Ich wende mich wieder dem Text
von Peter Becker zu, dessen Hauptgedanken mich in der Tiefe berühren, 50 Jahre
nach seiner Entstehung. Jetzt erst fühle ich mich reif, um ihn zu verstehen und
in mich aufzunehmen – voller Dankbarkeit gegenüber meinem verehrten Lehrer, zu
dem ich leider den äußeren Kontakt verloren habe (durch die Arbeit an seinem
Text versuche ich zumindest den geistigen Kontakt zu pflegen).
Peter Becker fährt fort:
„Nun nimmt sie also mit Thibon
das Gebet des Herrn Wort für Wort durch – und führt ihn so zugleich ins
Griechische des Neuen Testaments ein. Die beiden versprachen sich – es war im
Sommer 1941 – das Gelernte jeweils sich auswendig einzuprägen. Nun folgt die
mystische Erfahrung: als sie einige Wochen später im Evangelium blätterte, in
das sie sich immer mehr vertieft hatte – da ‚hat die unendliche Süßigkeit
dieses griechischen Textes (des Vaterunsers) mich derart ergriffen, dass ich
einige Tage lang nicht umhin konnte, ihn mir unaufhörlich zu wiederholen‘. Eine
Woche später begann sie als Winzerin auf den Gärten des Weinbauers Rieux in St.
Julien de Peyrolas im Tal der wildverschlungenen Ardeche bei der Weinlese
mitzuarbeiten. Unter den Weinstöcken liegend rezitierte sie beim
Traubenschneiden (sie konnte sich bückend nicht mehr aufrecht halten) den
heiligen griechischen Text – und von da an sprach sie Morgen für Morgen vor
Arbeitsbeginn mit ‚unbedingter Aufmerksamkeit‘ (avec une attention absolue).
Sie erfährt die außerordentliche Kraft dieser Übung – ‚sie übertrifft jedes Mal
meine Erwartung‘. Was geschieht ihr, der leidenden Arbeiterin, die von echt
jüdischer Glut des Glaubens erfüllt ist?“
Es berührt mich, dass es
ausgerechnet eine Jüdin ist, die solche Erfahrungen machen darf. Gestern erfuhr
ich bei einer Betrachtung zur „Wiederkunft Christi“ nach der
Menschenweihehandlung, dass in der "Offenbarung" (Apok. 1, 7) steht, dass unter den Menschen, die
den ätherischen Christus sehen werden (auf Wolken wiederkommend) auch diejenigen
sein werden, die ihn „durchstochen“ haben. Damit können nur die Juden gemeint
sein, die einst vor Pilatus gerufen haben: „Kreuzige ihn!“ In einer früheren
„Betrachtung“ habe ich erfahren, dass man den Ausruf der Juden „Sein Blut komme
über uns und über unsere Kinder“ auch so verstehen kann, dass der Christus auch
ihnen „vergibt“, denn sie wussten nicht, was sie taten. Jesus von Nazareth musste ja sterben. Es musste folglich Menschen
geben, die diese Tat zur Erlösung der ganzen Menschheit auslösten. Durch das
Blut, das auf Golgatha vom Kreuze floss, sind nun auch die, die ihn
„durchstochen“ haben, erlöst und werden ihn schauen, auf Wolken kommend, so wie
es Simone Weil widerfahren ist.
Wenn Peter Becker in seinem Text
erzählt, wie die jüdische Winzerin unter den Weinstöcken der Ardeche liegt, um
die Trauben zu lesen, dann kann ich mir vorstellen, wie der „Wein“ auf ihr
Gesicht und ihren ganzen Körper tröpfelt. Der Wein ist ja in der Eucharistie
das Symbol für Christi Blut.
