Auf Arte kam am Sonntag, den 10. November, ein
Porträt des Heiligen Martin, das versucht hat, das Leben des Heiligen anhand
der Vita des Sulpicius Severus und von Spielszenen zu veranschaulichen.[1] Immer
wieder erfahre ich durch solche Sendungen Neues.
Bei diesem Porträt erfuhr ich zum
Beispiel, welche Rolle die Stadt Trier auch im Leben des Heiligen Martin von
Tours spielte. Hier residierten einst der Kaiser Konstantin und seine Mutter
Helena, die beide so wichtig für das frühe Christentum waren. Auch eine zweite wichtige historische Gestalt begegnet
mir in dem Porträt: Julian, der später zum Kaiser Julian Apostata wurde, für den ich mich zu interessieren begann, als ich bei Emil Bock ("Rudolf-Steiner-Studien") gelesen hatte,
dass dieser „Abtrünnige“ in einem nächsten Leben Herzeloyde, die Mutter
Parzivals geworden ist. Martin gehört also in einen karmischen Zusammenhang,
der eng mit dem großen Sonnen-Eingeweihten Manu verbunden ist, der ja in
Parzival wiedererschien. Rudolf Steiner nennt den später als Astronom Tyho de
Brahe wiedergeborenen Kaiser Julian einmal einen engen „Ratgeber der
Menschheit“.
Die Mantelteilung am Stadttor von
Amiens ist jenes Ereignis im Leben des heiligen Martin, das bis heute sein
wahres Wesen offenbart und an vielen Orten Deutschlands und Österreichs
nachgespielt wird. Berührend ist, wie ihm der nackte Bettler, mit dem er seinen
Mantel geteilt hat, in der darauffolgenden Nacht (im Traum?) erscheint und ihm
offenbart, wer er in Wirklichkeit war: Christus.
Das erinnert mich an die Erscheinung
des geheimnisvollen „Alten“ im Leben von Udo Wieczorek, die auch Wolfgang
Gädeke in seinem Vortrag geschildert hat.
Die katholische Kirche gedenkt dieses
Heiligen, der als erster nicht den Märtyrertod, sondern hochbetagt in seinem
Kloster gestorben ist, am 11. November mit einem Text aus Matthäus, in dem es am Ende
heißt:
„Was ihr für einen meiner geringsten
Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matt. 25, 41)
Gestern Nachmittag erfuhr ich durch eine
SWR2-Sendung etwas mehr über den Termin des 11. November, den Tag des Heiligen
Martin: Der Tag war im mittelalterlichen Arbeitsjahr ein wichtiger Termin, denn
an diesem Tag wurden die Knechte und Bediensteten entlassen. Sie feierten das
Ende des Arbeitsjahres ausgiebig mit dem ausgezahlten Lohn. In diesem
Zusammenhang mussten viele Gänse ihr Leben lassen, denn sie waren schuld daran,
dass Martin, der sich in einem Gänsestall versteckt hatte, zum Bischof von
Tours ernannt wurde, was er gar nicht wollte. Sie haben den asketischen Gründer
des ersten Zönobiten-Klosters in Europa (in Marmoutiers bei Tours) „verraten“.
Mit dem 11. November begann im
Mittelalter auch eine vierzigtägige Fastenzeit vor Weihnachten, die heute
völlig vergessen ist. Dafür erinnern sich die Menschen in den
Karnevalshochburgen Düsseldorf und Köln noch heute lebhaft daran, dass am 11.
11. um 11.11 Uhr die „Fünfte Jahreszeit“, die närrische Zeit, beginnt, ja, sie
erinnern sich nicht nur daran, sondern sie feiern den Beginn lautstark und
ausgelassen. Es ist also genau umgekehrt wie bei der zweiten vierzigtägigen
Fastenzeit, die in der Nacht von Fastnachtdienstag auf Aschermittwoch beginnt
und bis Ostersonntag dauert. Eigentlich müsste, kirchlich gesehen, der 11.
