Montag, 15. Oktober 2018

Grün siegt - Rot verliert - Anmerkungen zur Landtagswahl in Bayern am 14. September 2018


Lena putzt bei mir und ich räume auf. Obwohl ich noch nicht ganz fertig bin – Lena hat mehr Ausdauer als ich – schreibe ich jetzt Tagebuch. Ich muss einfach berichten, was gestern in Bayern geschehen ist. Es war Landtagswahl und die seit 60 Jahren allein regierende Schwesterpartei der CDU, die CSU hat die absolute Mehrheit verloren. Sie hat über 10 % der Stimmen im Vergleich zur letzten Landtagswahl eingebüßt. Noch mehr aber hat die SPD verloren: - 11,3; Gewinner sind die Grünen mit 17, 8 % der Stimmen (+ 9,2) und die AfD, die aus dem Stand mit 10,3 % der Stimmen nun viertstärkste Kraft im Münchner Landtag sein wird.
Der Spiegel titelte wohl nicht ohne Hintergedanken in seiner neuesten Ausgabe (Nr. 42 vom 13.10.2018) „Revolution – Warum die Deutschen so oft scheitern“
Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit zählt in seiner Titelgeschichte insbesondere die Verdienste der SPD auf, die Deutschland vor hundert Jahren vor einer kommunistischen Räterepublik nach dem Modell Lenins und Trotzkis bewahrte. Er schreibt:
„Immerhin bildet die SPD am 10. November mit der USPD eine Regierung, den ‚Rat der Volksbeauftragten‘. Vorsitzender ist Ebert. Die kontrollierende Macht liegt bei den Arbeiter und Soldatenräten.
Am Abend dieses Tages telefoniert Ebert mit Generalleutnant Wilhelm Groener, einem der Köpfe der Obersten Heeresleitung. Groener hat später behauptet, die beiden Männer hätten ein ‚Bündnis‘ beschlossen. Das Offizierskorps verhalte sich loyal, wenn Ebert den Bolschewismus bekämpfe, also das Rätewesen. Ebert hat das nicht bestätigt, und wahrscheinlich hat Groener übertrieben. Aber tatsächlich fährt Ebert nun eine Doppelstrategie. Einerseits kooperiert er mit den Räten, andererseits mit dem Militär, von dem er sich das verspricht, was ihm als gutem Deutschen so sehr am Herzen liegt: Stabilität[1]. ‚Ich hasse sie wie die Sünde‘, soll Ebert über die Revolution gesagt haben.
Er will in Wahrheit keine Räterepublik, sondern eilig eine Nationalversammlung wählen lassen, die den Weg für eine parlamentarische Demokratie ebnen soll. Am 13. Dezember sagte er: ‚Das Herum- und Hineinregieren der Arbeiter- und Soldatenräte muss aufhören.‘ Am 29. Dezember verlässt die USPD den Rat der Volksbeauftragten. Die SPD regiert allein weiter.
Sie ist getrieben von einer Angst, der Angst vor russischen Verhältnissen. Im Jahre zuvor hatte die Oktoberrevolution ein Rätesystem etabliert, seitdem herrschen Anarchie und Bürgerkrieg. Ebert sagt: ‚Wer die Dinge in Russland erlebt hat, der kann im Interesse des Proletariats nicht wünschen, dass eine solche Entwicklung bei uns eintritt.‘
Im Januar 1919 scheint auch Deutschland in den Bürgerkrieg zu kippen. Die Regierung will den Berliner Polizeipräsidenten entlassen, Emil Eichhorn von der USPD. Seine Partei und der noch radikalere Spartakusbund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg rufen zur Demonstration auf dem Alexanderplatz auf. Hunderttausende kommen, der Beginn des sogenannten Spartakusaufstands. ‚Alle Macht den Räten!‘ fordert Liebknecht.
Linke kämpfen gegen Linke, die SPD stützt sich dabei auf rechtsradikale Freikorps ehemaliger Frontsoldaten. Hunderte sterben. Am 15. Januar ermorden Freikorpssoldaten Liebknecht und Luxemburg. ‚Angewidert‘, notiert Thomas Mann in seinem Tagebuch.
Der Mann fürs Grobe bei der SPD ist Gustav Noske, der von sich gesagt hat: ‚Einer muss der Bluthund werden.‘ Den gibt er dann auch in Bayern. Dort hat sich im April 1919 eine Räterepublik gegründet. Noske lässt sie mithilfe von Freikorps und Reichswehr brutal niederschlagen.
Nach vielen Streiks und blutigen Kämpfen setzt sich die SPD durch. Bei der Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 wird sie mit Abstand stärkste Partei, 37,9  Prozent. Weil die linke Arbeiterschaft immer noch in Berlin rumort, versammeln sich die Abgeordneten im Deutschen Nationaltheater in Weimar. Sie wählen Ebert zum Reichspräsidenten, Scheidemann zum Reichskanzler.
(…)
Man weiß nicht, was aus einer deutschen Räterepublik geworden wäre. Es gibt auch die Lesart, dass die SPD mit ihrer Politik einen großen Bürgerkrieg verhindert habe, in den sich eventuell  Russland zugunsten der Räte eingemischt hätte.“
