Donnerstag, 6. Dezember 2018

Schwerkraft und Gnade - zur Christus-Erfahrung Simone Weils


Wie aus meinem 68er Tagebuch hervorgeht, das ich Tag für Tag abtippe, habe ich im Herbst 1968 Herrn Pfarrer Peter Becker kennengelernt, den ersten meiner drei „großen“ Lehrer. Ich wusste schon immer, dass er eine bedeutende Persönlichkeit war, aber wie groß sein Geist war, das kann ich mir erst jetzt – nach 50 Jahren – klar machen. Ich habe gestern zwischen 23.00 und 24.00 Uhr vor dem Schlafen einen seiner Texte gelesen, die er im Zusammenhang mit seinen Seminaren verfasst und hektografiert hat. Gott sei Dank habe ich diese Texte aufgehoben.
Im Grunde war Peter Becker viel zu groß für das kleine Ellwangen. Das wusste ich schon früher. In Ellwangen fand er als Stadtpfarrer und Religionslehrer überhaupt nicht das Publikum, das dieser bedeutende Theologe gebraucht hätte. Ich war viel zu jung und hatte kaum Begriffe, um seine Texte zu verstehen. Ich konnte nur mit offenem Mund dasitzen und staunen.
Erst jetzt beginne ich, diese Texte zu lesen und mir diesen Mann, der vielleicht schon gestorben ist, zu vergegenwärtigen. Ich sehe sein Gesicht wieder vor mir, in dem immer ein freundliches Lächeln war. Er lehrte nicht nur, sondern er setzte sich auch für Menschen ein. Er war ein gütiger und ein guter Mensch. Jedes Wort, das er sprach, lebte er auch.
Gestern wurde mir  – mit der Anthroposophie im Hintergrund – bewusst, wie spirituell Peter Becker tatsächlich war.
Deshalb möchte ich den Text, den ich gestern las, hier abtippen, auch, um diese Perle dem Vergessen zu entreißen (er umfasst acht dicht beschriebene Seiten. Ich tippe zunächst nur die biographische Einleitung ab). Ich weiß nicht, ob dieser evangelische Theologe, der versucht hat, den wenigen Ellwangern, die sich dafür interessierten, mit seinen Seminaren den Buddhismus und den Taoismus näher zu bringen, je ein Buch veröffentlicht hat.
Durch Pfarrer Becker habe ich die Jüdin Simone Weil (1909 – 1944) kennen gelernt. Über ihre Vaterunser-Auslegung hielt Pfarrer Becker am Sonntag, den 24. November 1968 ein Referat, das mit den Worten begann:
“Simone Weil bezeichnet den Einbruch der Mystik in die moderne Welt.“
Schon solch ein Satz steht vor mir wie das Portal einer Kathedrale, in die ich gleich eintreten werde. Und es erinnert mich natürlich an eines der ersten Bücher Rudolf Steiners, das auf Vorträgen kurz nach der Jahrhundertwende basiert: „Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung.“
Ich weiß nicht, ob Pfarrer Becker damals bereits Rudolf Steiner kannte. Viel später, 2002, an meinem 50. Geburtstag, erfuhr ich, dass seine Frau, ebenfalls Theologin, an Waldorfschulen evangelische Religion unterrichtet hat.
Der Text, den ich auch stilistisch für besonders gelungen erachte, fährt fort:
„Als Frau führte sie ein hartes, entbehrungsvolles Leben.“
Auch dieser Satz ist kurz und bündig wie eine Statue am Portal. Vor mir sehe ich also nicht einen Mann, sondern diese bestimmte Frau. Die Attribute genügen, um die Biographie dieses Menschen nahezu umfassend zu beschreiben: „hart und entbehrungsreich“.
