Samstag, 27. Oktober 2018

Schicksalsvertrauen - Gedanken zu einem Vortrag von Rudolf Steiner in Bern


Gestern holte ich eine Büchersendung, die ich mir über amazon schicken ließ, bei der Hauptpost in der Stadt ab. Neben dem Buch „Warum schweigen die Lämmer“ des emeritierten Kieler Kognitionsforschers Rainer Mausfeld aus dem  Frankfurter Westend-Verlag erhielt ich ein Taschenbuch mit Vorträgen von Rudolf Steiner aus den Jahren 1917 und 1918, die unter dem Titel „Der Tod als Lebenswandlung“ veröffentlicht wurden.
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich die GA-Ausgabe 182 nicht schon habe, aber sie ist dann bei meiner Ex-Frau. Jedenfalls sind in dem Bändchen zwei Vorträge enthalten, die mich seit langem begleiten, und die ich als Einzelausgabe besitze: „Was tut der Engel in unserem Astralleib“[1], den Rudolf Steiner am 9. Oktober 1918, und der Vortrag „Wie finde ich den Christus?“, den er am 16. Oktober in Zürich gehalten hat, also ziemlich genau vor 100 Jahren.
Gestern Abend las ich vor dem Schlafengehen noch den ersten Vortrag aus dem Band, den Rudolf Steiner am 26. November 1917 in Bern hielt, also ziemlich genau einen Monat nach jenem Dornacher Vortrag vom 26. Oktober 1917 über den „Sturz der Geister der Finsternis“, den ich auch in meinem eigenen Vortrag im Sophianeum zitiert habe[2]. Vielleicht saß ja damals auch Hermann Hesse, der mit seiner Frau Maria Bernoulli und seinen drei Söhnen zwischen 1912 und 1919 in einem Landhaus am Stadtrand von Bern lebte und bei der deutschen Botschaft die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute, im Publikum.[3]
Jedes Mal, wenn ich einen Vortrag von Rudolf Steiner lese, bin ich erstaunt über den weiten geistigen Horizont, der sich vor mir dabei auftut.
Mit einer bewunderungswürdigen Sicherheit führt der Geisteswissenschaftler den Hörer, der nun zum Leser geworden ist, in Welten ein, die ihm ansonsten unzugänglich sind. So spricht Rudolf Steiner in dem Berner Zweigvortrag von dem Weg, den die Verstorbenen nach dem Tod durch die geistige Welt nehmen. Dabei unterscheidet er zwischen solchen Menschen, die in ihrem irdischen Leben geistige Impulse, und solchen, die nur die Impulse des naturwissenschaftlichen Materialismus aufgenommen haben. Normalerweise gelangen die Verstorbenen auf ihrer „Reise“ nach dem Tod zunächst in ein Reich, in dem sie nur Lust und Leid empfinden, in dem Sympathien und Antipathien walten (theosophisch ausgedrückt: das niedere Devachan). Danach gelangt die Seele in ein „zweites Reich“, das dem Seelenleben der Tiere entspricht (theosophisch ausgedrückt: das höhere Devachan). Gefühle und zu- und abnehmende Willensregungen sind die Umgebung, in der sich die Seelen wiederfinden, so wie sie sich im verkörperten Zustand in der mineralischen und pflanzlichen Welt bewegen. Dabei spielen die Gefühle und Willensimpulse der gleichzeitig mit ihnen Gestorbenen und ihre Beziehung zu denjenigen Lebenden eine wichtige Rolle, die mit ihnen karmisch verbunden sind. Alle anderen Menschen sind für sie unsichtbar.