Wie knapp damals, also vor ziemlich genau 100 Jahren, das deutsche Volk einer bolschewistischen Machtübernahme mit vielen Millionen Toten, Konzentrationslagern und antichristlichen Ausschreitungen entgangen war, kann man sich kaum vorstellen. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg spielten damals bei den fanatisierten Massen der Arbeiter eine ähnliche Rolle wie Lenin und Trotzki in Russland. Mit ihren hypnotisierenden Reden brachten letztere diejenigen Teile der Arbeiterschaft auf ihre Seite, die am unempfindlichsten gegenüber ihren Mitmenschen waren und später, angestachelt von den Bolschewiken, auf den größten „Raubmordzug der Geschichte“ gingen. Dabei darf man nicht vergessen, dass diese aufgehetzten Menschen in Russland nur eine Minderheit waren, die aber durch Mord und Gewalt zu allem entschlossen waren und nur durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen waren.
Genauso war der Spartakusbund zu allem entschlossen. Nur durch die Ermordung der charismatischen Führungspersönlichkeiten entging Deutschland der verheerenden „Diktatur des Proletariats", welche Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg anstrebten, auch wenn letztere in ihrem Denken und Handeln nicht ganz so fanatisch und brutal wie Leo Trotzki gewesen sein mochten.
In der ganzen Spiegel-Titelgeschichte beklagt der Autor die deutsche Zögerlichkeit. Er zitiert am Anfang seines Essays ein Bonmot, das Lenin zugeschrieben wird: „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie sich noch eine Bahnsteigkarte.“
Kurbjuweit hätte sich vermutlich mehr Entschlossenheit der Revolutionäre im Sinne des Spartakusbundes gewünscht. So bekennt er sich – ohne es ausdrücklich zu sagen – zu den Bolschewisten, die nicht so „zahm“ und zimperlich, sondern auch bereit waren, über Leichen zu gehen.
Dass dies in Deutschland nicht funktionierte, ist nicht nur der deutschen „Anständigkeit“, die Lenin ironisiert, sondern vor allem auch der deutschen Kultur geschuldet, die in den damals etwa 100 Jahren seit der Weimarer Klassik immerhin eine starke bürgerliche Mitte für sich gewonnen hatte. Es erscheint mir deshalb kein Zufall, dass ausgerechnet die  deutsche „Hauptstadt des Geistes“ zum Sitz der Weimarer Nationalversammlung auserwählt wurde.
Leider waren die Deutschen in der Weimarer Republik noch nicht reif für die errungenen Freiheiten. Viele zogen es vor, sich zu vergnügen, anstatt sich zu bilden. Immerhin gab es damals bereits eine geistige Alternative zum Marxismus, die an den Name Goethes gebunden war. In Dornach stand der Bau der neuen Geisteswissenschaft, das Goetheanum.
Aber die tragische Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft, deren wichtigste Mitglieder nach dem Tod Rudolf Steiners so hilflos waren, dass sie alles vergaßen, was ihnen der Meister zu vermitteln versucht hatte, ist wie ein schicksalhaftes Zeichen, das anzeigt, dass auf den unsicheren Anfang der Demokratie die Diktatur Adolf Hitlers folgen musste, um dieses Volk nach der Apokalypse des Zweiten Weltkriegs und dem Nürnberger „Weltgericht“ in die richtige Richtung zu führen.
Adolf Hitler und die Nationalsozialisten bezogen einen großen Teil ihrer menschenverachtenden Ideologie aus den Ereignissen der Zeit vom November 1918 bis Januar 1919, als die kommunistischen Bolschewisten Deutschland bedrohten. Den 9. November 1918, an dem die deutsche Republik ausgerufen wurde, hielten die Nazis für eine „Lumpen- und Judenrevolte“, schreibt Kurt Kurbjuweit. So wählten sie diesen Schicksalstag der deutschen Geschichte im Jahre 1923 zu einer eigenen Revolte, zum sogenannten „Kapp-Putsch“ und inszenierten im Jahre 1938 in Erinnerung an 1918 die sogenannte Reichspogromnacht.
Der Antisemitismus der Nationalsozialisten hatte seine Wurzeln in den Revolutionen, durch die jüdische Ideologen im Anschluss an Karl Marx ein materialistisches  Paradies auf Erden errichten wollten. Ihnen ist es nicht gelungen. Aber die gleichen Kreise hatten noch einen Plan B in der Tasche: das kapitalistische Paradies im Sinne von Milton Friedman, in dem wir heute leben dürfen und das die Erde langsam zerstört.
Bayern ist mit BMW, Siemens und Allianz das wirtschaftlich stärkste Bundesland Deutschlands.
Dass die Grünen so hoch gewonnen haben, zeigt an, dass es viele Bürger gibt, die für ein Erhalten der Natur eintreten. Ob sie sich aber dessen bewusst sind, dass es der Neoliberalismus ist, der durch seine Wachstumsideologie immer mehr Ressourcen verzehrt und immer mehr Müll produziert, ist mir dabei noch nicht klar.
Zu hoffen wäre es.



[1] Auch der bayrische Ministerpräsident hat gestern Abend in den Interviews nach der ersten Bekanntgabe der (vorläufigen) Wahlergebnisse immer wieder von „Stabilität“ gesprochen, weswegen er auch in einer Koalitionsregierung Ministerpräsident von Bayern bleiben würde.

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