Der Text von Peter Becker geht
weiter:
„Mitunter reißen schon die ersten
Worte meinen Geist aus meinem Leibe los und versetzen ihn an einen Ort
außerhalb des Leibes und des Raumes, wo es weder Perspektive noch Blickpunkt
gibt. Der Raum tut sich auf. Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer
Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten oder manchmal auch dritten
Grades. Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich
allenthalben mit Schweigen, das nicht Abwesenheit von Klang und Ton ist,
sondern vielmehr Gegenstand einer positiven Erfahrung, sehr viel positiver und
wirklicher als die eines Klanges. Geräusche, wenn welche da sind, erreichen
mich erst, nachdem sie durch dieses Schweigen hindurchgegangen sind.“
So beschreibt eine
naturwissenschaftlich geschulte Intellektuelle sehr exakt ihre mystische
Erfahrung. Das erinnert mich an die Beschreibung der Sphärenharmonien von
Johannes Kepler, aber auch an den Klang-Äther, von dem Rudolf Steiner beim
Aufstieg der Seele in höhere Welten bei der Schulung spricht. Erst gestern las
ich darüber in seinem Mailänder Vortrag vom 21. September 1911 (GA 130):
„In unserer Kulturepoche, der
fünften, die bis in das vierte Jahrtausend dauern wird, werden die Seelen
allmählich geeignet sein, die Christus-Wesenheit auf dem astralischen Plan zu
erleben, und auf dem Astralplan wird die Christus-Wesenheit schon in unserer
Epoche vom zwanzigsten Jahrhundert ab in einer Äthergestalt so für die Menschen
sichtbar werden, wie sie in der vierten Epoche auf dem physischen Plan in einer
physischen Gestalt sichtbar war.“
Wenn Simone Weil von der
Unendlichkeit außerhalb der Unendlichkeit des Raumes spricht und dann sogar
noch zwischen einer Unendlichkeit ersten Grades und einer Unendlichkeit zweiten
Grades unterscheidet, so kann man diese Erlebnisse besser verstehen, wenn man
Rudolf Steiners Angaben zu den „höheren Plänen“ zur Hilfe nimmt. Der uns am
nächsten stehende übersinnliche Plan ist der Astralplan, der unmittelbar an die
physische Welt angrenzt. Ich denke, bei Ohnmachten oder im Traum erreichen wir
diesen „Plan“. Darüber gibt es jedoch noch weitere „Dimensionen“. Rudolf
Steiner nennt sie in guter theosophischer Tradition, die im Prinzip auf die Geistigkeit
des Hinduismus zurückgeht, das „untere Devachan“ und das „obere Devachan“. Er
sagt voraus, dass die Menschen, welche in der fünften Kulturepoche den
ätherischen Christus auf dem „Astralplan“ wahrnehmen, ihn in der sechsten
Kulturepoche auf dem Plan des unteren, in der siebten auf dem Plan des oberen
Devachan erleben können werden. Simone Weil spricht von einer Unendlichkeit
„zweiten und dritten Grades“. Sie meint damit vermutlich nichts anderes als
diese höheren Ebenen, von denen der Geistesforscher Kenntnis hat.
Rudolf Steiner fährt fort:
„Um nun diese ganze folgende
Kulturentwickelung, in die unsere Seelen hineinsteuern, zu verstehen, ist es
gut, dass wir nun tiefer auf die Eigentümlichkeiten unserer Seele in den
folgenden Inkarnationen eingehen. Heute, in unserer intellektuelleren Periode,
stehen für alle Seelen Intellektualität und Moralität ziemlich nebeneinander.
