Ich bin
heute weder zum evangelischen Gottesdienst noch in die Menschenweihehandlung
der Christengemeinschaft gegangen, weil ich mit Lena sein wollte. Sie hält mich
nicht, aber ich spüre, dass sie das Wochenende gerne mit mir verbringen möchte,
wenn wir schon in der Woche wenig Zeit füreinander haben, weil wir beide viel arbeiten
müssen.
Die
Geschichten aus ihrer Jugend, die mir Lena nach und nach erzählt, sind so
interessant, dass ich ihr heute vorgeschlagen habe, einmal einen Vortrag
darüber zu halten. Sie wehrte ab und erwiderte nur: „Wen interessiert das schon?“
Neulich
sprachen wir über die sowjetischen Kindergärten. Die Kinder wurden dort
vorbildlich versorgt, während beide Elternteile arbeiteten. Zwar frühstückten
sie noch zu Hause, aber im Kindergarten gab es ein warmes Mittagessen, Milch
und Obst – alles für 1 Rubel 60 in der Woche, also für 20 Kopeken pro Tag.
In der
Mittagspause durften die Kinder schlafen. Dazu gab es Schlafsäle mit kleinen
Betten. Betreut wurden die Kindergruppen mit 25 bis 30 Kindern von einer
Erzieherin und mehreren „Nanjas“, also Helferinnen. Die Kinder konnten
selbstverständlich auch draußen spielen, wo es auf den Spielplätzen zum
Beispiel Holzhäuschen gab.
Alles
fühlte sich an wie im Märchen von Schneewittchen. Es ist die Atmosphäre eines
Zwergenreiches.
Allerdings
hatte dieses Zwergenreich einen kleinen Schönheitsfehler: In jedem Essensraum
hing ein großes Portrait von Djeduschka Lenin (Großväterchen Lenin). Den
Kindern wurde erzählt, dass sie nur wegen ihm die glücklichsten Kinder auf der
Welt seien und wie im Paradies wohnen würden. Jetzt würden alle zusammen, also
die Kleinsten und die Großen, den Sozialismus bauen, später dann den
Kommunismus. Dann erst würde es allen Menschen auf der Welt gut gehen, dann
gäbe es keine Armen oder Reichen mehr, sondern alle Menschen wären gleich. Sie
aber seien die Pioniere dieser zukünftigen Welt.[1]
Später
in der Schule wurden die Kinder in die Gruppe der Jungen Pioniere aufgenommen,
bekamen eine Uniform, ein rotes Halstuch und ein Käppi. In der Freizeit durften
sie Krieg spielen. Natürlich ging es in diesen Kriegsspielen vorwiegend um den
siegreichen Kampf der glorreichen Roten Armee gegen die Faschisten, die vor allem in
Deutschland verortet wurden, auch wenn das nicht immer ganz deutlich gesagt
wurde.
Als
Lena auch Pionierin geworden war, ging sie ganz stolz zu ihrer Babuschka (Großmutter) und wollte
ihr das sagen. Als sich Oma Vera, die 1920 als Don Kosakin in der Nähe von Rostow
am Don geboren worden war, nicht wirklich darüber zu freuen schien und
andeutete, dass Großväterchen Lenin nicht nur Gutes gemacht habe, fragte die
kleine Lena weiter. Da brachte ihre Großmutter einen weiteren Namen ins Spiel,
von dem Lena bis dahin noch nie etwas gehört hatte: Stalin.
Großmutter Vera erzählte
ihr, was sie als 13-jähriges Mädchen erlebt hatte: Eines Tages waren die
Schergen Stalins in ihr Dorf am Don gekommen und hätten allen Kulaki die Häuser
weggenommen. Als Kulaki bezeichneten die Bolschewiki die Kleinbürger und Bauern,
die Privatbesitz hatten. Sie passten genauso wenig wie die Angehörigen der Aristokratie
und der Bourgeoisie ins System des Sozialismus, wo es keine Besitzenden mehr
geben durfte. Noch unter den Kulaki
standen die Christiani, die Kleinbauern, denen nach der Abschaffung der
Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. im Jahr 1881 ein eigenes Stückchen Land
zugesprochen worden war.
Nachdem
die Bolschewiki den Urgroßeltern von Lena das Haus im Jahre 1933 weggenommen
hatten, gruben diese sich Löcher in die Erde und hausten dort ein Jahr lang,
bis die Schergen Stalins wiederkamen und ihnen auch noch die Saat für die
Felder wegnahmen, die Weinstöcke und Obstbäume fällten und die Felder
verwüsteten. Das offensichtliche Ziel war es, die Kulaki verhungern zu lassen.