November eine Art Fastnacht sein, nach der die eigentliche Fastenzeit einsetzt.
Vom 12. November, also von heute an, würde diese bis Weihnachten dauern, dem
Fest, an dem man wieder üppig speisen darf, eine Art christliches „Zuckerfest“,
wenn man an die vielen in der Adventszeit gebackenen Weihnachtsplätzchen und
Lebkuchenherzen denkt, die so sehr zu Deutschland gehören, dass sogar der junge
Michael Gorbatschow dieses Gebäck in positiver Weise mit den Deutschen verband,
wie er in einem Interview mit Regisseur Werner Herzog erzählte.
Dem Geschehen um den 11. November
liegt auch – wie ich gestern ebenfalls erfuhr – eine gewisse Zahlensymbolik zugrunde.
Die elf ist die Zahl des Narren. Sie ist um eins höher als die zehn, die mit
den zehn Geboten, und um eins niedriger als die 12, die mit den zwölf Aposteln
verbunden ist.
In diese „Lücke“ sprang im Mittelalter
der „Schalk“ ein, wie Mephisto in Goethes „Faust“ genannt wird, also der Narr.
Erst durch die Aufklärung bekam der Narr eine positive Funktion innerhalb der
Gesellschaft.
Im Mittelalter durfte sich der Hofnarr
zwar bereits (versteckte) Kritik am Herrscher erlauben, aber erst mit der
Französischen Revolution wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse wie im
Karneval von den Füßen auf den Kopf gestellt: Die Könige wurden abgesetzt, ja
sogar enthauptet, und die Bürger übernahmen die Regierung.
Das war der Beginn der demokratischen
Gesellschaft, auch wenn die neu gegründete Französische Republik im
nachfolgenden „Terreur“ zunächst einmal durch eine blutige Phase verlaufen
musste. Die Guillotine stellte die gesellschaftliche Gleichheit her, denn im Tode sind alle Menschen gleich. In der
Russischen Revolution wollte man noch einen Schritt weiter gehen. Nun sollten
die Arbeiter und Bauern, also der vierte Stand (das Proletariat) regieren. Die
erzwungene Brüderlichkeit kostete
Millionen Menschen das Leben. Mit der Mont-Pelerin-Gesellschaft, Milton Friedmann
und seinen Chicagoer Studenten kam nach dem Zweiten Weltkrieg der
Wirtschaftsliberalismus auf, der unter US-Präsident Ronald Reagan an der
Wallstreet und unter der britischen Premierministerin Margret Thatcher in der
City of London erste Triumphe feierte. Die Kluft zwischen Reich und Arm ging
immer weiter auseinander. Das dritte Ideal der Französischen Revolution, die Freiheit, war im Wirtschaftsleben an der
falschen Stelle, so wie die Brüderlichkeit
in den kommunistischen Staaten als staatliche Verordnung im Rechtsleben, und
die von der Aufklärung geforderte Gleichheit
der Menschen im Geistesleben an der falschen Stelle waren.
Seit der Aufklärung leben wir also in
einer „närrischen“ Gesellschaft, die nicht der zehn und nicht der 12, sondern
der elf verpflichtet ist, also Mephistopheles.
Der in Sabaria (heute Szombathelyi
oder Steinamanger)[2],
also wie Rudolf Steiner im Grenzgebiet zwischen dem späteren Ungarn und
Österreich geborene Martin von Tours war Soldat. In dieser Funktion sollte er
im Jahre 358 unter Julian von Trier aus gegen die Germanen bei Worms ziehen.
