Gestern holte ich eine
Büchersendung, die ich mir über amazon schicken ließ, bei der Hauptpost in der Stadt ab. Neben dem Buch „Warum schweigen die Lämmer“ des emeritierten
Kieler Kognitionsforschers Rainer Mausfeld aus dem Frankfurter Westend-Verlag erhielt ich ein
Taschenbuch mit Vorträgen von Rudolf Steiner aus den Jahren 1917 und 1918, die
unter dem Titel „Der Tod als Lebenswandlung“ veröffentlicht wurden.
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich
die GA-Ausgabe 182 nicht schon habe, aber sie ist dann bei meiner Ex-Frau. Jedenfalls
sind in dem Bändchen zwei Vorträge enthalten, die mich seit langem begleiten,
und die ich als Einzelausgabe besitze: „Was tut der Engel in unserem Astralleib“[1], den Rudolf Steiner am 9. Oktober
1918, und der Vortrag „Wie finde ich den Christus?“, den er am 16. Oktober in
Zürich gehalten hat, also ziemlich genau vor 100 Jahren.
Gestern Abend las ich vor dem
Schlafengehen noch den ersten Vortrag aus dem Band, den Rudolf Steiner am 26. November
1917 in Bern hielt, also ziemlich genau einen Monat nach jenem Dornacher Vortrag
vom 26. Oktober 1917 über den „Sturz der Geister der Finsternis“, den ich auch
in meinem eigenen Vortrag im Sophianeum zitiert habe[2]. Vielleicht saß ja damals
auch Hermann Hesse, der mit seiner Frau Maria Bernoulli und seinen drei Söhnen zwischen
1912 und 1919 in einem Landhaus am Stadtrand von Bern lebte und bei der
deutschen Botschaft die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute,
im Publikum.[3]
Jedes Mal, wenn ich einen Vortrag
von Rudolf Steiner lese, bin ich erstaunt über den weiten geistigen Horizont,
der sich vor mir dabei auftut.
Mit einer bewunderungswürdigen
Sicherheit führt der Geisteswissenschaftler den Hörer, der nun zum Leser
geworden ist, in Welten ein, die ihm ansonsten unzugänglich sind. So spricht
Rudolf Steiner in dem Berner Zweigvortrag von dem Weg, den die Verstorbenen
nach dem Tod durch die geistige Welt nehmen. Dabei unterscheidet er zwischen solchen
Menschen, die in ihrem irdischen Leben geistige Impulse, und solchen, die nur die
Impulse des naturwissenschaftlichen Materialismus aufgenommen haben. Normalerweise
gelangen die Verstorbenen auf ihrer „Reise“ nach dem Tod zunächst in ein Reich,
in dem sie nur Lust und Leid empfinden, in dem Sympathien und Antipathien walten
(theosophisch ausgedrückt: das niedere Devachan). Danach gelangt die Seele in
ein „zweites Reich“, das dem Seelenleben der Tiere entspricht (theosophisch
ausgedrückt: das höhere Devachan). Gefühle und zu- und abnehmende
Willensregungen sind die Umgebung, in der sich die Seelen wiederfinden, so wie
sie sich im verkörperten Zustand in der mineralischen und pflanzlichen Welt bewegen.
Dabei spielen die Gefühle und Willensimpulse der gleichzeitig mit ihnen
Gestorbenen und ihre Beziehung zu
denjenigen Lebenden eine wichtige Rolle, die mit ihnen karmisch verbunden sind.
Alle anderen Menschen sind für sie unsichtbar.