Rudolf Steiner erläutert:
„Das ist sein zweites Reich. Und während wir hier unsere Gefühle, unsere Empfindungen im Menschenleben entfalten, lebt in diesem Leben seelenhaftig der Tote mit fort, und zwar so, dass gerade jenes Fluten, das ich beschrieben habe als Stärker- und Schwächerwerden des Willens, als Verstärkung und Ablähmung des Willens des Toten, in einer gewissen Beziehung eins ist mit dem, was auf Erden hier als Gefühle und Willensimpulse der sogenannten Lebendigen erträumt und erschlafen wird.[4]
Sie sehen daraus, wie wenig eigentlich das Reich der Toten von unserem Erdenreiche wirklich getrennt ist, wie innige Verbindung zwischen diesen Reichen ist.[5] Wie gesagt, unter normalen Verhältnissen wird der Tote nichts zu tun haben – mit den Ausnahmen, die ich nachher besprechen werde – mit dem mineralischen und pflanzlichen Reiche; wohl aber hat er zu tun mit dem, was im tierischen Reiche vorgeht. Das ist gewissermaßen der Boden, auf dem er steht. Er hat aber zu tun mit dem, was im menschlichen Gefühls- und Willensreiche vor sich geht. In diesem Reiche sind wir von den Toten durchaus nicht getrennt. Aber die Sache ist so: Man kann, wenn man durch die Pforte des Todes geht, indem man diese Verstärkungen und Schwächungen des Willens erlebt, leben mit den sogenannten Lebendigen im physischen Leibe; aber nicht mit allen, nicht mit irgendeinem. Sondern da ist das bestimmte Gesetz, dass man leben kann nur mit denjenigen, mit denen man irgendwie karmisch verknüpft ist. Also ein karmisch ganz Fremder, der hier lebt, ist für einen Toten nicht wahrnehmbar, gar nicht vorhanden.“
Später führt Rudolf Steiner aus, was mit jenen Menschen nach dem Tode geschieht, die im Leben zwischen Geburt und Tod nur materialistisch-naturwissenschaftliche Impulse aufgenommen haben. Sie bleiben stärker an die Erde, sprich: an das Mineral- und Pflanzenreich gebunden[6], als jene, die den Christusimpuls aufgenommen haben.
Rudolf Steiner kommt nun zu dem eigentlichen Ziel seines Berner Vortrages und führt aus:
„Nun handelt es sich aber darum: Wie ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern ein Drinnenstehen in dem geistigen Reiche zu finden, so dass wir nicht nur Natur finden? Denn in einer Natur werden wir niemals den Christusimpuls finden. Wie ist das Sich-Hinein-Stellen in das geistige Reich zu suchen, nicht nur das Wissen davon?“
Darum geht es Rudolf Steiner, ausgesprochen oder unausgesprochen, in all seinen Vorträgen und Büchern: Er will nicht, dass seine Geisteswissenschaft nur abstrakte Theorie bleibt, sondern sie soll Lebenspraxis werden.
Er fährt fort:
„Nun, Sie erkennen schon aus dem, was ich gesagt habe, dass zu dem Bewusstsein, das wirklich in der modernen und namentlich in der zukünftigen Menschheit ein bloßes natürliches Bewusstsein werden wird, ein Bewusstsein von Naturtatsachen, dass da ein anderes Bewusstsein hinzutreten muss. Ein ganz anderes Bewusstsein muss noch hinzutreten.“
Wenn dieses Bewusstsein nicht hinzutritt, dann bleiben die Menschen, wie Rudolf Steiner zuvor ausgeführt hat, an die Erde gebunden, insbesondere ans mineralische Reich, und werden sich auch nach dem Tod insbesondere mit dem „Maschinenwesen“ verbinden. Diese Entwicklung beschreibt der junge israelische Wissenschaftler Yuval Noah Harari (Jahrgang 1976), dessen Bücher gerade weltweit die Bestsellerlisten erstürmen, in seinem zweiten Buch „Homo Deus – eine kurze Geschichte der Zukunft“[7] (2017). Hier schildert er den „Aufstieg“ des Menschen in der Zukunft zu einer intelligenten Maschine, nachdem er ihn in seiner  „Kurzen Geschichte der Menschheit“ (2013) ganz im Sinne von Darwins Deszendenztheorie als intelligenten Affen (Erstes Kapitel: „Ein ziemlich unauffälliges Tier“) beginnen ließ.
