Wie aus meinem 68er Tagebuch
hervorgeht, das ich Tag für Tag abtippe, habe ich im Herbst 1968 Herrn Pfarrer
Peter Becker kennengelernt, den ersten meiner drei „großen“ Lehrer. Ich wusste
schon immer, dass er eine bedeutende Persönlichkeit war, aber wie groß sein
Geist war, das kann ich mir erst jetzt – nach 50 Jahren – klar machen. Ich habe
gestern zwischen 23.00 und 24.00 Uhr vor dem Schlafen einen seiner Texte
gelesen, die er im Zusammenhang mit seinen Seminaren verfasst und hektografiert
hat. Gott sei Dank habe ich diese Texte aufgehoben.
Im Grunde war Peter Becker viel
zu groß für das kleine Ellwangen. Das wusste ich schon früher. In Ellwangen
fand er als Stadtpfarrer und Religionslehrer überhaupt nicht das Publikum, das
dieser bedeutende Theologe gebraucht hätte. Ich war viel zu jung und hatte kaum
Begriffe, um seine Texte zu verstehen. Ich konnte nur mit offenem Mund dasitzen
und staunen.
Erst jetzt beginne ich, diese
Texte zu lesen und mir diesen Mann, der vielleicht schon gestorben ist, zu
vergegenwärtigen. Ich sehe sein Gesicht wieder vor mir, in dem immer ein
freundliches Lächeln war. Er lehrte nicht nur, sondern er setzte sich auch für
Menschen ein. Er war ein gütiger und ein guter Mensch. Jedes Wort, das er
sprach, lebte er auch.
Gestern wurde mir – mit der Anthroposophie im Hintergrund –
bewusst, wie spirituell Peter Becker tatsächlich war.
Deshalb möchte ich den Text, den
ich gestern las, hier abtippen, auch, um diese Perle dem Vergessen zu
entreißen (er umfasst acht dicht beschriebene Seiten. Ich tippe zunächst nur die biographische Einleitung ab). Ich weiß nicht, ob dieser evangelische Theologe, der versucht hat,
den wenigen Ellwangern, die sich dafür interessierten, mit seinen Seminaren den
Buddhismus und den Taoismus näher zu bringen, je ein Buch veröffentlicht hat.
Durch Pfarrer Becker habe ich die
Jüdin Simone Weil (1909 – 1944) kennen gelernt. Über ihre Vaterunser-Auslegung
hielt Pfarrer Becker am Sonntag, den 24. November 1968 ein Referat, das mit den
Worten begann:
“Simone Weil bezeichnet den
Einbruch der Mystik in die moderne Welt.“
Schon solch ein Satz steht vor
mir wie das Portal einer Kathedrale, in die ich gleich eintreten werde. Und es
erinnert mich natürlich an eines der ersten Bücher Rudolf Steiners, das auf
Vorträgen kurz nach der Jahrhundertwende basiert: „Die Mystik im Aufgange des
neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung.“
Ich weiß nicht, ob Pfarrer Becker
damals bereits Rudolf Steiner kannte. Viel später, 2002, an meinem 50.
Geburtstag, erfuhr ich, dass seine Frau, ebenfalls Theologin, an Waldorfschulen
evangelische Religion unterrichtet hat.
Der Text, den ich auch stilistisch
für besonders gelungen erachte, fährt fort:
„Als Frau führte sie ein hartes,
entbehrungsvolles Leben.“
Auch dieser Satz ist kurz und
bündig wie eine Statue am Portal. Vor mir sehe ich also nicht einen Mann,
sondern diese bestimmte Frau. Die Attribute genügen, um die Biographie dieses
Menschen nahezu umfassend zu beschreiben: „hart und entbehrungsreich“.
