Freitag, 4. Oktober 2019

Die spirituellen Hintergründe des "Mauerfalls"


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Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte einen seltsamen Traum in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (02.10.2019): Ich träumte von einem ostdeutschen Paar, das mir völlig unbekannt war, so, als schaute ich eine Dokumentation im Fernsehen an. Dennoch kam es zum Dialog zwischen dem Mann und mir und ich konnte ihn dies oder jenes fragen. Seine Frau war bereits gestorben und unser Thema kreiste im Grunde immer um die gleiche Frage: um den Zeitpunkt seiner Geburt. Es war der 13. Mai 1951, daran erinnere ich mich ganz genau. Nun lebte in meiner Seele während des Traumes die Frage, ob dieser Tag ein Pfingstsonntag war. Ich war dieser festen Meinung und beschloss, beim Aufwachen nachzuforschen.

Daraufhin habe ich die „Chronik des 20. Jahrhunderts“, einen dicken Band aus dem „Chronik-Verlag“ (14. erweiterte und ergänzte Auflage, 1995) aus meinem Bücherregal gezogen und spontan auf der Seite 334/335 geöffnet.
Wer schaut mich da an?
Es ist Rudolf Steiner, dessen vertrautes Bild auf der rechten Seite neben der Überschrift „Tod Rudolf Steiners“ abgedruckt ist. Ich bin also „zufällig“ im März 1925 gelandet.
Auf der linken Seite (334) gibt es eine ganz andere Nachricht, die allerdings indirekt ebenfalls mit Rudolf Steiner zusammenhängt, nämlich mit seinem offiziellen Geburtsdatum. Unter dem 27. Februar 1925 erfahre ich, dass an diesem Tag im Münchner Bürgerbräukeller die „NSDAP neu gegründet“ worden ist. Daneben gibt es, genau Rudolf Steiner gegenüber, ein Foto mit Adolf Hitler (zusammen mit Julius Streicher, dem späteren Herausgeber der Zeitschrift „Der Stürmer“)[1].
Darauf wollte ich aber gar nicht hinaus, denn eigentlich wollte ich nur nachschauen, welcher Wochentag der 13. Mai 1951 war. Ich blättere also weiter und komme auf Seite 752. Tatsächlich ist der 13. Mai 1951 ein Sonntag! Eigentlich wusste ich das schon, weil ich vor vielen Jahren bereits einmal darüber nachgeforscht hatte. Es ist der Geburtstag einer guten französischen Freundin.

Ein paar Klicks im Internet und ich bin jetzt sicher: der 13. Mai 1951 war der Pfingstsonntag.[2]

