Als ich mich vor einigen Tagen an
Pfarrer Becker erinnerte, da war es mir einen Moment lang so, als habe ihn das
Schicksal nur wegen F. und mir und vielleicht noch zwei oder drei anderen
Menschen nach Ellwangen geführt. Ich war damals zu jung, aber ich habe es
durchaus mitbekommen, dass ihn die Amtskirche nicht besonders mochte. Er war
immer ein freier Geist und hat sich nichts vorschreiben lassen. Er hat seine
Arbeit gemacht, ohne jemanden zu fragen. Eigentlich hätte er, seinem Wissen und
seiner Begabung nach, in eine Universitätsstadt gehört. In Ellwangen hatte er
ja kaum Publikum. Aber das schien ihm nicht wichtig zu sein.
Wenn ich jetzt angefangen habe,
sein achtseitiges, gründlich recherchiertes Manuskript zu Simone Weils
Vaterunser-Auslegung abzutippen, dann kann ich mir vorstellen, wie viele
Stunden er daran gesessen hat, um es zu verfassen.
Ich nehme mir heute Morgen die
Zeit, es weiter abzutippen:
„Simone Weil, die zuvor nie ‚die
Möglichkeit einer wirklichen Berührung von Person zu Person zwischen Gott und
dem Menschen‘ auch nur ins Auge gefasst hatte, erfährt sich bei der Rezitation
des Gedichtes ‚Love‘ des englischen ‚metaphysischen‘ Dichters George Herbert
(1593 – 1632) von Christus selber ergriffen: ‚Einmal ist … der Christus selbst
herniedergestiegen und hat mich ergriffen.‘ – Doch noch verharrt sie bei halber
Weigerung, nicht der Liebe, wohl aber der Vernunft. Denn sollte man nicht – bis
zuletzt – Gott ‚aus reiner Sorge um die Wahrheit‘ widerstehen? Simone Weil, die
denkende Mystikerin, schreibt: ‚Der Christus liebt es, dass man ihm die
Wahrheit vorzieht, denn ehe er der Christus ist, ist er die Wahrheit. Wendet
man sich von ihm ab, um der Wahrheit nachzufolgen, wird man nicht weit kommen,
bis man in seine Arme stürzt.‘ – Simone Weil war zeit ihres Lebens der von ihr
erkannten und ergriffenen Wahrheit gefolgt. Sie ging den modernen Weg der
wahrhaftigen Redlichkeit bis zuletzt.“
Diese Zeilen erinnern mich an die
Devise der Rosenkreutzer, an die Rudolf Steiner anlässlich der Einweihung des
Christian-Rosenkreutz-Zweiges in Hamburg am 17. Juni 1911 (GA 130) erinnert:
„In dem Augenblicke, wo nur der
Name des Christian Rosenkreutz genannt wird, vertritt man den Grundsatz: Keine
Religion sei höher als das Streben nach Wahrheit.“
Diesen Vortrag las ich, angeregt
durch den Film „Grand Canyon“, am 4. Dezember 2018, also erst vor wenigen
Tagen.
Natürlich schließt sich daran die
Frage an: War Simone Weil eine Rosenkreuzerin? Sie ist am 3. Februar 1909 in
Paris geboren und war 1937 bei ihrer ersten Christusbegegnung in Assisi gerade
28 Jahre alt, also noch nicht einmal 30.
Pfarrer Becker schreibt weiter:
„Auf diesem Weg unbedingter
Wahrhaftigkeit begegnet ihr der Christus, heraustretend aus der Wahrheit. In
diesem von ihr ungesuchten Lichte erkannte sie Platon als einen Mystiker, den
sie bei ihrem berühmten Lehrer Alain immerhin als eine der Leuchten der
Philosophie, des höchsten Preises wert, kennengelernt hatte.“
Das ist wieder solch ein
versteckter Hinweis, den man nur mit geisteswissenschaftlicher Schulung richtig
einordnen kann. Platon war der große Lehrer des Aristoteles. Er lehrte
vermutlich als Alain de Lille (Alanus ab Insulis) auch an der Kathedralschule
von Chartres, die zumindest als „platonische Schule“ gilt, während die später
kommenden Dominikaner um Albertus Magnus und Thomas von Aquin eher in der
aristotelischen Tradition standen.