Zurück zu Rudolf Steiners Berner Vortrag:
„Für dieses Bewusstsein wird gewissermaßen die Notwendigkeit der Erfassung des Mysteriums von Golgatha als einer spirituellen Tatsache nur die höchste Spitze sein. Aber dasjenige, was notwendig ist gegenüber dem Mysterium von Golgatha, die Sache als eine spirituelle zu durchschauen, das wird auch auf das übrige Leben ausgedehnt werden müssen. Das heißt aber nichts anderes, als dass eintreten muss in das menschliche Bewusstsein, außer der reinen natürlichen Betrachtung, eine ganz andere Betrachtung der Dinge.
Und diese Betrachtung der Dinge, die wird kommen und muss kommen dadurch, dass der Mensch lernt, ebenso mit Bewusstsein zu schauen in die Welt, wie er durch seine Sinneswahrnehmungen in die Sinneswelt schaut, auf seinen Schicksalsverlauf im Großen und Kleinen.“
Und nun erläutert Rudolf Steiner, wie wichtig es ist, immer mehr auf die Schicksalszusammenhänge im menschlichen Leben zu achten.
Seitdem ich vor 52 Jahren begonnen habe, Tagebuch zu schreiben, versuche ich, mein Schicksal zu studieren und alle Begegnungen mit anderen Menschen zu verzeichnen. Bis heute staune ich im Grunde jeden Tag darüber, wie intelligent dieses Schicksal geleitet wird. Natürlich weiß ich noch nicht, von wem. Aber ich vermute, dass Rudolf Steiner recht hat, wenn er dafür die Verstorbenen in ihrer engen Zusammenarbeit mit den Engelshierarchien verantwortlich macht.
Wenn man diese Zusammenhänge spürt, dann gewinnt man ein unbegrenztes Vertrauen in das eigene Leben und muss vor nichts und niemandem mehr Angst haben.



[1] Über diesen Vortrag habe ich im Jahre 1984 im Heidenheimer Rudolf-Steiner-Haus gesprochen und dabei eine Zusammenfassung gegeben, die Rudolf Steiners Vortrag von hinten her, also in einer Art Rückschau, „aufrollte“. Das wurde damals von einigen gewichtigen Zweigmitgliedern gelobt. Die Mutter von Clown Nögge, die auch im Publikum saß, sagte mir nach dem Vortrag einen Satz, den ich bis heute nicht vergessen habe: „Sie werden eines Tages im Goetheanum Vorträge halten!“
[3] Es mag sein, dass Hermann Hesse nicht in diesem Zweigvortrag war, sondern in dem öffentlichen Vortrag vom 28. November 1917, den Rudolf Steiner an mehreren Stellen erwähnt, der aber nicht in diesem Band veröffentlicht ist.
[4] Rudolf Steiner führt an anderer Stelle aus, dass die Gefühle des Menschen schon auf einer Stufe bewusst sind, die dem Traumleben entspricht, dass aber die Willensimpulse so unbewusst sind, dass sie dem Tiefschlaf entsprechen.
[5] Diese Verbindung macht Alfred Hitchcock, zum Thema seines Films „Vertigo“, der im Deutschen den Titel „Aus dem Reich der Toten“ erhielt. Allerdings löst der Jesuitenschüler seine Fabel am Ende im materialistischen Sinne auf und macht aus den Beziehungen der Lebenden zu einer Toten die Machinationen eines Verbrechers, wie ich in meiner Filmkritik vom 28.04 2016 beschrieben habe. Siehe http://johannesws.blogspot.com/2016/04/alfred-hitchcock-und-das-christentum.html
[6] Hierzu führt Rudolf Steiner im Jahre noch weitere geistige Tatsachen an, die Lorenzo Ravaglio in seinem Anthroblog vom 25.10.2018 zitiert. Siehe: https://anthroblog.anthroweb.info/2018/1980-die-politik-okkulter-bruederschaften/

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