Um auf meinen Traum zurückzukommen, so denke ich, dass er mit dem Dokumentarfilm „Gorbatschow: eine Begegnung“ von Werner Herzog und Andre Singer zusammenhängt, den ich am Dienstagabend auf Arte im Rahmen des Schwerpunktthemas „30 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs“ angeschaut habe. Das einfühlsame Porträt des von allen Deutschen hochverehrten Michael Gorbatschow hat mich außerordentlich berührt und ich glaube, dass das ostdeutsche Paar, von dem ich geträumt habe, in Wirklichkeit Michael und Raissa Gorbatschow[3] darstellten.
Michael Gorbatschow, der am 2. März 1931 geboren wurde und zum Zeitpunkt des Interviews 87 Jahre alt war, ist in meinen Augen eine ähnlich tragische Gestalt wie Mahatma Gandhi. Er wollte das Beste für sein Land, gilt aber heute bei den meisten Russen als „Verräter“.
Mehrmals beim Anschauen des Films kamen mir die Tränen. Der Geist dieses tragischen „Helden“ berührt mich zutiefst. Ich bin sicher, dass in ihm, wie in Gandhi, eine Individualität wirksam ist, die durch viel Schmerz gehen musste, um das neue Zeitalter (des Geistselbst) vorzubereiten.
Nur so kann ich mich selbst über das Scheitern dieser Männer trösten.
Im Arte Magazin kommt ein mehrseitiger Beitrag des ungarisch-jüdischen Biographen Gorbatschows György Dalos[4], den ich gestern Abend noch gelesen habe. Auf der deutschen Wikipedia-Seite begegne ich diesem Autor wieder. Dort heißt es, bezugnehmend auf seine 2011 erschienene Gorbatschow-Biographie:
„Der Biograph György Dalos sieht Gorbatschow in einer Linie mit jenen Kommunisten im Ostblock, die Hans Magnus Enzensberger als ‚Helden des Rückzugs‘ apostrophierte, weil sie beim friedlichen Abbau ihres Systems mitgeholfen hätten: ‚Wenn man diese ironische Sichtweise auf Michail Gorbatschow anwendet, dann müssen wir in ihm einen wahren Napoleon des Rückzugs sehen[5], dessen Tragik ausgerechnet darin bestand, dass er sozusagen siegreich von Niederlage zu Niederlage marschieren musste.‘ Das postsowjetische Erbe habe nicht zu dauerhaftem Frieden in der Welt geführt; auf eine neue Generation in den frei gewordenen Ländern müssten unterdessen Lösungen für ökologische, ökonomische und soziokulturelle Probleme dringend gefunden werden. Auf den jungen Menschen laste das schwierige Erbe des 20. Jahrhunderts, ‚ein gewaltiger Berg, den Michail Gorbatschow mit großem Elan und Ehrgeiz, wenn auch mit wechselhaftem Erfolg begonnen hat abzutragen.“ [6]
Dem eindrucksvollen Dokumentarfilm von Werner Herzog[7] gelingt es, etwas vom Wesen und von der historischen Bedeutung Michael Gorbatschows im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einzufangen. Dabei arbeitet er schön heraus, dass die Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es war eine „Grenzlinie“, man könnte auch sagen: eine „Schwelle“ oder Zeitenwende: es gab ein Davor und ein Danach.
Damals kam es offenbar in der Seele des jüngsten Generalsekretärs der UdSSR, der nach den schwer kranken Vorgängern Breschnew, Andropow und Tschernenko  gerade ein Jahr im Amt gewesen war, zu einem entscheidenden Erlebnis. Von da an sprach der damals 56-Jährige[8] von „Perestrojka“ (Umbau) und „Glasnost“ (Transparenz). Diese beiden russischen Begriffe sind damals in der ganzen Welt bekannt gewesen.[9]
In erster Linie ging es Gorbatschow bei dem „Umbau“ darum, die gefährlichen Nuklearwaffen zu vernichten. Er hatte ein klares Gespür davon bekommen, wie gefährlich die Atomspaltung für die Menschheit ist. Eigentlich wollte er sich in Hiroshima mit Präsident Reagan zu den Abrüstungsverhandlungen treffen, dann aber trafen sich die beiden Staatschefs in Reykjavik auf der Vulkan-Insel Island.

Am Donnerstagvormittag (3.Oktober 2019) habe ich den Film von Werner Herzog über Michael Segejewitsch Gorbatschow noch einmal mit Lena in der Arte-Mediathek angeschaut. Beide haben wir geweint. Natürlich haben wir beide, als es um Raissa und die Einsamkeit von Michael Sergejewitsch nach ihrem Tod ging, an Mamutschka und Paputschko gedacht. Lenas Vater erinnerte mich von Anfang an in seinem Aussehen an Michael Gorbatschow.
Was dieser Mann, der heute 88 Jahre alt ist, für Deutschland, ja für den ganzen kommunistischen Ostblock und eigentlich für die ganze Welt getan hat, ist historisch noch kaum zu ermessen. Es ist eine Tragik, dass viele Russen in ihm den Verräter sehen; dabei war es Boris Jelzin, der zusammen mit den Amerikanern die Sowjetunion aufgelöst hat. Michael Gorbatschow wollte nie, dass sich die sechzehn Teilrepubliken aus dem Ganzen herauslösen. Er sagt: jeder schaute nur nach sich, nach seiner eigenen Machtposition. Nur er sah weiter und dachte ans Ganze. Lena meint: alles ging viel zu schnell. Ich ergänze: genauso war es mit der „Auflösung“ der DDR.
Lena sagt: Gorbatschow war zu schwach, um das Ganze zusammenzuhalten. Ich ergänze: wie Zar Nikolaus II. Aber Lena sieht auch: Gorbatschow war menschlich. Dieses Attribut ist für mich die höchste Auszeichnung, die man einem Politiker „verleihen“ kann.
Vielleicht, meint Lena, war er auch zu gutgläubig, ja geradezu naiv. Er sah nicht, dass er es mit Machtmenschen zu tun hatte. Margaret Thatcher und Helmut Kohl waren Machtmenschen, sicher auch Ronald Reagan.
Lena bewundert, dass Michael Sergejewitsch nach dem Tod von Raissa nicht wieder geheiratet und nun schon 20 Jahre lang seine Einsamkeit ausgehalten hat. Helmuth Kohl hat nach dem Selbstmord seiner Frau Hannelore wieder geheiratet. Die zweite Frau hat dann alles an sich gerissen. Auch das ist Karma.
Am Ende des Films spricht Michael Sergejewitsch ein Gedicht von Michail Lermontow (1814 – 1841), das Rainer Maria Rilke übersetzt hat:

