Die Politik lässt mich nicht los.
Es verdichtet sich zurzeit wieder alles.
Ich möchte erwähnen, dass ich am
Freitagnachmittag zusammen mit Lena noch einmal den Film „Himmel ohne Sterne“
angeschaut habe. Lenas Kommentar: „Damals gab es noch Frauen, die wie Frauen
aussahen, und Männer, die wie Männer handelten.“
Geweint habe ich beim dritten
Sehen des ausgezeichneten Films allerdings nicht mehr.
Am Samstagabend kam ich noch
rechtzeitig in Hall an, um die Tagesschau zu sehen. Ich erfuhr, dass an diesem
19. Oktober Erhard Eppler mit 92 Jahren verstorben ist. Letztes Jahr um diese
Zeit hatte ich noch auf einen Termin für ein Gespräch mit ihm gehofft, habe es
jedoch nach dem kurzen Brief, den er mir geschrieben hat, nicht weiter
versucht.
Sofort war mir klar, dass hier
ein großer Mann des 20. Jahrhunderts in die geistige Welt zurückgekehrt war und
nun in Zukunft vermutlich wie ein Schutzgeist über dieser Michaelsstadt waltet,
aber nicht nur über dieser Stadt, sondern über dem ganzen Land, das vom
Mittelalter bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dem Erzengel Michael als
Schutzpatron geweiht war[2].
Natürlich dachte ich sofort zurück an den Abend mit Prälat Paul Dieterich im
Haller Haus der Bildung im März dieses Jahres und an den persönlichen Bericht,
den ich davon gegeben habe.
Am Sonntagmorgen ging ich, wie
üblich, wieder zum Bäcker, um für unser Sonntagsfrühstück frische Brötchen zu kaufen. Ich war sehr überrascht, als ich
hinter der Theke wieder meine „Lieblingsverkäuferin“ entdeckte, die ich gewiss
ein Dreivierteljahr nicht mehr gesehen hatte: Flora aus dem Kosowo. Ich hatte
von einer Kollegin erfahren, dass sie Mutterschaftsurlaub genommen hatte, weil
sie ein Baby erwartete. Als ich sie nun nach ihrem Baby fragte, erfuhr ich,
dass das Kind im neunten Monat noch im Bauch der Mutter gestorben sei. Flora
konnte die Tränen kaum zurückhalten und erklärte mir, dass sie sieben Jahre auf
dieses Kind gewartet hatte. Ich versuchte, sie zu trösten, indem ich ihr zu
verstehen gab, dass das Kind nicht „weg“, sondern jetzt bei Gott sei. Sie war
einverstanden, auch wenn sie als Muslimin vielleicht nicht unbedingt weiß, was
das bedeutet.
Im Islam geht man ja – soviel ich
weiß – nicht von individuellen Seelen aus, sondern meint, dass jeder Mensch wie
ein Wassertropfen zurückkehrt in ein großes Meer und dabei seine Individualität
aufgibt. Dies ist im Grunde der Glauben vieler Menschen, auch von Christen, die
nichts von Geisteswissenschaft wissen. Insofern sind auch wir im Westen „Moslems“
und die Politiker, die in der Vergangenheit behauptet haben, der Islam „gehöre
zu Deutschland“ haben dadurch indirekt eine Wahrheit ausgesprochen, ohne zu
wissen, was sie in Wirklichkeit sagen: Die Religion Mohammeds hat im Grunde die
Seelen schon seit langem erobert. Es gibt nicht nur einen äußeren Islam,
sondern auch einen inneren.
Ich glaube, um die Frage des
Weiterlebens der Individualität nach dem Tode ging es schon Thomas von Aquino
in dem philosophischen Grundsatzstreit mit dem arabischen Philosophen Averroes.
Ich kaufte jedoch nicht nur
Brötchen, sondern auch das einzige Exemplar der „Welt am Sonntag“, das auf der
Theke auslag. Eigentlich wollte ich wissen, ob in dem Sonntagsblatt bereits
etwas zum Tod Erhard Epplers steht, aber dann sah ich, dass der
Welt-Herausgeber Stefan Aust (der frühere Chefredakteur des Spiegel) ein
Interview mit Michael Gorbatschow geführt hat, das in dieser Nummer auf vier
Seiten abgedruckt ist. Erst heute Morgen bin ich dazu gekommen, den Beginn zu
lesen. Dann hat es mich bei dem Stichwort „Der geteilte Himmel“ plötzlich
gedrängt, zu schreiben. Ich habe also die Lektüre kurz vor 9.00 Uhr unterbrochen und schreibe
nun meine Gedanken auf.