„Im Spanienkrieg kämpfte die im
Jahre 1909 geborene Anarcho-Marxistin und Philosophieprofessorin an
verschiedenen Lyceen besten Glaubens auf der Seite der Unterdrückten.“
Auch hier scheint nicht nur das
Wesen von Simone Weil durch die Worte, sondern auch das Wesen Peter Beckers,
der – wie ich immer spürte – geradezu eine Art höherer Liebe zu der bereits
Verstorbenen empfand. Noch an meinem 50. Geburtstag, zu dem ich ihn eingeladen
hatte, erwähnte er sie in einer Art und Weise, als würde alle Welt diese
außergewöhnliche Frau kennen. Er war immer noch begeistert von der
ursprünglichen „Anarcho-Marxistin“, der „Kämpferin für die Unterdrückten“ und
der mutigen Teilnehmerin am Spanischen Bürgerkrieg, in dem zum Beispiel auch
Ernest Hemingway auf Seiten der Republikaner gegen die Faschisten gekämpft
hatte, wie mir schon damals aus der Hollywood-Verfilmung seines Romans „Wem die
Stunde schlägt“ mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann bekannt war.
:
Peter Becker, der bei einer eben
durchgeführten Recherche im Internet einfach nicht aufzufinden war, schreibt
weiter:
„Doch lernte sie unmenschliche
Grausamkeit auf beiden Seiten der Bürgerkriegsfronten kennen. Davor schauderte
sie zurück. Der gerechte Krieg wurde ihr fragwürdig.“
Solche Worte muss man aus dem
Kontext der 68er Jahre lesen. Damals tobte der Vietnam-Krieg. Die linken
Studenten kämpften zwar nicht an der Seite der kommunistischen Vietcong, aber
sie bewunderten den südamerikanischen Revolutionär Che Guevara, der forderte:
„Schafft ein, zwei viele Vietnams!“ und damit meinte, dass es richtig sei, auf
der Seite der Unterdrückten gegen den US-Imperialismus auch mit Waffen
vorzugehen, wie er es in Kuba und später auch in Bolivien tat. Pfarrer Becker
distanziert sich in diesem Text sowohl von den linken wie den rechten Kämpfern
und stellt mit der Verneinung des „gerechten Krieges“ jeden Krieg an den
Pranger. Pfarrer Becker war im Herzen Pazifist.
„Sie musste sich fragen, wie der
Frieden zusammen mit der Menschlichkeit errungen werden könne. Die
Naziherrschaft breitete sich über Europa aus. 1940 musste Simone Weil auf die
Flucht vor der Judenvernichtung gehen. Unterdessen hatte ihr Leben eine Wende
erfahren: Nach vorbereitenden Begegnungen mit christlicher Spiritualität und
christlicher Armut war der besessen Arbeitenden und Suchenden während der
Karwoche 1937 in der Abtei Solesmes (…) anlässlich der Exerzitien eine erste
Christuserfahrung widerfahren, von der sie in zwei Briefen aus dem Jahre 1942
verhüllt Kunde gibt. Die unendliche Schönheit der gregorianischen Choräle reißt
ihren Geist in Verzückung hinweg. Die von fast unerträglichen Kopfschmerzen
gefolterte Intellektuelle, die sich bereits während eines Fabrikjahres in den
Renaultwerken körperlich bis an den Rand des Ruins abgearbeitet hatte, erfährt
aus der Finsternis der ‚Schwerkraft‘ (pesanteur) heraus die hinaufreißende
Kraft der ‚Gnade‘ (grace). Die mit dem Feuerstempel der Sklavin gezeichnete
Kreatur fand kraft einer unendlichen Anstrengung der ‚Aufmerksamkeit‘ (attente)
den Ausweg ins Freie: Sie vermochte ‚aus diesem elenden Fleische
herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in
der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene
Freude zu finden.‘ (In einem Brief an P. Perrin O.P. vom 15. Mai 1942 aus
Casablanca). So begriff sie auf analoge Weise die Möglichkeit, die ‚göttliche
Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben‘. Der Gedanke an die ‚Passion des
Christus‘ fand ‚ein für allemal Eingang‘ in sie.“
Dieses Christuserlebnis berührt
mich tief, entspricht es doch genau der Voraussage, die Rudolf Steiner ab dem
Jahre 1910, also nur ein Jahr nach der Geburt der jüdischen Mystikerin, gemacht
hat, nämlich dass ab dem Jahre 1930 zuerst einige wenige, dann immer mehr
Menschen eine übersinnliche Christuserfahrung machen werden.
