Lena putzt bei mir und ich räume auf.
Obwohl ich noch nicht ganz fertig bin – Lena hat mehr Ausdauer als ich –
schreibe ich jetzt Tagebuch. Ich muss einfach berichten, was gestern in Bayern
geschehen ist. Es war Landtagswahl und die seit 60 Jahren allein regierende
Schwesterpartei der CDU, die CSU hat die absolute Mehrheit verloren. Sie hat
über 10 % der Stimmen im Vergleich zur letzten Landtagswahl eingebüßt. Noch mehr
aber hat die SPD verloren: - 11,3; Gewinner sind die Grünen mit 17, 8 % der
Stimmen (+ 9,2) und die AfD, die aus dem Stand mit 10,3 % der Stimmen nun viertstärkste Kraft im Münchner Landtag sein wird.
Der Spiegel titelte wohl nicht ohne
Hintergedanken in seiner neuesten Ausgabe (Nr. 42 vom 13.10.2018) „Revolution –
Warum die Deutschen so oft scheitern“
Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit zählt in
seiner Titelgeschichte insbesondere die Verdienste der SPD auf, die Deutschland
vor hundert Jahren vor einer kommunistischen Räterepublik nach dem Modell
Lenins und Trotzkis bewahrte. Er schreibt:
„Immerhin bildet die SPD am 10.
November mit der USPD eine Regierung, den ‚Rat der Volksbeauftragten‘.
Vorsitzender ist Ebert. Die kontrollierende Macht liegt bei den Arbeiter und
Soldatenräten.
Am Abend dieses Tages telefoniert
Ebert mit Generalleutnant Wilhelm Groener, einem der Köpfe der Obersten
Heeresleitung. Groener hat später behauptet, die beiden Männer hätten ein
‚Bündnis‘ beschlossen. Das Offizierskorps verhalte sich loyal, wenn Ebert den
Bolschewismus bekämpfe, also das Rätewesen. Ebert hat das nicht bestätigt, und
wahrscheinlich hat Groener übertrieben. Aber tatsächlich fährt Ebert nun eine
Doppelstrategie. Einerseits kooperiert er mit den Räten, andererseits mit dem
Militär, von dem er sich das verspricht, was ihm als gutem Deutschen so sehr am
Herzen liegt: Stabilität[1]. ‚Ich
hasse sie wie die Sünde‘, soll Ebert über die Revolution gesagt haben.
Er will in Wahrheit keine
Räterepublik, sondern eilig eine Nationalversammlung wählen lassen, die den Weg
für eine parlamentarische Demokratie ebnen soll. Am 13. Dezember sagte er: ‚Das
Herum- und Hineinregieren der Arbeiter- und Soldatenräte muss aufhören.‘ Am 29.
Dezember verlässt die USPD den Rat der Volksbeauftragten. Die SPD regiert
allein weiter.
Sie ist getrieben von einer Angst, der
Angst vor russischen Verhältnissen. Im Jahre zuvor hatte die Oktoberrevolution
ein Rätesystem etabliert, seitdem herrschen Anarchie und Bürgerkrieg. Ebert
sagt: ‚Wer die Dinge in Russland erlebt hat, der kann im Interesse des
Proletariats nicht wünschen, dass eine solche Entwicklung bei uns eintritt.‘
Im Januar 1919 scheint auch
Deutschland in den Bürgerkrieg zu kippen. Die Regierung will den Berliner
Polizeipräsidenten entlassen, Emil Eichhorn von der USPD. Seine Partei und der
noch radikalere Spartakusbund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg rufen zur
Demonstration auf dem Alexanderplatz auf. Hunderttausende kommen, der Beginn
des sogenannten Spartakusaufstands. ‚Alle Macht den Räten!‘ fordert Liebknecht.
Linke kämpfen gegen Linke, die SPD
stützt sich dabei auf rechtsradikale Freikorps ehemaliger Frontsoldaten.
Hunderte sterben. Am 15. Januar ermorden Freikorpssoldaten Liebknecht und
Luxemburg. ‚Angewidert‘, notiert Thomas Mann in seinem Tagebuch.
Der Mann fürs Grobe bei der SPD ist
Gustav Noske, der von sich gesagt hat: ‚Einer muss der Bluthund werden.‘ Den
gibt er dann auch in Bayern. Dort hat sich im April 1919 eine Räterepublik
gegründet. Noske lässt sie mithilfe von Freikorps und Reichswehr brutal
niederschlagen.
Nach vielen Streiks und blutigen
Kämpfen setzt sich die SPD durch. Bei der Wahl zur verfassungsgebenden
Nationalversammlung am 19. Januar 1919 wird sie mit Abstand stärkste Partei,
37,9 Prozent. Weil die linke
Arbeiterschaft immer noch in Berlin rumort, versammeln sich die Abgeordneten im
Deutschen Nationaltheater in Weimar. Sie wählen Ebert zum Reichspräsidenten,
Scheidemann zum Reichskanzler.