„Im Spanienkrieg kämpfte die im Jahre 1909 geborene Anarcho-Marxistin und Philosophieprofessorin an verschiedenen Lyceen besten Glaubens auf der Seite der Unterdrückten.“
Auch hier scheint nicht nur das Wesen von Simone Weil durch die Worte, sondern auch das Wesen Peter Beckers, der – wie ich immer spürte – geradezu eine Art höherer Liebe zu der bereits Verstorbenen empfand. Noch an meinem 50. Geburtstag, zu dem ich ihn eingeladen hatte, erwähnte er sie in einer Art und Weise, als würde alle Welt diese außergewöhnliche Frau kennen. Er war immer noch begeistert von der ursprünglichen „Anarcho-Marxistin“, der „Kämpferin für die Unterdrückten“ und der mutigen Teilnehmerin am Spanischen Bürgerkrieg, in dem zum Beispiel auch Ernest Hemingway auf Seiten der Republikaner gegen die Faschisten gekämpft hatte, wie mir schon damals aus der Hollywood-Verfilmung seines Romans „Wem die Stunde schlägt“ mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann bekannt war.
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Peter Becker, der bei einer eben durchgeführten Recherche im Internet einfach nicht aufzufinden war, schreibt weiter:
„Doch lernte sie unmenschliche Grausamkeit auf beiden Seiten der Bürgerkriegsfronten kennen. Davor schauderte sie zurück. Der gerechte Krieg wurde ihr fragwürdig.“
Solche Worte muss man aus dem Kontext der 68er Jahre lesen. Damals tobte der Vietnam-Krieg. Die linken Studenten kämpften zwar nicht an der Seite der kommunistischen Vietcong, aber sie bewunderten den südamerikanischen Revolutionär Che Guevara, der forderte: „Schafft ein, zwei viele Vietnams!“ und damit meinte, dass es richtig sei, auf der Seite der Unterdrückten gegen den US-Imperialismus auch mit Waffen vorzugehen, wie er es in Kuba und später auch in Bolivien tat. Pfarrer Becker distanziert sich in diesem Text sowohl von den linken wie den rechten Kämpfern und stellt mit der Verneinung des „gerechten Krieges“ jeden Krieg an den Pranger. Pfarrer Becker war im Herzen Pazifist.
„Sie musste sich fragen, wie der Frieden zusammen mit der Menschlichkeit errungen werden könne. Die Naziherrschaft breitete sich über Europa aus. 1940 musste Simone Weil auf die Flucht vor der Judenvernichtung gehen. Unterdessen hatte ihr Leben eine Wende erfahren: Nach vorbereitenden Begegnungen mit christlicher Spiritualität und christlicher Armut war der besessen Arbeitenden und Suchenden während der Karwoche 1937 in der Abtei Solesmes (…) anlässlich der Exerzitien eine erste Christuserfahrung widerfahren, von der sie in zwei Briefen aus dem Jahre 1942 verhüllt Kunde gibt. Die unendliche Schönheit der gregorianischen Choräle reißt ihren Geist in Verzückung hinweg. Die von fast unerträglichen Kopfschmerzen gefolterte Intellektuelle, die sich bereits während eines Fabrikjahres in den Renaultwerken körperlich bis an den Rand des Ruins abgearbeitet hatte, erfährt aus der Finsternis der ‚Schwerkraft‘ (pesanteur) heraus die hinaufreißende Kraft der ‚Gnade‘ (grace). Die mit dem Feuerstempel der Sklavin gezeichnete Kreatur fand kraft einer unendlichen Anstrengung der ‚Aufmerksamkeit‘ (attente) den Ausweg ins Freie: Sie vermochte ‚aus diesem elenden Fleische herauszutreten, es in seinen Winkel hingekauert allein leiden zu lassen und in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden.‘ (In einem Brief an P. Perrin O.P. vom 15. Mai 1942 aus Casablanca). So begriff sie auf analoge Weise die Möglichkeit, die ‚göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben‘. Der Gedanke an die ‚Passion des Christus‘ fand ‚ein für allemal Eingang‘ in sie.“
Dieses Christuserlebnis berührt mich tief, entspricht es doch genau der Voraussage, die Rudolf Steiner ab dem Jahre 1910, also nur ein Jahr nach der Geburt der jüdischen Mystikerin, gemacht hat, nämlich dass ab dem Jahre 1930 zuerst einige wenige, dann immer mehr Menschen eine übersinnliche Christuserfahrung machen werden.
