Pfarrer Becker fährt auf Seite drei des Manuskriptes, das er seinen Hörern
vervielfältigt hat, fort:
„Simone Weil ist nach dieser existentiellen Begegnung mit dem Christus im
Gebet des Herrn zur Auslegerin des Vaterunsers geworden. – Das Vaterunser als
das Gebet des Sohnes zum Vater ist der kostbarste Schatz des Glaubens. Es
besitzt, wie die Evangelien selbst, sakramentalen Charakter, und bildet so das
Fundament der Kirche als der Gemeinschaft der Liebe. In ihm als dem
vollkommensten Gebet sind alle anderen möglichen Gebete enthalten. Spricht man
also das Vaterunser mit ungeteilter Aufmerksamkeit in der Hinwendung zu Gott,
so macht es den Vater selbst herniedersteigen und der Seele das Gottesreich,
den Frieden und die Freude im heiligen Geist schenken und bringen.“
Während in Paris, Berlin, Frankfurt, Heidelberg und vielen anderen Städten
auf der ganzen Welt die Studenten gegen den Vietnamkrieg, den US-Imperialismus
und gegen die repressive Gesellschaft demonstrierten und protestierten, sprach
in der kleinen Provinzstadt Ellwangen ein Pfarrer vom Vaterunser, vom
Gottesreich, von Frieden und von Freude. Während sich die Studenten an Karl
Marx, Lenin oder Mao orientierten, führte uns Pfarrer Becker in das Denken von
Simone Weil ein. Während die Studenten an den „Histomat“ (Historischer
Materialismus) glaubten, eröffnete uns Peter Becker den Zugang zur esoterischen Seite
des Christentums.
Während die Studenten mit Rudi Dutschke und Danny le Rouge (Daniel Cohn-Bendit)
den Weg nach außen gewählt hatten, führte uns Pfarrer Becker auf einen inneren
Weg.
Natürlich waren wir auch angehaucht von den Ideen der Studenten, vom
Kommunismus in seiner Idealform und von den Utopien einer klassenlosen
Gesellschaft, in der nicht mehr die Reichen über die Armen herrschen. Peter
Becker stellte daneben das Christentum in einer ihrer edelsten und
wahrhaftigsten Vertreterinnen, der Jüdin Simone Weil.
Das war eine Geistestat erster Ordnung.
Peter Beckers Geistestat wirkt offenbar – wenn auch unbewusst – bis heute
nach. Mit großer geistiger Gewalt brach sie sich in dieser Adventszeit 2018, wo
in Frankreich wieder Menschen demonstrieren und protestieren, ihren Weg durch zu
meinem Bewusstsein und – wenn es Gott gefällt – zum Bewusstsein einiger anderer
Menschen, die diesen Text, den ich für würdig finde, gelesen zu werden und ihn
deshalb dem Vergessen entreiße, gleichzeitig mit mir studieren.
Für mich persönlich war das Wirken Peter Beckers vor 50 Jahren der Beginn eines
Weges, der mich – ganz ungeplant – über meinen zweiten[1] und dritten
Lehrer[2] zu einer
Weltanschauung führte, die mir heute wertvoll ist, weil sie mir Sicherheit im Geiste
und einen unerschütterlichen Sinn im Leben gibt.
Peter Becker fährt fort:
„Durch die Berührung mit dem griechischen Vaterunser im Urtext des
Evangeliums hat Simone Weil, von dem Christus ergriffen, den Weg der Hingabe im
Glauben gefunden und gehen gelernt – bis hinein in den Tod. Der Herr selbst ist
zu ihr gekommen und hat sie mit sich genommen. Das Vaterunser wurde der Weg des
Christus in ihrer Seele. – Vom Herbst 1941 an hat sie das Gebet des Herrn immer
wieder neu ausgelegt (Die umfassendste Auslegung findet sich unter dem Titel ‚A
propos du Pater‘ in dem von P. Perrin posthum herausgegebenen Band mit Briefen
und Abhandlungen aus der Marseiller Zeit, ‚Attente de Dieu‘, S. 167 – 176. In dem
Tagebuchband aus der amerikanischen und englischen Exilzeit, ‚La connaissance
surnaturelle‘ (1942 – 1943), finden sich fragmentarische Ansätze zur
Vaterunsererklärung S. 262 ff, 102, 261 und endlich in den ‚Lettres de Londres‘
S. 165f).“
Ich habe bisher nie einen Originaltext von Simone Weil gelesen, allerdings
auch nie einen Originaltext von Karl Marx. Es erstaunt mich nur, wie jener
evangelische Theologe, den es für ein paar entscheidende Jahre als (durchaus
nicht unumstrittener) Stadtpfarrer nach Ellwangen verschlagen hat, so gründlich
diese Originaltexte studiert hat, sowohl die von Simone Weil als auch die von Karl
Marx, wie wir bald erfahren würden. Daneben aber auch die Grundtexte des Buddhismus,
Hinduismus und Taoismus.
Dieser Mann öffnete einem kleinen Häufchen von Menschen in der katholischen
Kleinstadt einen weiten geistigen Horizont.
Für mich war diese Lebensbegegnung in meinem 17. Lebensjahr die Vorbereitung
zu der zweiten, die ich in meinem 20. Lebensjahr haben durfte, als ich mit Bertold Hasen-Müller
im Herbst 1971 zum ersten Mal von Rudolf Steiner hörte. Ich werde nie vergessen,
wie er zum ersten Mal von ihm sprach. Völlig überraschend sagte er in der kleinen
Runde, aus der die neu eingerichtete Philosophie-AG bestand, mich dabei anschauend:
„In seinen jungen Jahren sah er genauso aus wie Johannes.“
[1] Bertold Hasen-Müller
führte mich in seiner Philosophie-AG zur Anthroposophie und zur Dreigliederung.
[2] Professor
Heinz Schlaffer eröffnete mir einen Zugang zur esoterischen Seite von Johann Wolfgang
Goethe.
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