Einsam tret‘ ich auf den Weg, den leeren,
der durch Nebel leise schimmernd bricht;
Seh‘ die Leere still mit Gott verkehren
und wie jeder Stern mit Sternen spricht.

Feierliches Wunder: hingeruhte
Erde in der Himmel Herrlichkeit…
Ach, warum ist mir so schwer zumute?
Was erwart‘ ich denn, was tut mir leid?

Nichts hab‘ ich vom Leben zu verlangen
und Vergangenes bereu ich nicht:
Freiheit soll und Friede mich umfangen
im Vergessen, das der Schlaf verspricht.

Aber nicht der kalte Schlaf im Grabe.
Schlafen möcht ich so jahrhundertlang,
dass ich alle Kräfte in mir habe
und in ruhiger Brust des Atems Gang…

Dass mir Tag und Nacht die süße, kühne
Stimme sänge, die aus Liebe steigt,
Und ich wüsste, wie die immergrüne
Eiche flüstert, düster hergeneigt.

Im Grunde, so sage ich zum Schluss, haben wir beide, Lena und ich, unsere Verbindung ebenfalls Michael Sergejewitsch zu verdanken. Ohne ihn wären wir wohl kaum zusammengekommen.
Am Dienstagabend, dem 1. Oktober hat, ohne dass ich es wusste, der VHS-Russisch-Kurs bei Natascha Baltinger wieder begonnen. Ich habe mich erst am Mittwochnachmittag angemeldet und werde nun am nächsten Dienstag wieder Russisch lernen.
Es ist interessant, aber ich verstand beim zweiten Sehen des Dokumentarfilms über Michael Gorbatschow immer wieder das eine oder andere russische Wort. Das freute mich. Ich sagte zu Lena: „Am Anfang, als ich dich vor vier Jahren kennen lernte und wir uns mit deiner Schwester Olga trafen, war die russische Sprache für mich wie ein undurchdringlicher Nebel. Jetzt beginnt dieser Nebel an einigen Stellen lichter zu werden und ab und zu erkenne ich das, was dahinter liegt.“
Ich hoffe, dass durch den zweiten Russisch-Kurs, den ich nun beginnen werde, der Nebel sich so weit lichtet, dass ich mehr als die Hälfte verstehe.

Am deutschen Nationalfeiertag saßen Lena und ich fast den ganzen Tag in meinem Wohnzimmer vor dem Fernseher und haben anlässlich des 30. Jahrestages des „Mauerfalls“ auf 3SAT (Thementag) Filme angeschaut, nur unterbrochen durch das Mittagessen. 
In vielen politisch-historischen Fragen sind wir uns einig, zum Beispiel auch in der Beurteilung der Leistung Gorbatschows oder auch in der Beurteilung des Kommunismus.
Unmittelbar nach dem Film über Michael Gorbatschow schalteten wir auf das aktuelle Programm von Arte und sahen die Sendung „Solidarnosc: Der Mauerfall begann in Polen“, eine sehr gute Dokumentation über die Ereignisse, die am 15. August 1979 in Danzig begannen, als die Werftarbeiter zum ersten Mal streikten. Das führte dann am 31. August 1980 zum Ausnahmezustand. Sowjetische Panzer rollten in Warschau ein, ähnlich wie 1956 in Budapest. 
Der Ungar György Dalos macht eine interessante Bemerkung in seinem Gastbeitrag im „Arte-Magazin“, den ich weiter oben bereits einmal erwähnt hatte. Unter dem Titel „Europas Aufbruch“ schreibt er:
„Auf dem europäischen Kontinent standen sich die beiden Welthälften gut organisiert gegenüber: militärpolitisch durch die von den USA dominierte Nato und den auf sowjetische Initiative hin begründeten „Warschauer Vertrag“. Diese in der westlichen Sprachregelung als ‚Ostblock‘ oder ‚Warschauer Pakt‘ betitelte Allianz – mit der DDR, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien – galt für die Sowjetunion geopolitisch als Gewinn. In einigen der Staaten waren sogar bedeutende Kontingente der Roten Armee stationiert. Politisch und ökonomisch aber brachten die Satelliten den Kreml in unvorhersehbare Schwierigkeiten. Aufgrund historischer und kultureller Unterschiede stieß die Sowjetisierung Ostmitteleuropas auf heftigen Widerstand. Fast zyklisch, jedes zwölfte Jahr, kam es zu Ausbruchsversuchen einzelner Länder aus der Zwangsvereinigung. 1956 war es der blutige ungarische Volksaufstand, 1968 der weitgehend friedliche ‚Prager Frühling‘ und 1980 die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. In allen Fällen wurden die Emanzipationsbestrebungen mit sowjetischen Panzern oder durch militärischen Putsch vereitelt.“

