebe, die ich hege zu Deiner von mir so hochgeschätzten Seele. Und dies ist mir die stärkste Stütze.
Ich möchte gerne weiterschreiben. Doch bald wird das Auto zum Abendvortrag vorfahren, das von hier nach Breslau fast eine Stunde braucht.“[6]


[1] Zitiert nach Peter Selg, 2007, S  27f
[2] A.a.O. S 38
[3] Ich las natürlich gestern noch einmal seinen letzten Eintrag in der Ausgabe von Irene Diet, die ich sehr schätze, weil sie mir einen authentischen Einblick in Rudolf Steiners Schreiben ermöglicht. Irene Diet druckt in ihrer verdienstvollen Ausgabe die Beiträge aus dem „Nachrichtenblatt“ Goetheanum genauso ab, wie sie damals erschienen waren, ohne sie wie in der GA-Ausgabe zu verändern.
[4] A.a.O. ebenda
[5] Die Kenner der karmischen Beziehung zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman wissen, wie er das meinte. Er sprach von Alexander dem Großen, der seinen Lehrer Aristoteles verließ, um auf seinen großangelegten Feldzug nach Asien zu ziehen.
[6] A.a.O. S 78

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