Das war nicht lange nach dem Ereignis von Amiens, Martin war gerade 18 Jahre
alt geworden und noch nicht zum Christentum übergetreten. Erst als er in der
späteren Stadt Worms, die durch Martin Luthers „Hier stehe ich und kann nicht
anders!“ berühmt geworden ist, vor Kaiser Julian getreten war, um mit dem
römischen Heer zu kämpfen, schaute er ihm in die Augen und sprach: „Bisher habe
ich dir gedient, jetzt diene ich Christus!“ Martin war also der erste
Kriegsdienstverweigerer. Das stimmt nicht ganz: er soll bereit gewesen sein,
ohne Waffen mitzuziehen. Da geschah das Wunder: die Schlacht fand gar nicht
statt, weil die Germanen Friedensverhandlungen anboten.
Es ist eine Ironie der Geschichte und
ein weiterer Beleg für die Narrheit unserer Politiker, dass ausgerecht einen
Tag nach Sankt Martin, am 12. November 1955, Deutschland mit der Bundeswehr
wieder eine Armee bekam – damals gegen den Willen vieler engagierter Bürger und
Politiker wie zum Beispiel Gustav Heinemann und Erhard Eppler. Adenauer ließ
die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im kleinen Kreis in einem
Zisterzienserkloster in der Eifel (Himmerod) vorbereiten und setzte sie
schließlich auf Betreiben der USA durch.
Nun finden heute, am 12. November nach
sechs Jahren Pause in sechs Städten wieder öffentliche Gelöbnisse statt,
die durch die neue Verteidigungsministerin angeordnet wurden. Es ist nicht nur
ein symbolträchtiger Tag, sondern auch ein symbolträchtiger Ort, wenn die zentralen
Gelöbnisse in Berlin zwischen dem Bundestag (Legislative) und dem Kanzleramt
(Exekutive) stattfinden, den Symbolen der bundesrepublikanischen Demokratie.
Es tut weh, das im Chor aus völlig
unmusikalischen Soldatenstimmen geradezu geschriene „Gelöbnis“ anzuhören.
Dieses Schreien verheißt im Zusammenhang mit den von Annegret Kramp-Karrenbauer
angekündigten Ausweitungen der Aufgaben der Bundeswehr im Sinne von
Ex-Bundespräsident Joachim Gauck nichts Gutes. Wenn ich die beiden Namen auf
mich wirken lasse, dann höre ich in den Seelentiefen zwei andere alte Namen:
„Krampus“, die Schreckgestalt im Gefolge des Heiligen Nikolaus, und „Gauckler“,
ein anderes Wort für Narr.
Der heilige Martin hat sich
entschieden, das Soldatentum in einer Zeit aufzugeben, als Ritterlichkeit und
Kampf noch eine andere Qualität hatten als heute. Er hat sich gegen den Kampf
und für die Nächstenliebe entschieden, ja, man kann sagen, für die
Brüderlichkeit im Sinne Christi, wie es bei Matthäus 25, 41 (siehe oben)
gemeint war.
In der Mathematik der Brüderlichkeit
bedeutet teilen nicht halbieren, sondern verdoppeln. Dadurch, dass der Krieger
Martin seinen Mantel geteilt hat, wurden zwei
Menschen gewärmt.
Die Botschaft der Martinsfeiern könnte
also, richtig verstanden, in den Kindern die Tugend der Brüderlichkeit
vertiefen. Leider wird diese in unserem neoliberalen Wirtschaftssystem von
vielen Familien nur noch als folkloristisches Accessoire, nicht aber als Ideal
für eine zukünftige Gesellschaft erlebt.
So könnte der heilige Martin, der Nationalheilige
Frankreichs, zum Vorbild einer zukünftigen Gesellschaft der Brüderlichkeit
werden, die in der sechsten nachatlantischen Kulturepoche in den östlichen
Völkern die Gesellschaft des Egoismus ablösen wird.
Bild: Simone Martini, Sankt Martin vor Kaiser Julian
[1] „Sankt
Martin, Soldat, Asket und Menschenfreund“ von Fritz Kalteis, Deutschland 2016.
Es heißt, der Heilige sei vor 1700 Jahren, also im Jahre 316 geboren. https://www.arte.tv/de/videos/062898-000-A/sankt-martin-soldat-asket-menschenfreund/
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