Solch ein Putsch traf im Dezember 1991 auch die Sowjetunion selbst, als Boris Jelzin sich auf einen aufgefahrenen Panzer stellte und sich – während Gorbatschow auf der Krim festgehalten wurde – als neuen Volkshelden feiern ließ. Wieder waren knapp 12 Jahre vergangen, seitdem sich das letzte Mal Menschen gegen sowjetische Panzer gestellt hatten.
Der Zyklus von 12 Jahren entspricht einem Umlauf des Planeten Jupiter um die Sonne. Jupiter ist der Planet der Weisheit und der Wahrheit. Es ist, als wollte diese Signatur den Kommunisten sagen: Ihr könnt die Wahrheit nicht ungestraft jahrzehntelang mit Füßen treten.
Das System brach im Prinzip 1989, also genau 70 Jahre nach der Oktoberrevolution, etwa einen Monat nach dem 40. Jahrestag der DDR (am 6. Oktober 1989) zusammen und der „Eiserne Vorhang“, der die Welt in zwei Blöcke teilte, fiel.
Das ganze kommunistische System war, wie wir anhand der Filme, die wir danach auf 3SAT anschauten, begriffen, auf Lüge, Verheimlichung und Misstrauen aufgebaut, nicht auf Wahrhaftigkeit.
Sehr eindrucksvoll war die dreiteilige Fernsehserie „Honigfrauen“ aus dem Jahre 2017, die zeigte, wie zwei Schwestern aus Erfurt im Sommer 1986 zum Balaton trampten, um dort ihren ersten Urlaub ohne die Eltern zu verbringen. Durch die drei Filme, die uns fast vier Stunden vor dem Fernseher festhielten, bekam ich einen Eindruck von diesem „Urlaubsparadies“ der Menschen aus sozialistischen Ländern. Dort, am ungarischen Plattensee, trafen viele auch zum ersten Mal auf Urlauber aus dem Westen. 
Ungarn spielt sowieso in der Geschichte der Auflösung des Ostblocks eine große Rolle, als sich der „Eiserne Vorhang“ im August 1989 bei der sogenannten „paneuropäischen Party“ zum ersten Mal hob.
Alle diese Länder gehören zu Mitteleuropa. Wenn Rudolf Steiner sagt, es sei ein Unglück, wenn das slawische Element, also die Russen, in dieses Mitteleuropa eindringen, weil sie dann sich selbst schaden würden, so haben wir heute den historischen Beweis dafür. Ich hatte bereits auf die Passage in Peter Tradowskys Vortrag vom 1. November 1983 beim „Kongress der Völkerverständigung“ in Witten hingewiesen[10], wo er ein Zitat von Rudolf Steiner aus einem Vortrag von 1915, also noch vor der Russischen Revolution, anführt:
„Man könnte sich denken, dass Osteuropa durch brutale Gewalt sich ausdehnen könnte nach Westen hin, über Mitteleuropa… Das würde aber genau dasselbe bedeuten, wie wenn im fünfzehnten Jahrhundert die Tat der Jeanne d’Arc nicht geschehen wäre und England damals Frankreich annektiert hätte. Wenn es dahin gekommen wäre…, so wäre damit etwas geschehen, was nicht nur zum Unheile Frankreichs gewesen wäre, sondern auch England zum Unheil gereicht hätte. Und würde jetzt die deutsche Geisteskultur beeinträchtigt werden vom Osten herüber, so würde das nicht bloß die deutsche Geisteskultur schädigen, sondern auch den Osten mit. Das Schlimmste, was den Osten treffen könnte, wäre, dass er zeitweilig sich ausbreiten und die deutsche Geisteskultur schädigen könnte (…) Das größte Unglück auch für den Osten Europas wäre es, wenn er diejenige geistige Macht (das ist Mitteleuropa) schädigen würde, an der er sich gerade heraufranken muss, die er gerade verehrend, freundschaftlich verehrend hegen und pflegen müsste.“[11]
Ist es ein Zufall, dass hier Rudolf Steiner im Zusammenhang mit Russland ausgerechnet auf die Jungfrau von Orleans hinweist?
Dieses junge lothringische Mädchen wird in anthroposophischen Zusammenhängen in der unmittelbaren Gegenwart bisweilen herangezogen, um die Mission von Greta Thunberg geistig zu beleuchten. Ich glaube nicht, dass die beiden karmisch etwas miteinander zu tun haben, außer dass sie beide etwa im gleichen Alter waren, als sie den Impuls zu ihrer Mission empfingen.