(…)
Man weiß nicht, was aus einer
deutschen Räterepublik geworden wäre. Es gibt auch die Lesart, dass die SPD mit
ihrer Politik einen großen Bürgerkrieg verhindert habe, in den sich
eventuell Russland zugunsten der Räte
eingemischt hätte.“
Wie knapp damals, also vor ziemlich
genau 100 Jahren, das deutsche Volk einer bolschewistischen Machtübernahme mit
vielen Millionen Toten, Konzentrationslagern und antichristlichen
Ausschreitungen entgangen war, kann man sich kaum vorstellen. Karl Liebknecht
und Rosa Luxemburg spielten damals bei den fanatisierten Massen der Arbeiter
eine ähnliche Rolle wie Lenin und Trotzki in Russland. Mit ihren
hypnotisierenden Reden brachten letztere diejenigen Teile der Arbeiterschaft
auf ihre Seite, die am unempfindlichsten gegenüber ihren Mitmenschen waren und
später, angestachelt von den Bolschewiken, auf den größten „Raubmordzug der
Geschichte“ gingen. Dabei darf man nicht vergessen, dass diese aufgehetzten Menschen in Russland nur eine Minderheit waren, die aber durch Mord und Gewalt
zu allem entschlossen waren und nur durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen waren.
Genauso war der Spartakusbund zu allem
entschlossen. Nur durch die Ermordung der charismatischen
Führungspersönlichkeiten entging Deutschland der verheerenden „Diktatur des
Proletariats", welche Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg anstrebten, auch wenn
letztere in ihrem Denken und Handeln nicht ganz so fanatisch und brutal wie Leo
Trotzki gewesen sein mochten.
In der ganzen Spiegel-Titelgeschichte
beklagt der Autor die deutsche Zögerlichkeit. Er zitiert am Anfang seines
Essays ein Bonmot, das Lenin zugeschrieben wird: „Revolution in Deutschland?
Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen
sie sich noch eine Bahnsteigkarte.“
Kurbjuweit hätte sich vermutlich mehr
Entschlossenheit der Revolutionäre im Sinne des Spartakusbundes gewünscht. So
bekennt er sich – ohne es ausdrücklich zu sagen – zu den Bolschewisten, die
nicht so „zahm“ und zimperlich, sondern auch bereit waren, über Leichen zu
gehen.
Dass dies in Deutschland nicht
funktionierte, ist nicht nur der deutschen „Anständigkeit“, die Lenin
ironisiert, sondern vor allem auch der deutschen Kultur geschuldet, die in den damals
etwa 100 Jahren seit der Weimarer Klassik immerhin eine starke bürgerliche
Mitte für sich gewonnen hatte. Es erscheint mir deshalb kein Zufall, dass
ausgerechnet die deutsche „Hauptstadt
des Geistes“ zum Sitz der Weimarer Nationalversammlung auserwählt wurde.
Leider waren die Deutschen in der Weimarer
Republik noch nicht reif für die errungenen Freiheiten. Viele zogen es vor,
sich zu vergnügen, anstatt sich zu bilden. Immerhin gab es damals bereits eine
geistige Alternative zum Marxismus, die an den Name Goethes gebunden war. In
Dornach stand der Bau der neuen Geisteswissenschaft, das Goetheanum.
Aber die tragische Geschichte der
anthroposophischen Gesellschaft, deren wichtigste Mitglieder nach dem Tod
Rudolf Steiners so hilflos waren, dass sie alles vergaßen, was ihnen der
Meister zu vermitteln versucht hatte, ist wie ein schicksalhaftes Zeichen, das
anzeigt, dass auf den unsicheren Anfang der Demokratie die Diktatur Adolf
Hitlers folgen musste, um dieses Volk nach der Apokalypse des Zweiten Weltkriegs
und dem Nürnberger „Weltgericht“ in die richtige Richtung zu führen.
Adolf Hitler und die Nationalsozialisten
bezogen einen großen Teil ihrer menschenverachtenden Ideologie aus den Ereignissen der Zeit vom
November 1918 bis Januar 1919, als die kommunistischen Bolschewisten Deutschland
bedrohten. Den 9. November 1918, an dem die deutsche Republik ausgerufen wurde,
hielten die Nazis für eine „Lumpen- und Judenrevolte“, schreibt Kurt Kurbjuweit.
So wählten sie diesen Schicksalstag der deutschen Geschichte im Jahre 1923 zu
einer eigenen Revolte, zum sogenannten „Kapp-Putsch“ und inszenierten im Jahre 1938
in Erinnerung an 1918 die sogenannte Reichspogromnacht.
Der Antisemitismus der
Nationalsozialisten hatte seine Wurzeln in den Revolutionen, durch die jüdische Ideologen im Anschluss an Karl Marx ein materialistisches Paradies auf Erden errichten wollten. Ihnen ist
es nicht gelungen. Aber die gleichen Kreise hatten noch einen Plan B in der Tasche:
das kapitalistische Paradies im Sinne von Milton Friedman, in dem wir heute leben dürfen und das die Erde langsam
zerstört.
Bayern ist mit BMW, Siemens und Allianz
das wirtschaftlich stärkste Bundesland Deutschlands.
Dass die Grünen so hoch gewonnen haben,
zeigt an, dass es viele Bürger gibt, die für ein Erhalten der Natur eintreten. Ob
sie sich aber dessen bewusst sind, dass es der Neoliberalismus ist, der durch seine
Wachstumsideologie immer mehr Ressourcen verzehrt und immer mehr Müll produziert,
ist mir dabei noch nicht klar.
Zu hoffen wäre es.
[1] Auch der
bayrische Ministerpräsident hat gestern Abend in den Interviews nach der ersten
Bekanntgabe der (vorläufigen) Wahlergebnisse immer wieder von „Stabilität“
gesprochen, weswegen er auch in einer Koalitionsregierung Ministerpräsident von
Bayern bleiben würde.
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