Bei dem Philosophen Alain handelt
es sich um Emile-Auguste Chartier[1], einen
französischen Denker und Journalisten, der von 1868 bis 1951 lebte. Der Name
„Alain“ ist eines seiner vielen Pseudonyme. Zuvor nannte er sich unter anderem nach
einem Dialog von Platon auch „Criton“. Er lehrte eine Zeitlang in Lorient in
der Bretagne, wo mein Vater während beziehungsweise nach dem Krieg für den
Minenräumdienst der Marine stationiert war, später in Rouen und ab 1909 in
Paris am berühmten Lycee Henri IV.
Ich hatte bis heute noch nie
etwas von „Alain“ gehört, musste aber beim Abtippen dieses Namens sofort an
Alanus ab Insulis denken, der auf Französisch Alain de Lille heißt.
Peter Becker fährt fort:
„Die Ilias schaut sie von
christlichem Lichte durchflutet. Ja, sie empfand, dass Dionysos und Osiris in
gewisser Weise der Christus selber sind – und meine Liebe (zu ihm) wurde
hierdurch verdoppelt‘ (an Perrin)“
Hatte ich nicht erst gestern
Rudolf Steiners Hinweis aufgegriffen, dass der Christus als Sonnenwesen bereits
in allen nachatlantischen Kulturepochen geschaut werden konnte? Ich will hier
die entsprechende Stelle aus dem Vortrag vom 19. September 1911 wörtlich
zitieren:
„Während wir in der
Buddha-Strömung, wie in jeder anderen, eine solche haben, die uns alle als
Menschen betrifft, haben wir in der Christus-Wesenheit einen kosmischen
Einschlag. Alle Bodhisattvas gehören zu den Individualitäten, die das Leben
hier auf Erden durchmachen, gehören zur Erde. Die Christus-Individualität kommt
von der Sonne und betritt die Erde erst mit der Johannestaufe, sie ist nur
während drei Jahren in dem physischen Leibe des Jesus von Nazareth. Das
Charakteristische dieser Christus-Individualität ist, dass es ihr bestimmt ist,
nur während drei Jahren in der irdischen Welt zu wirken. Es ist dieselbe
Wesenheit, auf die der Zarathustra hinwies, indem er sie den Ahura mazdao
nannte, der hinter der sichtbaren Sonne steht, dieselbe, von der die heiligen
Rishis kündeten, und von der die Griechen sprachen als von der Wesenheit, die
dem Pleroma zugrunde liegt. Es ist die Wesenheit, die nach und nach zum Geiste
unserer Erde geworden ist, zur Aura unserer Erde, seitdem ihr Blut auf Golgatha
geflossen ist. Der erste, der sie so sehen durfte, dass er nicht unmittelbar
durch das physische Ereignis dazu angeregt war, das war Paulus.“ (Vortrag vom
19.September 1911 in Locarno, GA 130, S 36)[2]
Ich fahre fort mit dem Text von
Peter Becker. Je mehr ich mich mit ihm beschäftige, desto interessanter finde
ich ihn:
„Dennoch leistete sie Gott noch
Widerstand: ‚Niemals legte ich mir die Frage vor, ob der Christus eine
Inkarnation Gottes sei oder nicht‘ – aber in der Liebe unterliegt sie dennoch:
‚…aber in der Tat war ich außerstande, an ihn zu denken, ohne ihn als Gott zu
denken‘. – Als sie dann noch zur Lektüre der indischen sakralen epischen
Dichtung Bhagavad-Gita kam, wurde ihr auch hier Gottes Inkarnation (in der
Gestalt des Gottes Krishna, der zu Arjuna redet) deutlich.“
Nun schwenkt Pfarrer Becker an
der Hand von Simone Weil zu seinem zweiten großen Thema, dem Hinduismus
beziehungsweise Buddhismus über, indem er auf die heiligen Schriften der Inder
hinweist, die Simone Weil, die extra Sanskrit gelernt hatte, im Original lesen
konnte.
„Simone Weil erkannte die
besondere Zustimmung, die wir gemeinhin der religiösen Wahrheit schuldig sind.
– Aber noch weigert sie sich der Eröffnung der wesenhaft-lebendigen
Gottesgemeinschaft, dem Gebet.“
Das sind Formulierungen, die von
einem unglaublich tiefen spirituellen Verständnis zeugen, wie ich es bisher nur
bei Rudolf Steiner gefunden habe. Mit dem letzten Satz endet die erste von
insgesamt acht eng beschriebenen Seiten des Manuskripts. Zum ersten Mal wird hier
mit dem Wort „Gebet“ auf das eigentliche Thema hingewiesen, nämlich auf Simone
Weils Vaterunser-Auslegung.