Im Vortrag vom 17. September 1911, den ich gestern ebenfalls „zufällig“ las, führt Rudolf Steiner diese Tatsache vor einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich in Lugano zusammengefunden hat, noch einmal auf. Rudolf Steiner war auf dem Weg nach Genua, wo ein theosophischer Kongress stattfinden sollte, der allerdings „in letzter Stunde“ abgesagt wurde. Es war die Zeit, als die theosophische Führung unter Annie Besant die Wiedergeburt Christi im Leibe eines indischen Knaben (Jidu Krishnamurti) verkündete. In der (lückenhaften) Mitschrift dieses Vortrages lese ich:
„Vor anderthalb Jahrtausenden war der physische Leib wesentlich weicher und biegsamer. Der physische Leib ist immer härter geworden. Dagegen ist auch in dem Ätherleib etwas ganz anderes geschehen, etwas, was der Mensch eben darum weniger erleben konnte, weil dieser Ätherleib eine Entwicklung nach aufwärts durchgemacht hat. Es ist bedeutsam, dass wir an dem wichtigen Zeitpunkte stehen, wo der Mensch gewahr werden muss, dass sein Ätherleib ein anderer werden soll. Das ist das Ereignis, welches gerade im zwanzigsten Jahrhundert sich abspielen wird. Während auf der einen Seite das Stärkerwerden des intellektuellen Elementes sich geltend macht, wird auf der anderen Seite der Ätherleib so viel selbständiger, dass die Menschen es werden merken müssen. Noch haben die Menschen eine Zeitlang nach dem Christus-Ereignis nicht so intellektuell gedacht wie die heutigen Menschen. Dieses Denken im Intellektuellen bewirkt, dass der Ätherleib immer selbständiger wird, dass er auch als selbständiges Instrument gebraucht wird. Und dabei kann bemerkt werden, dass er im geheimen eine Entwicklung durchgemacht hat, welche das Gewahrwerden des Christus im Ätherleib ermöglicht. So wie der Christus dazumal physisch gesehen wurde, wird er jetzt ätherisch geschaut werden können. So dass in diesem zwanzigsten Jahrhundert wie ein natürliches Ereignis ein Schauen des Christus eintritt, wie Paulus ihn gesehen hat. Es wird eine Anzahl von Menschen im Ätherischen den Christus sehen können. So dass man ihn auch kennen wird, den Christus, wenn alle Bibeln verbrannt wären. Wir brauchen dann keine Überlieferung, denn wir sehen ihn, wir schauen ihn. Und das ist ein Ereignis von einer  ähnlichen Bedeutung wie dasjenige, das sich auf Golgatha abgespielt hat. Immer mehr und mehr Menschen werden in den nächsten Jahrhunderten dazu kommen, den Christus zu schauen.“[1]
Interessant ist, dass Simone Weil die Ausdrücke „Schwerkraft“ (pesanteur) und „Gnade“ (grace) immer wieder benützt. Ihrem ersten Werk, das 1952 auf Deutsch erschien, gab sie den Titel „Schwerkraft und Gnade“. Ihre Aufzeichnungen aus dem Exil nennt sie „La connaissance surnaturelle“ (Die übernatürliche Erkenntnis). Der Ausdruck „die hinaufreißende Kraft der Gnade“ beschreibt exakt das, was Rudolf Steiner mit dem Ätherleib meint.