Im Vortrag vom 17. September 1911,
den ich gestern ebenfalls „zufällig“ las, führt Rudolf Steiner diese Tatsache
vor einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich in Lugano zusammengefunden hat,
noch einmal auf. Rudolf Steiner war auf dem Weg nach Genua, wo ein
theosophischer Kongress stattfinden sollte, der allerdings „in letzter Stunde“
abgesagt wurde. Es war die Zeit, als die theosophische Führung unter Annie
Besant die Wiedergeburt Christi im Leibe eines indischen Knaben (Jidu
Krishnamurti) verkündete. In der (lückenhaften) Mitschrift dieses Vortrages
lese ich:
„Vor anderthalb Jahrtausenden war
der physische Leib wesentlich weicher und biegsamer. Der physische Leib ist
immer härter geworden. Dagegen ist auch in dem Ätherleib etwas ganz anderes
geschehen, etwas, was der Mensch eben darum weniger erleben konnte, weil dieser
Ätherleib eine Entwicklung nach aufwärts durchgemacht hat. Es ist bedeutsam,
dass wir an dem wichtigen Zeitpunkte stehen, wo der Mensch gewahr werden muss,
dass sein Ätherleib ein anderer werden soll. Das ist das Ereignis, welches
gerade im zwanzigsten Jahrhundert sich abspielen wird. Während auf der einen
Seite das Stärkerwerden des intellektuellen Elementes sich geltend macht, wird
auf der anderen Seite der Ätherleib so viel selbständiger, dass die Menschen es
werden merken müssen. Noch haben die Menschen eine Zeitlang nach dem
Christus-Ereignis nicht so intellektuell gedacht wie die heutigen Menschen.
Dieses Denken im Intellektuellen bewirkt, dass der Ätherleib immer
selbständiger wird, dass er auch als selbständiges Instrument gebraucht wird.
Und dabei kann bemerkt werden, dass er im geheimen eine Entwicklung durchgemacht
hat, welche das Gewahrwerden des Christus im Ätherleib ermöglicht. So wie der
Christus dazumal physisch gesehen wurde, wird er jetzt ätherisch geschaut
werden können. So dass in diesem zwanzigsten Jahrhundert wie ein natürliches
Ereignis ein Schauen des Christus eintritt, wie Paulus ihn gesehen hat. Es wird
eine Anzahl von Menschen im Ätherischen den Christus sehen können. So dass man
ihn auch kennen wird, den Christus, wenn alle Bibeln verbrannt wären. Wir
brauchen dann keine Überlieferung, denn wir sehen ihn, wir schauen ihn. Und das
ist ein Ereignis von einer ähnlichen
Bedeutung wie dasjenige, das sich auf Golgatha abgespielt hat. Immer mehr und
mehr Menschen werden in den nächsten Jahrhunderten dazu kommen, den Christus zu
schauen.“[1]
Interessant ist, dass Simone Weil
die Ausdrücke „Schwerkraft“ (pesanteur) und „Gnade“ (grace) immer wieder
benützt. Ihrem ersten Werk, das 1952 auf Deutsch erschien, gab sie den Titel
„Schwerkraft und Gnade“. Ihre Aufzeichnungen aus dem Exil nennt sie „La connaissance
surnaturelle“ (Die übernatürliche Erkenntnis). Der Ausdruck „die hinaufreißende
Kraft der Gnade“ beschreibt exakt das, was Rudolf Steiner mit dem Ätherleib
meint.