Es kann heute jemand ein sehr kluger Mensch sein und dabei unmoralisch,
umgekehrt kann man sehr moralisch sein und gar nicht klug.“
Das ist eine zentrale Aussage,
die ich immer wieder bestätigt finde. In anthroposophischen Einrichtungen von
Behinderten bin ich oft auf Menschen gestoßen, die intellektuell nicht auf der
Höhe, aber moralisch absolut integer sind, zum Beispiel Anita. Umgekehrt habe
ich viele schlaue Menschen getroffen, die intellektuell fit sind, aber in ihrem
Leben nicht umsetzten, was sie theoretisch postulieren. Dazu gehören für mich
all diejenigen, die „theoretisch“ die Flüchtlinge willkommen heißen, aber nicht
bereit sind, einen von ihnen bei sich aufzunehmen. Menschen, die schon heute
beide Eigenschaften vereinen, gibt es allerdings auch. So kenne ich einige Frauen
aus dem Freundeskreis Asyl, die sich engagiert um einzelne Flüchtlinge kümmern.
Der evangelische Pfarrer Peter Becker gehörte ebenfalls dazu, und in noch viel
größerem Maße die jüdische Philosophin Simone Weil, die er so bewundert, weil
sie eine Seelenverwandte ist.
Rudolf Steiner fährt fort:
„In der vierten Kulturepoche hat
ein Volk prophetisch herankommen sehen dieses Nebeneinanderstehen von Moralität
und Intellektualität, und dieses Volk ist das althebräische Volk. Daher suchten
die Glieder des alten hebräischen Volkes eine künstliche Harmonie herzustellen
zwischen Moralität und Intellektualität, während zum Beispiel bei den Griechen
eine mehr natürliche Harmonie dazumal bestand. Wir können heute aus den
Dokumenten der Akasha-Chronik erkennen, wie die Führer des althebräischen
Volkes diese Harmonie zwischen Moralität und Intellektualität herzustellen
suchten. Sie hatten Symbole, die sie so genau kannten, dass, wenn sie diese
Symbole in einer gewissen Weise anschauten und auf sich wirken ließen, eine
gewisse Harmonie zwischen dem, was gut, was moralisch und was weise ist,
hergestellt werden konnte. Diese Symbole trugen die priesterlichen Führer des
althebräischen Volkes an der Brust. Das Symbolum für die Moralität hieß Urim,
das Symbolum für die Weisheit Tummim.“
Bei Simone Weil wirkten die
zweimal drei Bitten des Vaterunsers[1], von
denen wir später hören werden, wie diese nach innen gekehrten Symbole Urim und
Tummim.
Der Text von Peter Becker geht
weiter:
„Durch das distanzierende
Schweigen hindurch tritt der Christus auf sein Kind zu: ‚Mitunter auch ist
während des Aufsagens der Christus in Person anwesend, jedoch mit einer viel
wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes
erste Mal, da er mich ergriffen hat.‘ Dies ist, was sie P. Perrin anvertraut –
in der Ahnung ihres baldigen Todes (der nur wenig mehr als ein Jahr noch auf
sich warten lassen sollte). ‚Dann schließlich‘, fügt sie gleichsam
entschuldigend hinzu, ‚handelt es sich bei alledem nicht um mich. Es handelt
sich nur um Gott. Ich habe keinen Teil daran.‘ Sie empfindet sich als Abfall,
als missratenes Tongefäß, als Auskehricht und Ausschussware, als
verschimmelndes Brot und hinwelkendes Laub, gar wie ein Insekt, das infolge
seiner Mimikry von dem umgebenden Laub gar nicht mehr unterschieden werden kann.
Vor Gott, der göttlichen Gegenwart des Christus, ist sie nichts. Sie ist weniger
als der Sklave, der nur tut, was seine Schuldigkeit ist.“
(Ende zweite Seite)
[1] Simone Weil
kennt nur sechs Bitten. In Wirklichkeit sind es aber sieben, wenn man die beiden
letzten trennt: „Führe uns in der Versuchung“ (6) und „Erlöse uns vom Bösen“ (7).
Simone Weil trennt hier nicht. Für sie gehören die beiden Bitten zusammen. So kommt
sie zu ihrer Sicht, die zweimal sechs Bitten umfasst und damit die zwei Dreiecke
des Hexagramms symbolisch nachzeichnet. Darauf werde ich später noch genauer eingehen.
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