Es ist bekannt, dass die mosaische Religion als Buchreligion von ihren Anhängern lange vor den bibellesenden Protestanten eine intellektuelle Schulung verlangte, die Mitglieder dieses monotheistischen Glaubens bis heute vor allen anderen auszeichnet. Wenn Rudolf Steiner vor allem Menschen im Auge hat, die ihren Intellekt hervorragend ausgebildet haben, so sind die jüdische Philosophin Simone Weil und der jüdische Schriftsteller Joseph Roth, mit dem ich mich zurzeit intensiv beschäftige, hervorragende Beispiele unter tausenden. Bei beiden kann man eine Christuserfahrung konstatieren, die sie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht haben. In der „Legende vom heiligen Trinker“, Joseph Roths letzter Erzählung, die er kurz vor seinem Tode im Jahr 1939 vollendete, spielt die Heilige Therese von Lisieux eine ähnlich erweckende Rolle wie die Chorgesänge der Mönche von Solesmes im Leben der Simone Weil.
Es war immer meine Überzeugung, dass gerade die jüdischen Menschen prädestiniert sind, solche Christus-Erfahrungen zu machen, insbesondere jene, die in die Lager verbracht wurden. Das Leben der Simone Weil war im Grunde der Nachvollzug der Passion Christi. Das sehe ich als unbedingte Voraussetzung für die Christuserfahrung, die Rudolf Steiner prophezeit hat. Es ist gewiss kein historischer Zufall, sondern Menschheitskarma, dass gerade Angehörige der Religion, aus der auch Jesus von Nazareth hervorging, im 20. Jahrhundert solche Erfahrungen machen mussten, zweitausend Jahre, nachdem ihre Oberen den Messias im Fleische abgelehnt haben. In Israel warten die Zionisten heute noch auf das Kommen des Messias im Fleische, wie wir aus der neuen Biographie David Ben Gurions aus der Feder von Tom Segev  erfahren können, wenn der Autor schreibt:
„In seiner ganz eigenen Weise war er (Ben Gurion) auch in seinen Traum verliebt und hatte Angst, sich von ihm zu verabschieden. ‚Die messianischen Zeiten sind wichtiger als der Messias‘, sagte er. ‚Sobald der Messias da ist, hört er auf, Messias zu sein. Wenn man die Anschrift des Messias im Telefonbuch findet, ist er kein Messias mehr:‘ Und so erhoffte er dessen Ankunft – und auch wieder nicht.“[2]
Mit diesem Widerspruch müssen im Grunde alle Zionisten leben, die den leiblichen Messias in Jerusalem erwarten. Sie haben in Palästina mit Gewalt („um jeden Preis“) einen Staat geschaffen, weil es eine Prophezeiung gibt, dass der Messias in Zion auf einem Esel durch ein ganz bestimmtes Tor einreiten werde. Vielleicht haben im Gegensatz dazu jene Menschen jüdischen Glaubens die Ankunft des Messias ganz real erlebt, als sie in den Lagern im Angesicht des Todes lebten. Aber es war nicht die Wiederkunft im Leibe, wie sie auch die Britin Annie Besant verkündete, sondern das Wiedererscheinen Christi im Ätherischen, von dem Rudolf Steiner spricht. Seine Anschrift wird man nie im Telefonbuch finden und die messianischen Zeiten werden auch nicht auf ein Leben von Geburt bis zum Tod beschränkt sein, sondern, wie Rudolf Steiner voraussagt, dreitausend Jahre dauern:
„Hellseherisch wahrnehmen den Christus, ist immer möglich gewesen. Aber ihm zu begegnen, weil er jetzt anders zur Menschheit steht, nämlich so, dass er einem von der Ätherwelt aus hilft, das ist etwas, was (…) eine von unserer hellseherischen Entwicklung unabhängige Tatsache ist. Vom zwanzigsten Jahrhundert an, in den nächsten dreitausend Jahren werden gewisse Menschen ihm begegnen können, ihm objektiv als ätherischer Gestalt dann begegnen.“[3]



[1]  Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit, Ga 130 (Taschenbuchausgabe 2001, S 20f)
[2] Tom Segev, David Ben Gurion – Ein Staat um jeden Preis,, Siedler Verlag, München 2018, S 15
[3] A.a.O. S 23f

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