Dagegen glaube ich vielmehr, dass eher die außergewöhnliche Persönlichkeit Raissa Gorbatschowa, die an einem 5. Januar geboren ist, eine ähnliche Aufgabe wie die Jungfrau von Orleans hatte, auch wenn sie eher aus dem Hintergrund heraus wirkte. Sie war jedoch, wie Michael Sergejewitsch in dem Film von Werner Herzog andeutet, seine engste „Vertraute und Beraterin“ und ließ sich – im Gegensatz zu allen anderen Frauen der bisherigen Generalsekretäre – auch bei offiziellen Anlässen an seiner Seite sehen. Auch das war ein vollkommen neuer Politikstil in der Sowjetunion: plötzlich wurde die weibliche Seite sichtbar.
Rudolf Steiner weist im ersten Vortrag seines Zyklus zur „Geschichtlichen Symptomatologie“ vom 18. Oktober 1918 (GA 185) auf einen anderen Zusammenhang hin, der vor nunmehr 30 Jahren, also im Jahr 1989 auch wieder aktuell war.
Er führt zunächst aus, wie das ganze Mittelalter hindurch die Völker vom Universalimpuls des päpstlichen Katholizismus geleitet wurden. Von Nationalstaaten konnte man in dieser Zeit noch gar nicht reden. Das bestimmende Element war die christliche Religion, wie sie durch die Päpste und Bischöfe vertreten wurde. Erst mit dem Auftreten der Jungfrau von Orleans sei ein Wendepunkt eingetreten, ja damals begann in anthroposophischer Terminologie eine neue „Kulturepoche“, nämlich die fünfte nachatlantische, die die Entwicklung der Bewusstseinsseele zum Inhalt hatte. Rudolf Steiner datiert den Beginn dieser neuen Zeit exakt auf das Geburtsjahr der Johanna von Orleans, also auf das Jahr 1413. Dadurch gesteht er dem Mädchen aus Lothringen eine entscheidende Rolle als Träger eines wichtigen spirituellen Impulses zu.
In dem Vortrag vom 18. Oktober 1918 heißt es:
„Womit rechnete denn der von Rom ausgehende und sich in seiner Art durch die Jahrhunderte entwickelnde Katholizismus, der wirklich ein Universalimpuls war, der die tiefste Kraft war, welche in die Zivilisation Europas hineinpulsierte? Er rechnete mit einer gewissen Unbewusstheit der menschlichen Seele, mit einer gewissen Suggestivkraft, die man auf die menschliche Seele ausüben kann. Er rechnete mit jenen Kräften, welche die menschliche Seelenverfassung seit Jahrhunderten hatte, in welchen die menschliche Seele, die erst in unserem Zeitraume erwachte, noch nicht voll erwacht war. Er rechnete mit denen, die erst in der Gemüts- und Verstandesseele waren. Er rechnete damit, dass er in ihr Gemüt durch suggestives Wirken einträufelte dasjenige, was er für nützlich hielt, und er rechnete bei denen, welche die Gebildeten waren – und das war ja zumeist der Klerus – mit dem scharfen Verstand, der aber in sich noch nicht die Bewusstseinsseele geboren hatte.“
Damit charakterisiert Rudolf Steiner in wenigen Sätzen exakt den Seelenzustand der europäischen Menschheit im Hochmittelalter, als durch die großartigen gotischen Kathedralen eine suggestive Kraft auf die europäischen Völker ausgeübt wurde und als die großen Theologen der Scholastik in den Kathedralschulen versuchten, Gott mit dem Verstand zu erfassen ("Intelligo ut credam", Anselm von Canterbury).
Nun kommt  Rudolf Steiner auf den Umschwung zu sprechen. Dabei erwähnt er einige Vorstufen, die den Universalimpuls Roms bereits in den Grundfesten zu erschüttern vermochten. Er erwähnt die Mongoleneinfälle, die 1241 Mitteleuropa bedrohten, die „Zänkerei mit Päpsten und Gegenpäpsten“, die schließlich 1309 zum Exil des Papsttums ins französische Avignon führte und die „Aufhebung“ des Templerordens im Jahre 1312. Aber all diese Ereignisse führten noch nicht zur Schwächung des „römischen Universalimpulses“. Rudolf Steiner fährt fort:
„Während wir sehen, wie durch die Jahrhunderte hindurch ein gewisser einheitlicher Impuls über Frankreich und England sich ausbreitet, sehen wir, wie im 15. Jahrhundert Differenzierungen eintreten, für die der wichtigste Wendepunkt das Auftreten der Jungfrau von Orleans 1429 ist, womit der Anstoß gegeben wird (…) der Differenzierung zwischen dem Französischen einerseits, dem Englischen anderseits.
