Sonntag, 9. Dezember 2018

"Der kostbarste Schatz des Glaubens" - Zur Vaterunser-Auslegung Simone Weils (Fortsetzung)


Pfarrer Becker fährt auf Seite drei des Manuskriptes, das er seinen Hörern vervielfältigt hat, fort:
„Simone Weil ist nach dieser existentiellen Begegnung mit dem Christus im Gebet des Herrn zur Auslegerin des Vaterunsers geworden. – Das Vaterunser als das Gebet des Sohnes zum Vater ist der kostbarste Schatz des Glaubens. Es besitzt, wie die Evangelien selbst, sakramentalen Charakter, und bildet so das Fundament der Kirche als der Gemeinschaft der Liebe. In ihm als dem vollkommensten Gebet sind alle anderen möglichen Gebete enthalten. Spricht man also das Vaterunser mit ungeteilter Aufmerksamkeit in der Hinwendung zu Gott, so macht es den Vater selbst herniedersteigen und der Seele das Gottesreich, den Frieden und die Freude im heiligen Geist schenken und bringen.“
Während in Paris, Berlin, Frankfurt, Heidelberg und vielen anderen Städten auf der ganzen Welt die Studenten gegen den Vietnamkrieg, den US-Imperialismus und gegen die repressive Gesellschaft demonstrierten und protestierten, sprach in der kleinen Provinzstadt Ellwangen ein Pfarrer vom Vaterunser, vom Gottesreich, von Frieden und von Freude. Während sich die Studenten an Karl Marx, Lenin oder Mao orientierten, führte uns Pfarrer Becker in das Denken von Simone Weil ein. Während die Studenten an den „Histomat“ (Historischer Materialismus) glaubten, eröffnete uns Peter Becker den Zugang zur esoterischen Seite des Christentums.
Während die Studenten mit Rudi Dutschke und Danny le Rouge (Daniel Cohn-Bendit) den Weg nach außen gewählt hatten, führte uns Pfarrer Becker auf einen inneren Weg.
Natürlich waren wir auch angehaucht von den Ideen der Studenten, vom Kommunismus in seiner Idealform und von den Utopien einer klassenlosen Gesellschaft, in der nicht mehr die Reichen über die Armen herrschen. Peter Becker stellte daneben das Christentum in einer ihrer edelsten und wahrhaftigsten Vertreterinnen, der Jüdin Simone Weil.
Das war eine Geistestat erster Ordnung.
Peter Beckers Geistestat wirkt offenbar – wenn auch unbewusst – bis heute nach. Mit großer geistiger Gewalt brach sie sich in dieser Adventszeit 2018, wo in Frankreich wieder Menschen demonstrieren und protestieren, ihren Weg durch zu meinem Bewusstsein und – wenn es Gott gefällt – zum Bewusstsein einiger anderer Menschen, die diesen Text, den ich für würdig finde, gelesen zu werden und ihn deshalb dem Vergessen entreiße, gleichzeitig mit mir studieren.
Für mich persönlich war das Wirken Peter Beckers vor 50 Jahren der Beginn eines Weges, der mich – ganz ungeplant – über meinen zweiten[1] und dritten Lehrer[2] zu einer Weltanschauung führte, die mir heute wertvoll ist, weil sie mir Sicherheit im Geiste und einen unerschütterlichen Sinn im Leben gibt.
Peter Becker fährt fort:
„Durch die Berührung mit dem griechischen Vaterunser im Urtext des Evangeliums hat Simone Weil, von dem Christus ergriffen, den Weg der Hingabe im Glauben gefunden und gehen gelernt – bis hinein in den Tod. Der Herr selbst ist zu ihr gekommen und hat sie mit sich genommen. Das Vaterunser wurde der Weg des Christus in ihrer Seele. – Vom Herbst 1941 an hat sie das Gebet des Herrn immer wieder neu ausgelegt (Die umfassendste Auslegung findet sich unter dem Titel ‚A propos du Pater‘ in dem von P. Perrin posthum herausgegebenen Band mit Briefen und Abhandlungen aus der Marseiller Zeit, ‚Attente de Dieu‘, S. 167 – 176. In dem Tagebuchband aus der amerikanischen und englischen Exilzeit, ‚La connaissance surnaturelle‘ (1942 – 1943), finden sich fragmentarische Ansätze zur Vaterunsererklärung S. 262 ff, 102, 261 und endlich in den ‚Lettres de Londres‘ S. 165f).“
Ich habe bisher nie einen Originaltext von Simone Weil gelesen, allerdings auch nie einen Originaltext von Karl Marx. Es erstaunt mich nur, wie jener evangelische Theologe, den es für ein paar entscheidende Jahre als (durchaus nicht unumstrittener) Stadtpfarrer nach Ellwangen verschlagen hat, so gründlich diese Originaltexte studiert hat, sowohl die von Simone Weil als auch die von Karl Marx, wie wir bald erfahren würden. Daneben aber auch die Grundtexte des Buddhismus, Hinduismus und Taoismus.
Dieser Mann öffnete einem kleinen Häufchen von Menschen in der katholischen Kleinstadt einen weiten geistigen Horizont.

Für mich war diese Lebensbegegnung in meinem 17. Lebensjahr die Vorbereitung zu der zweiten, die ich in meinem 20. Lebensjahr haben durfte, als ich mit Bertold Hasen-Müller im Herbst 1971 zum ersten Mal von Rudolf Steiner hörte. Ich werde nie vergessen, wie er zum ersten Mal von ihm sprach. Völlig überraschend sagte er in der kleinen Runde, aus der die neu eingerichtete Philosophie-AG bestand, mich dabei anschauend: „In seinen jungen Jahren sah er genauso aus wie Johannes.“



[1] Bertold Hasen-Müller führte mich in seiner Philosophie-AG zur Anthroposophie und zur Dreigliederung.
[2] Professor Heinz Schlaffer eröffnete mir einen Zugang zur esoterischen Seite von Johann Wolfgang Goethe.

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