Es ist bekannt, dass die mosaische
Religion als Buchreligion von ihren Anhängern lange vor den bibellesenden
Protestanten eine intellektuelle Schulung verlangte, die Mitglieder dieses
monotheistischen Glaubens bis heute vor allen anderen auszeichnet. Wenn Rudolf
Steiner vor allem Menschen im Auge hat, die ihren Intellekt hervorragend
ausgebildet haben, so sind die jüdische Philosophin Simone Weil und der
jüdische Schriftsteller Joseph Roth, mit dem ich mich zurzeit intensiv
beschäftige, hervorragende Beispiele unter tausenden. Bei beiden kann man eine
Christuserfahrung konstatieren, die sie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts
gemacht haben. In der „Legende vom heiligen Trinker“, Joseph Roths letzter
Erzählung, die er kurz vor seinem Tode im Jahr 1939 vollendete, spielt die
Heilige Therese von Lisieux eine ähnlich erweckende Rolle wie die Chorgesänge
der Mönche von Solesmes im Leben der Simone Weil.
Es war immer meine Überzeugung,
dass gerade die jüdischen Menschen prädestiniert sind, solche Christus-Erfahrungen
zu machen, insbesondere jene, die in die Lager verbracht wurden. Das Leben der
Simone Weil war im Grunde der Nachvollzug der Passion Christi. Das sehe ich als
unbedingte Voraussetzung für die Christuserfahrung, die Rudolf Steiner
prophezeit hat. Es ist gewiss kein historischer Zufall, sondern
Menschheitskarma, dass gerade Angehörige der Religion, aus der auch Jesus von
Nazareth hervorging, im 20. Jahrhundert solche Erfahrungen machen mussten,
zweitausend Jahre, nachdem ihre Oberen den Messias im Fleische abgelehnt haben.
In Israel warten die Zionisten heute noch auf das Kommen des Messias im
Fleische, wie wir aus der neuen Biographie David Ben Gurions aus der Feder von
Tom Segev erfahren können, wenn der Autor
schreibt:
„In seiner ganz eigenen Weise war
er (Ben Gurion) auch in seinen Traum verliebt und hatte Angst, sich von ihm zu
verabschieden. ‚Die messianischen Zeiten sind wichtiger als der Messias‘, sagte
er. ‚Sobald der Messias da ist, hört er auf, Messias zu sein. Wenn man die
Anschrift des Messias im Telefonbuch findet, ist er kein Messias mehr:‘ Und so
erhoffte er dessen Ankunft – und auch wieder nicht.“[2]
Mit diesem Widerspruch müssen im
Grunde alle Zionisten leben, die den leiblichen Messias in Jerusalem erwarten.
Sie haben in Palästina mit Gewalt („um jeden Preis“) einen Staat geschaffen,
weil es eine Prophezeiung gibt, dass der Messias in Zion auf einem Esel durch
ein ganz bestimmtes Tor einreiten werde. Vielleicht haben im Gegensatz dazu
jene Menschen jüdischen Glaubens die Ankunft des Messias ganz real erlebt, als
sie in den Lagern im Angesicht des Todes lebten. Aber es war nicht die
Wiederkunft im Leibe, wie sie auch die Britin Annie Besant verkündete, sondern
das Wiedererscheinen Christi im Ätherischen, von dem Rudolf Steiner spricht. Seine
Anschrift wird man nie im Telefonbuch finden und die messianischen Zeiten werden
auch nicht auf ein Leben von Geburt bis zum Tod beschränkt sein, sondern, wie Rudolf
Steiner voraussagt, dreitausend Jahre dauern:
„Hellseherisch wahrnehmen den Christus,
ist immer möglich gewesen. Aber ihm zu begegnen, weil er jetzt anders zur Menschheit
steht, nämlich so, dass er einem von der Ätherwelt aus hilft, das ist etwas, was
(…) eine von unserer hellseherischen Entwicklung unabhängige Tatsache ist. Vom zwanzigsten
Jahrhundert an, in den nächsten dreitausend Jahren werden gewisse Menschen ihm begegnen
können, ihm objektiv als ätherischer Gestalt dann begegnen.“[3]
[1] Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum
und die geistige Führung der Menschheit, Ga 130 (Taschenbuchausgabe 2001, S
20f)
[2] Tom
Segev, David Ben Gurion – Ein Staat um jeden Preis,, Siedler Verlag, München
2018, S 15
[3] A.a.O. S
23f
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