Michael Gorbatschow erzählt, dass
ihn das Buch von Christa Wolf sehr beeindruckt habe. Auf die Frage nach dem
„Mut und der Entschlossenheit“, bei der Wiedervereinigung der beiden Teile
Deutschlands mitzuhelfen, antwortet er:
„Es war nicht leicht, den Prozess
in Deutschland in Gang zu bringen. Und das ging ja hauptsächlich von den
Deutschen aus. Was war es, das die Deutschen zur Wiedervereinigung getrieben
hat? Mich hat in diesem Zusammenhang Christa Wolfs Buch ‚Der geteilte Himmel‘
sehr stark beeindruckt. (…) Denn der Zustand, den Christa Wolf treffend als
‚geteilten Himmel‘ definierte, wurde unerträglich. Ich glaubte, dass die so
viele Jahre anhaltende Trennung, die nach dem Krieg vorgenommen wurde, eine
große Nation demütigt.“
Ich finde es so berührend, dass
ausgerechnet ein literarisches Werk den „Generalsekretär der KPdSU“ inspiriert
hat, seinen „Weg“ in Richtung Deutschland zu gehen. Vor ihm gab es keinen
russischen Kommunisten, der mit solch einem gnädigen Blick auf das Land der
„Kriegshetzer“, der „Klassenfeinde“ und der „Faschisten“ geschaut hat wie
Michael Gorbatschow. Seiner Intuition ist es zu verdanken, dass die „Grenze“,
die in dem Film „Himmel ohne Sterne“ nicht zwei Völker voneinander trennt,
sondern ein Volk spaltet,
verschwindet. In der DDR wurde diese Grenze einst als „antifaschistischer
Schutzwall“ bezeichnet.
Christa Wolf (1929 – 2011) wäre
in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden, sie war also zehn Jahre jünger als meine
Mutter und genauso alt wie Lieselotte Pulver. Die überzeugte Kommunistin lebte
„von 1959 bis 1962 mit ihrer Familie in Halle und arbeitete dort als freie
Lektorin beim Mitteldeutschen Verlag. In dieser Zeit arbeitete sie gemäß den
Leitlinien des Bitterfelder Weges zeitweise in einer Brigade im Waggonbauwerk
Ammendorf, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann auch einen ‚Zirkel Schreibender
Arbeiter‘ leitete. Ihre dort gemachten Erfahrungen verarbeitete sie im 1963
erschienenen Roman ‚Der geteilte Himmel.“[3]
Bereits ein Jahr später wurde die
Erzählung von der DEFA unter der Regie von Konrad Wolf, dem Bruder des Geheimdienstchefs
Markus Wolf, erfolgreich verfilmt. Ich habe weder das Buch gelesen, noch den
Film gesehen, auch wenn ich die Erzählung vor ein paar Jahren gekauft habe,
weil Pfarrer Wolfram Niethammer sie in einer Predigt in der Jagstzeller
Christuskirche erwähnt hat, was mich damals sehr beeindruckt hat.
Man kann sagen, „Der geteilte
Himmel“ ist sieben Jahre nach dem Käutner-Film „Himmel ohne Sterne“ geschrieben
worden. Beide haben das Wort „Himmel“ im Titel. Damit ist gewiss nicht der
äußere Himmel gemeint.
Einen Hinweis darauf gibt Erich
Ponto, der den 80-jährigen ehemaligen Schullehrer und Großvater von Anna in
„Himmel ohne Sterne“ spielt, wenn er mit resignativem Unterton zu seiner
Enkelin sagt, er habe auch „den Glauben an Gott“ verloren. Kurz darauf umarmt
er sie zum ersten Mal. Wort und Tat widersprechen sich dabei. Wer den Glauben
an Gott wirklich verloren hat, ist auch zu einer Umarmung nicht mehr fähig.
Aber bei diesem Mann, der so viel gelitten hat, hat ein „Funke der Liebe“
offenbar überlebt und führt ihn zu der Umarmung.[4]
Eine solche herzliche Umarmung
gab es gestern auch in der Frankfurter Paulskirche, wo der brasilianische
Fotograf Sebastiao Salgado zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels entgegennehmen konnte. Die Laudatio hielt Wim
Wenders, der einen Dokumentarfilm über den Fotographen gedreht hat, der unter
dem Titel „Das Salz der Erde“ vor ein paar Jahren im Kino lief, den ich jedoch
ebenfalls bisher noch nicht gesehen habe. Nach der Rede umarmen sich die
beiden. Das Foto dieser Umarmung ist im Haller Tagblatt, das ich heute Morgen
im Netto von Uttenhofen für 2,10 Euro gekauft habe, abgedruckt.