So sehen wir das Auftauchen des Nationalen als Gemeinsamkeit Bildendem, und zu gleicher Zeit diese für die Entwicklung der neueren Menschheit symptomatisch bedeutsame Differenzierung, die ihren Wendepunkt 1429 in dem Auftreten der Jungfrau von Orleans hat. Ich möchte sagen: In dem Augenblicke, in dem der Impuls des Papsttums die westliche europäische Bevölkerung aus seinen Fängen entlassen muss, taucht die Kraft des Nationalen gerade im Westen auf und ist dort bildend.“
Wenn ich diesen Gedanken, den Rudolf Steiner ein Jahr nach der Russischen Revolution in Dornach entwickelt hat, weiterdenke und auf die Gegenwart beziehe, dann komme ich zu folgendem Ergebnis:
Der Marxismus, wie er sich unter Wladimir Lenin in der Russischen Revolution zum ersten Mal in einem östlichen Volk – allerdings mit brutaler Gewalt – Geltung verschafft hatte, war eine internationale Bewegung, die allerdings auf falschen geistigen Voraussetzungen basierte. Die „Internationale“, das bekannte Lied der Revolutionäre, betonte diesen Zug des kommunistischen Impulses.
Rudolf Steiner wendet in einem Vortrag vom 12. Dezember 1918 ein:
„Karl Marx hat die proletarische Welt zu erobern vermocht aus dem einfachen Grunde, weil er das gesagt hat, was der Proletarier versteht, was er dadurch, dass er proletarisch ist, denkt. 1848 ist das ‚Kommunistische Manifest‘ (…) die erste Aussaat zu dem, was jetzt, nachdem andere widerstrebende Dinge zerstört worden sind, eben als Frucht aufgeht. Ein Wort enthält dieses Dokument, einen Satz, den sie heute fast in jeder sozialistischen Schrift zitiert finden: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ Das ist ein Satz, der durch alle möglichen sozialistischen Vereinigungen ging: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ Was drückt er denn aus? Er drückt aus das Allerallerunnatürlichste, das man sich für unser Zeitalter denken kann. Er drückt aus einen Impuls für die Sozialisierung, für die Vereinigung einer gewissen Menschenmasse. Worauf soll diese Vereinigung, diese Sozialisierung gebaut werden? Auf den Gegensatz, auf den Hass gegen diejenigen, die nicht Proletarier sind. Die Sozialisierung, das Zusammensein der Menschen, soll gebaut werden auf dem Auseinandersein! Sie müssen das nur bedenken, und sie müssen die Realität dieses Prinzips verfolgen in dem, was heute als reale Illusion (…) zuerst in Russland aufgetreten ist (…)“[12]
Geradezu hellsichtig legt Rudolf Steiner den Finger in die Wunde der kommunistischen Ideologie, die schließlich zur Spaltung der Menschheit in zwei Blöcke führte: die sozialistischen proletarischen Staaten in Osteuropa (und Asien)und die kapitalistischen Staaten des „Klassenfeindes“ im Westen.
Das „Allerallerunnatürlichste“ dieser Ideologie sperrte die Hälfte der Menschheit hinter dem „Eisernen Vorhang“ in ein Gefängnis ein, aus dem einzelne nur unter Lebensgefahr ausbrechen konnten.
Erst durch das Wirken von Michael Gorbatschow und seiner Frau Raissa bekam dieser Eiserne Vorhang Risse und der falsche „Universalimpuls“ des Sozialismus brach zusammen.
Michael Gorbatschow wollte nicht, dass auch der Vielvölkerstaat der Sowjetunion auseinanderbrach. Was im 15. Jahrhundert für England und Frankreich gut war, dass sie zu ihrer Nationalität gefunden haben, das ist im 20. Jahrhundert nicht mehr gut. Es war schon der Fehler der Versailler „Friedensordnung“, die dazu führte, dass der Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie unterging und im Anschluss an die Wilsonsche Idee vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ unzählige kleine Nationen entstehen ließ, dies war auch der Antrieb der einst unter einer „Universal-Ideologie“ zusammengehaltenen Sowjetrepubliken, ihre Unabhängigkeit zu suchen. So zerfiel vor etwa 30 Jahren der „Ostblock“.