Rudolf Steiner erläutert:
„Das ist sein zweites Reich. Und
während wir hier unsere Gefühle, unsere Empfindungen im Menschenleben
entfalten, lebt in diesem Leben seelenhaftig der Tote mit fort, und zwar so,
dass gerade jenes Fluten, das ich beschrieben habe als Stärker- und
Schwächerwerden des Willens, als Verstärkung und Ablähmung des Willens des
Toten, in einer gewissen Beziehung eins ist mit dem, was auf Erden hier als
Gefühle und Willensimpulse der sogenannten Lebendigen erträumt und erschlafen
wird.[4]
Sie sehen daraus, wie wenig
eigentlich das Reich der Toten von unserem Erdenreiche wirklich getrennt ist,
wie innige Verbindung zwischen diesen Reichen ist.[5] Wie gesagt, unter normalen
Verhältnissen wird der Tote nichts zu tun haben – mit den Ausnahmen, die ich
nachher besprechen werde – mit dem mineralischen und pflanzlichen Reiche; wohl
aber hat er zu tun mit dem, was im tierischen Reiche vorgeht. Das ist
gewissermaßen der Boden, auf dem er steht. Er hat aber zu tun mit dem, was im
menschlichen Gefühls- und Willensreiche vor sich geht. In diesem Reiche sind
wir von den Toten durchaus nicht getrennt. Aber die Sache ist so: Man kann,
wenn man durch die Pforte des Todes geht, indem man diese Verstärkungen und
Schwächungen des Willens erlebt, leben mit den sogenannten Lebendigen im
physischen Leibe; aber nicht mit allen, nicht mit irgendeinem. Sondern da ist
das bestimmte Gesetz, dass man leben kann nur mit denjenigen, mit denen man
irgendwie karmisch verknüpft ist. Also ein karmisch ganz Fremder, der hier
lebt, ist für einen Toten nicht wahrnehmbar, gar nicht vorhanden.“
Später führt Rudolf Steiner aus,
was mit jenen Menschen nach dem Tode geschieht, die im Leben zwischen Geburt
und Tod nur materialistisch-naturwissenschaftliche Impulse aufgenommen haben. Sie
bleiben stärker an die Erde, sprich: an das Mineral- und Pflanzenreich gebunden[6], als jene, die den
Christusimpuls aufgenommen haben.
Rudolf Steiner kommt nun zu dem
eigentlichen Ziel seines Berner Vortrages und führt aus:
„Nun handelt es sich aber darum:
Wie ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern ein Drinnenstehen in dem geistigen
Reiche zu finden, so dass wir nicht nur Natur finden? Denn in einer Natur
werden wir niemals den Christusimpuls finden. Wie ist das Sich-Hinein-Stellen
in das geistige Reich zu suchen, nicht nur das Wissen davon?“
Darum geht es Rudolf Steiner,
ausgesprochen oder unausgesprochen, in all seinen Vorträgen und Büchern: Er
will nicht, dass seine Geisteswissenschaft nur abstrakte Theorie bleibt,
sondern sie soll Lebenspraxis werden.
Er fährt fort:
„Nun, Sie erkennen schon aus dem,
was ich gesagt habe, dass zu dem Bewusstsein, das wirklich in der modernen und
namentlich in der zukünftigen Menschheit ein bloßes natürliches Bewusstsein
werden wird, ein Bewusstsein von Naturtatsachen, dass da ein anderes
Bewusstsein hinzutreten muss. Ein ganz anderes Bewusstsein muss noch
hinzutreten.“
Wenn dieses Bewusstsein nicht
hinzutritt, dann bleiben die Menschen, wie Rudolf Steiner zuvor ausgeführt hat,
an die Erde gebunden, insbesondere ans mineralische Reich, und werden sich auch
nach dem Tod insbesondere mit dem „Maschinenwesen“ verbinden. Diese Entwicklung
beschreibt der junge israelische Wissenschaftler Yuval Noah Harari (Jahrgang
1976), dessen Bücher gerade weltweit die Bestsellerlisten erstürmen, in seinem
zweiten Buch „Homo Deus – eine kurze Geschichte der Zukunft“[7] (2017). Hier schildert er den
„Aufstieg“ des Menschen in der Zukunft zu einer intelligenten Maschine, nachdem
er ihn in seiner „Kurzen Geschichte der
Menschheit“ (2013) ganz im Sinne von Darwins Deszendenztheorie als
intelligenten Affen (Erstes Kapitel: „Ein ziemlich unauffälliges Tier“) beginnen ließ.