Ich habe die Tageszeitung unserer
Region, die ich zwei Jahre lang im Abonnement bezogen hatte, hauptsächlich
wegen Erhard Eppler gekauft, der dort auf Seite 3 doch recht einfühlsam
porträtiert wird. Der Journalist Günther Hartwig schreibt unter der Überschrift
„Der ruhelose Mahner“ über den „Vor- und Querdenker“ der SPD:
„Eppler forderte schon vor über
40 Jahren so etwas wie eine Energiewende[5],
nicht nur in Deutschland. Daher darf man Greta Thunberg füglich eine politische
Urenkelin des ökologischen Predigers der ersten Stunde nennen. Hätten Helmut
Schmidt und andere auf ihn gehört, wäre es womöglich nicht zum Siegeszug der
Grünen gekommen – und zur existentiellen Gefährdung der SPD. Zusammen mit
Hans-Jochen Vogel ermahnte er die Sozis vor gut einem Jahre, ihrer
Verantwortung vor allem für drei Themen gerecht zu werden, nämlich
‚der drohenden Zerstörung der Natur, der sich ständig erweiternden
sozialen Kluft und der Zähmung des neoliberalen Kapitalismus‘“
Ob die SPD die Kraft hat, diese
drei Themen ernsthaft in Angriff zu nehmen, bleibt offen. Aber ich glaube an
das Weiterwirken des Verstorbenen, der bis ins hohe Alter so vollbewusst war
und bis zuletzt für seinen Garten sorgte.
In einem Punkt berührt Erhard
Eppler Michael Gorbatschow. Der heute 88-Jährige ehemalige Staatschef der
Sowjetunion, der sich ähnlich wie Erhard Eppler immer wieder zu Wort meldet –
im Augenblick mit dem neu erschienen Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ –
gehört für mich der gleichen Väter-Generation an; er ist nur vier Jahre jünger
als Erhard Eppler. Beide traten für die Wiedervereinigung und die Neutralität
Gesamtdeutschlands ein. Erhard Eppler war auch da ein Vorläufer, als er sich
bereits 1952 für ein ernsthaftes Eingehen der deutschen Regierung auf die
Stalin-Noten einsetzte, die eine Wiedervereinigung unter gleichzeitiger
Neutralität vorschlug. Adenauer lehnte entschieden ab. Aber auch den „Nato-Doppelbeschluss“ der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt lehnte Erhard Eppler entschieden ab.
Gunther Hartwig schreibt:
„Dass sich Eppler mit Schmidt nie
aussöhnen konnte, lastete auf ihm. Dabei gab es in den späten Jahren durchaus
Übereinstimmungen zwischen dem linken Friedenspolitiker und dem weltweit
geachteten Elder Statesman, wie Eppler bei der Präsentation seiner Memoiren[6]
in der SPD-Zentrale betonte. Befriedigt habe er zur Kenntnis genommen, dass er
mit Helmut Schmidt und dem einstigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP)
einig darin sei, wie sträflich der Westen – auch Bundeskanzlerin Angele Merkel
(CDU) – die Beziehungen zu Russland und Wladimir Putin vernachlässigt habe.“
[2] Man
spricht deshalb heute noch, wenn man von einem etwas verschlafenen Deutschen spricht,
vom „Deutschen Michel“. Der trägt meistens eine Zipfelmütze und Schlafanzug. In
der Tat hat das deutsche Bürgertum im 20. Jahrhundert die Rechnung für seine
„Verschlafenheit“ im 19. Jahrhundert bekommen, wie Rudolf Steiner oft betont
hat. Aber nicht nur die Deutschen haben geschlafen, sondern alle Völker, die in
den Kriegsausbruch verwickelt waren. Deshalb kann der australische Historiker
von „den Schlafwandlern“ sprechen. Ich meine allerdings, das gewisse Zirkel ganz bewusst und hellwach auf diesen Krieg zugearbeitet haben, wie Renate
Riemek in ihrem Buch „Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts“ herausarbeitet.
[5] Im Jahre
1975 erschien sein Buch „Ende oder Wende“. Eine Kritik von Gustav Heinemann
erschien im Spiegel: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41496568.html
[6] Diese
Memoiren, die den Titel „Links Leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen“
tragen, hatte Erhard Eppler eine Woche, bevor Alt-Kanzler Helmut Schmidt im
November 2015 starb, im Berliner Willy-Brandt-Haus vorgestellt. Eppler war im
Kabinett von Bundeskanzler Brandt von 1968 bis 1974 Entwicklungsminister.
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