1989 ist im Grunde das Spiegelbild zu 1429, als der „Mauerfall“ einen Teil der Menschheit aus der Zwangsjacke einer unmenschlichen Ideologie befreite. Gleichzeitig war es aber der Keim einer neuen Ideologie: die Ideologie des Nationalismus, die heute Länder wie die baltischen Republiken, Georgien, Kasachstan, die Ukraine, Polen und Ungarn beherrscht.
In der Ukraine ist heute dieser geradezu übersteigerte Nationalismus zu einer Gefahr für den Weltfrieden geworden. Ausgelöst wurde diese „Unabhängigkeitsbewegung“ im Februar 2014 mit der „orangen Revolution“ unter amerikanischem Beistand auf dem Maidanplatz in Kiew. Starke nationalistische, ja faschistische Gruppierungen spielten dabei eine entscheidende Rolle. Die „Annexion“ der Krim durch Russland im gleichen Jahr  führte zu der bis heute in westlichen Medien vielbeschworenen „Krimkrise“.[13]
Es ist die Tragik des Impulses von Michael Gorbatschow, dass er zu schwach war, um den Vielvölkerstaat zu erhalten. Die zentrifugalen Kräfte aus dem Westen, die 1991 hinter Boris Jelzin standen, waren zu mächtig. Heute ist Russland unter der Herrschaft Wladimir Putins zwar wieder eine ernstzunehmende Macht, leidet aber unter dem massiven Vordringen kapitalistischer Elemente in eine Gesellschaft, die eigentlich dafür prädestiniert ist, das „Soziale“ zu entwickeln.
Rudolf Steiner führt es in seinem Berner Vortrag so aus:
„Durch ihr Blut, durch ihre Geburtsanlagen, durch ihre Vererbungsanlagen darauf eingerichtet, dass der Menschheit die Bewusstseinsseele eingeprägt wird, sind eigentlich nur die Menschen der englisch sprechenden Bevölkerung in unserer Zeit. So ist einmal die Menschheit differenziert. Die Menschen der englisch sprechenden Bevölkerung sind heute dafür besonders veranlagt, die Bewusstseinsseele auszubilden, so dass sie in gewisser Weise die repräsentativen Menschen für diese fünfte nachatlantische Zeit sind; sie sind dafür ausgebildet.
Die Menschen des Ostens müssen in anderer Weise die richtige Entwicklung der Menschheit repräsentieren, bewirken. Bei den Menschen des Ostens, schon beginnend bei der russischen Bevölkerung, dann mit dem ganzen asiatischen Hintervolke, das nur die Nachschübe bilden wird, ist es so, dass nun gerade ein Anstürmen, ein Sichsträuben gegen dieses Instinktiv-Selbstverständliche in der Entwicklung der Bewusstseinsseele stattfindet. Die Menschen des Ostens wollen dasjenige, was das hauptsächliche Seelenvermögen in unserer Zeit ist, den Intellekt, nicht mit Erlebnissen vermischen; das wollen sie loslösen und es aufsparen für das folgende Zeitalter, für den sechsten nachatlantischen Zeitraum, wo dann ein Zusammenschluss stattfinden soll, nun nicht mit dem Menschen, wie er heute ist, sondern mit dem dann entwickelten Geistselbst.“ (a.a.O. S 52)
Das Experiment des Sozialismus konnte überhaupt nur deshalb funktionieren, weil die damals führenden Kräfte (instinktiv) spürten, dass in den slawischen Völkern ein natürliches Element des Sozialen, des Füreinander schlummerte.
Dass das Pendel nach dem Fall der Mauer in die gegenteilige Richtung ausschlug, ist nur natürlich. Die osteuropäischen Menschen, die zum Sozialismus „gezwungen“ wurden, haben in dem Augenblick, als sie aus dem „Gefängnis“ entlassen worden sind, erst einmal all die schönen Waren, die in westlichen Kaufhäusern ausliegen und sie verlockten, kaufen wollen.
Das kann man Egoismus nennen.
Es ist aber nur das Nachholbedürfnis von Menschen, die jahrelang vor leeren Läden einer sozialistischen Mangelwirtschaft Schlange stehen mussten oder die, wie die Eltern von Lena, sogar die blauen Uniformen der Fluggesellschaft Aeroflot, für die sie arbeiteten, gelegentlich selbst nähen oder ausbessern mussten.