Zurück zu Rudolf Steiners Berner
Vortrag:
„Für dieses Bewusstsein wird
gewissermaßen die Notwendigkeit der Erfassung des Mysteriums von Golgatha als
einer spirituellen Tatsache nur die höchste Spitze sein. Aber dasjenige, was
notwendig ist gegenüber dem Mysterium von Golgatha, die Sache als eine
spirituelle zu durchschauen, das wird auch auf das übrige Leben ausgedehnt
werden müssen. Das heißt aber nichts anderes, als dass eintreten muss in das
menschliche Bewusstsein, außer der reinen natürlichen Betrachtung, eine ganz
andere Betrachtung der Dinge.
Und diese Betrachtung der Dinge,
die wird kommen und muss kommen dadurch, dass der Mensch lernt, ebenso mit
Bewusstsein zu schauen in die Welt, wie er durch seine Sinneswahrnehmungen in
die Sinneswelt schaut, auf seinen Schicksalsverlauf im Großen und Kleinen.“
Und nun erläutert Rudolf Steiner,
wie wichtig es ist, immer mehr auf die Schicksalszusammenhänge im menschlichen
Leben zu achten.
Seitdem ich vor 52 Jahren
begonnen habe, Tagebuch zu schreiben, versuche ich, mein Schicksal zu studieren
und alle Begegnungen mit anderen Menschen zu verzeichnen. Bis heute staune ich
im Grunde jeden Tag darüber, wie intelligent dieses Schicksal geleitet wird. Natürlich
weiß ich noch nicht, von wem. Aber ich vermute, dass Rudolf Steiner recht hat,
wenn er dafür die Verstorbenen in ihrer engen Zusammenarbeit mit den
Engelshierarchien verantwortlich macht.
Wenn man diese Zusammenhänge
spürt, dann gewinnt man ein unbegrenztes Vertrauen in das eigene Leben und muss
vor nichts und niemandem mehr Angst haben.
[1]
Über diesen Vortrag habe ich im Jahre 1984 im Heidenheimer Rudolf-Steiner-Haus
gesprochen und dabei eine Zusammenfassung gegeben, die Rudolf Steiners Vortrag
von hinten her, also in einer Art Rückschau, „aufrollte“. Das wurde damals von
einigen gewichtigen Zweigmitgliedern gelobt. Die Mutter von Clown Nögge, die
auch im Publikum saß, sagte mir nach dem Vortrag einen Satz, den ich bis heute
nicht vergessen habe: „Sie werden eines Tages im Goetheanum Vorträge halten!“
[3]
Es mag sein, dass Hermann Hesse nicht in diesem Zweigvortrag war, sondern in
dem öffentlichen Vortrag vom 28. November 1917, den Rudolf Steiner an mehreren
Stellen erwähnt, der aber nicht in diesem Band veröffentlicht ist.
[4]
Rudolf Steiner führt an anderer Stelle aus, dass die Gefühle des Menschen schon
auf einer Stufe bewusst sind, die dem Traumleben entspricht, dass aber die
Willensimpulse so unbewusst sind, dass sie dem Tiefschlaf entsprechen.
[5]
Diese Verbindung macht Alfred Hitchcock, zum Thema seines Films „Vertigo“, der
im Deutschen den Titel „Aus dem Reich der Toten“ erhielt. Allerdings löst der
Jesuitenschüler seine Fabel am Ende im materialistischen Sinne auf und macht
aus den Beziehungen der Lebenden zu einer Toten die Machinationen eines
Verbrechers, wie ich in meiner Filmkritik vom 28.04 2016 beschrieben habe. Siehe
http://johannesws.blogspot.com/2016/04/alfred-hitchcock-und-das-christentum.html
[6]
Hierzu führt Rudolf Steiner im Jahre noch weitere geistige Tatsachen an, die Lorenzo
Ravaglio in seinem Anthroblog vom 25.10.2018 zitiert. Siehe: https://anthroblog.anthroweb.info/2018/1980-die-politik-okkulter-bruederschaften/
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