Dennoch bleibt Peter Becker
zunächst noch bei der Biografie der französischen Mystikerin und schreibt:
„Simone Weil, unterdessen in die
freie Zone ihres französischen Vaterlandes geflohen, hatte mit Hilfe der
Dominikaner in Marseille Beschäftigung als Landarbeiterin auf der Ferme des
Dichters und Philosophen Gustave Thibon in St. Marcel d’Ardeche im unteren
Rhonetal gefunden. Dort arbeitete sie in den Weingärten unerkannt unter den Saisonarbeitern
bis zur physischen Erschöpfung ihrer sowieso labilen Gesundheit. Sie lehnte
eine Unterkunft im Bauernhaus der Thibons ab und nächtigte stattdessen im
verfallenden ‚Haus der vier Winde‘ über dem Flusstal mit einem herrlichen
Ausblick auf die unabsehbaren Fruchtgärten des Tales. Im Hintergrund hebt sich
der ‚Zeugenberg‘ der Provence, der altehrwürdige Mont Ventoux aus der Ebene.“
Peter Becker schildert die
Landschaft und die Natur so, als wäre er bei einer Reise auf den Spuren von
Simone Weil selbst einmal dort gewesen. Diese Schilderung erinnert mich wieder
an die Worte Rudolf Steiners zu Beginn seines Locarner Vortrages:
„Entweder weiß der Mensch oder er
ahnt es, dass in allem, was uns als Natur, als Wald und Gipfel, als Wetter und
Gewittersturm umgibt, eine Geistigkeit waltet, die, nach dem Ausspruche einer
bedeutenden Persönlichkeit des Abendlandes, schon eine Geistigkeit ist, welche
konsequenter ist als das Handeln und Fühlen und Denken des Menschen. Die Ahnung
muss uns ja überkommen, dass in alledem, was uns so umgibt als Wald und Gipfel,
Berg und See, der Geist spricht. Und in der Geisteswissenschaft werden wir ja
immer mehr und mehr gewahr, wie aus allem, was uns in der Natur umgibt, aus
allem, was uns als fester Boden trägt, das, was daraus spricht, Geist ist.“ (Rudolf Steiner am 19.09.1911 in Locarno, GA 130)
„Simone Weil war ihren Gastgebern
eine unbequeme und eigenwillige Heilige. Aber bald überzeugte sie Gustave
Thibon durch ihre immense und tiefgründige Spiritualität nicht nur vom Recht,
sondern auch der Notwendigkeit ihres Lebensstiles und versöhnte sie durch
Öffnung ihres Inneren den bekannten katholischen Denker auch mit ihrer
hartnäckigen Weigerung, die Schwelle der Kirche (in der Taufe) zu
überschreiten. Des Abends, auf der Steinbank vor der Ferme an der alten, jetzt
versiegten Quelle, führte sie Thibon in das sprachliche und darauf folgend in
das mystische Verständnis des Vaterunsers ein. Später schreibt sie an ihren
Seelenführer, den Pater Perrin: ‚Niemals hatte ich mich laut oder in Gedanken
nur mit Worten an Gott gewandt. Niemals hatte ich – sie besuchte schon seit
Jahren hin und wieder die Messe – ein liturgisches Gebet gesprochen (- auch
während der Karwoche in Solesmes war sie also nur passive Zuhörerin gewesen -).
Hin und wieder kam es wohl vor, dass ich vor mir selbst das Salve Regina
aufsagte, doch nur als schönes Gedicht‘ (vierter Brief an Perrin von Mitte Mai
1942).“
Salve
Regina
mater
misericordiae;
Vita,
dulcedo et spes nostra, salve.
Ad te
clamamus, exsulses filii Hevae
Ad te
suspiramus,
Gementes et
flentes in hac lacrimarum valle.
Eia ergo,
Advocata nostra
ilos tuos
misericordes oculos
ad nos converte.
Et Jesum, benedictum
fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.
(Sei gegrüßt, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit
Unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt
Zu die rufen wir, die verbannten Töchter Evas;
Zu dir seufzen wir
Trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsere Fürsprecherin
Wende uns deine barmherzigen Augen zu
Und zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes
Nach dieser Verbannung.)
[2] Eben
fällt mir ein, dass ich Peter Becker zum ersten Mal in einem Tagebucheintrag
vom 18. September 1968 erwähnt habe (siehe dort). Das sind 57 Jahre, also etwa
drei Mondknoten nach Rudolf Steiners Vortrag vom 19. September 1911).
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