Plötzlich
änderte sich die Politik noch einmal. Nun wurden Arbeiter gesucht, die in der
kasachischen Steppe eine Stadt aufbauen und dort die Bodenschätze ausbeuten
sollten. Die Großeltern Lenas wurden zusammen mit tausend anderen in
Viehwaggons gesetzt und in mehrtägiger Reise nach Sibirien und nach Kasachstan
gebracht. Die meisten hatten nichts zu essen und verhungerten schon während der
Fahrt im Zug, viele andere anschließend,
nachdem sie mitten in der Steppe ausgesetzt worden waren. Lenas Urgroßvater
hatte die gute Idee gehabt, sich selbst und seinen Kindern jeweils einen Kranz
Zwiebeln um den Hals zu hängen. So überlebten sie. Zusammen mit den anderen
Überlebenden kamen sie nach Karaganda, wo sie als Zwangsarbeiter Kohle und Erze
aus den Gruben holen mussten, die für die sowjetische Schwerindustrie gebraucht
wurden.
Nach
und nach begriff das neugierige Mädchen, wie sehr die Utopie und die Realität
des real existierenden Sozialismus auseinanderklafften.
Desillusioniert
schaute sie schon früh nach dem Westen, was zunächst einmal DDR bedeutete. Sie
hatte dort eine Brieffreundin und bekam hin und wieder ein Päckchen mit guter
Schokolade oder mit Kleidern, die an Chic die Einheitskleidung des
Sowjetmenschen weit in den Schatten stellten. So bekam die 1968 geborene Sozialistin
Geschmack am Kapitalismus.
Nach
dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahre 1991 kam es unter Präsident Jelzin
zu Mord und Totschlag in der ehemaligen Sowjetunion. Verschiedene Banden bekämpften
sich. Verwandte und Bekannte von Lena wurden brutal ermordet, nachdem sie ihr
Eigentum unter Folter den Kriminellen überzeichnet hatten. Es war die reine
Anarchie. Dazu kam, dass die Minenarbeiter, Fabrikarbeiter und Angestellten
mehr als zwei Jahre lang keine Löhne erhielten, weil der Staat zahlungsunfähig
war. Wer einen kleinen Garten hatte, konnte überleben. Die anderen mussten auch
kriminell werden. Sie machten für Geld alles, was man von ihnen verlangte. So
wurden viele zu Killern. Diese selbst konnten allerdings auch nicht sicher
sein, weil die Auftraggeber auch sie aus dem Weg räumen ließen, um die Spuren,
die zu ihnen führen konnten, zu verwischen.
Viele
dieser Kriminellen wurden damals in den weit verbreiteten Bandenkriegen
getötet. Die brutalsten überlebten und machten ein Vermögen. Das sind die
heutigen Oligarchen, die mit ihren Millionen überall in den reichen Ländern der
Welt nur so um sich werfen.
Dass es
vorwiegend „Blutgeld“ ist, scheint ihr Gewissen nicht weiter zu belasten.
Ich
denke, dass ist die schlimmste Folge des siebzigjährigen sozialistischen
Experiments: Der historische Materialismus, den sie von Kindesbeinen an
aufgenommen haben, hat bei etlichen Menschen das Gewissen ausgelöscht. Oder
aber es handelt sich bei diesen gewissenlosen Menschen um „Sorat-Menschen“, von
denen Rudolf Steiner spricht:
„Sorat-Menschen
werden äußerlich kenntlich sein, sie werden in furchtbarster Weise nicht nur
alles verspotten, sondern alles bekämpfen und in den Pfuhl stoßen, was
geistiger Art ist.“[2]
Lena
arbeitete später als Bauingenieurin in einem Immobilienbüro, das von einem
korrupten sowjetischen Juden geleitet wurde, der sie ebenfalls zu kleinen oder
größeren Betrügereien, die damals üblich waren, verleiten wollte. Lena hat sich
geweigert und hat gekündigt. Sie hat auf Anraten ihrer Mutter einen
Russlanddeutschen geheiratet und ist 1993 ausgewandert.
Von
ihrem Vater, der immer noch in Russland lebt, hat sie an Weihnachten erfahren,
dass ihr ehemaliger Chef heute ein Bestattungsunternehmen hat und Millionär
ist. Warum er so reich geworden ist, hängt damit zusammen, dass er als erster
wusste, welche Immobilien frei wurden, wenn jemand gestorben war. Er kaufte sie
billig und verkaufte sie teuer weiter.
Lena
könnte heute reich und wohlhabend sein, wenn sie das Angebot angenommen hätte.
Sie
hat sich anders entschieden und ist heute „Reinigungskraft“ in reichen
Haushalten. Tag für Tag darf sie die schönen Wohnungen putzen, von denen sie
selbst immer geträumt hat.
[1]
Hier sieht man, dass das „sozialistische Experiment“ ein Zerrbild der
zukünftigen slawischen Kulturepoche war, von dem Rudolf Steiner spricht. Diese wird
allerdings erst im vierten nachchristlichen Jahrtausend anbrechen und eine
Kultur echter Selbstlosigkeit hervorbringen. Die New Ager irren sich auch, wenn
sie meinen, das sogenannte „Wassermann-Zeitalter“, das auf das jetzige „Fische-Zeitalter“
folgt, sei jetzt schon angebrochen.
[2] R. Steiner (GA 346, 122f)
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