[1] Ich habe mir, einem Hinweis auf Wikipedia folgend, das „Politische Testament Julius Streichers“, das im Oktober 1978 in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ veröffentlicht wurde und als PDF-Datei online verfügbar ist, ausgedruckt und studiert. Ich wollte mich einfach aus erster Hand über den Mann informieren, der das „antisemitische Hetzblatt“ herausgegeben hat, dessen Name fatalerweise mit meinem Familiennamen übereinstimmt.
[3] Geboren am 5. Januar 1932, gestorben am 20. September 1999 in Münster, Deutschland) https://de.wikipedia.org/wiki/Raissa_Maximowna_Gorbatschowa
[4] György Dalos: Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biographie., Beck, München 2011
[5] Karl Langenstein behauptete schon 1990, dass Michael Gorbatschow der wiedergeborene Napoleon sei.
[7] Werner Herzog gehört für mich zu dem Dreigestirn des „Jungen deutschen Films“, das internationale Bekanntheit durch ihre Werke erlangte. Für mich ist er, vielleicht ähnlich wie Volker Schlöndorff, der Kopf der drei, während Rainer Werner Fassbinder der „Bauch“ und Wim Wenders das „Herz“ des neueren deutschen Films sind.
[8] Dritter Mondknoten
[9] Als ich am 02. Oktober meine osteuropäischen Schüler im Deutschkurs fragte, ob sie die Begriffe kannten, waren nur zwei darunter, die sich vage erinnerten, aber nicht mehr wussten, was die beiden Fremdwörter  bedeuteten.
[11] Peter Tradowsky, Das Schicksal Russlands und seine zukünftige Kultur, in „Europa und sein Genius – Die Volksseelenkunde der Anthroposophie. Ein Beitrag zu einem schöpferischen Frieden“, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main, Januar 1986, S 161f. Welche Verehrung auch Gorbatschow Deutschland und deutscher Kultur entgegenbringt, wird gleich am Beginn der Dokumentation von Werner Herzog deutlich, als der Regisseur ihn fragte, was er empfand, als er zum ersten Mal auf Deutsche traf. Gorbatschow erzählte, wie ihn sein Vater in der Adventszeit einmal zu einer russlanddeutschen Familie mitnahm, die einen kleinen Laden führte, und er zum ersten Mal Lebkuchen, „Lebkuchenpferde, kleine Fische, Häschen“ sah und roch. Er sagte. „Ich hatte den Eindruck, dass nur sehr gute Menschen solche Lebkuchen machen konnten.“ https://www.arte.tv/de/videos/078706-000-A/gorbatschow-eine-begegnung/.
[12] Rudolf Steiner am 12. Dezember 1918 in Bern, abgedruckt in GA 186, Sonderdruck „Soziale und antisoziale Triebe im Menschen, Dornach 1979, S 49f

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