Freitag, 29. März 2019

Eine Begegnung mit einem wirklichen Vertreter des deutschen Volkes - Erhard Eppler


Bis heute habe ich gezögert, darüber zu schreiben; bis heute habe ich gewartet und darüber nachgedacht, was ich vor einer Woche erleben durfte. Nun will ich es wagen, darüber – wie immer – stammelnd zu schreiben:
Am vergangenen Freitag stellte der evangelische Theologe Paul Dieterich seine im Mai 2018 in zweiter Auflage erschienene umfangreiche Biographie Erhard Epplers[1] im Haller „Haus der Bildung“ vor.
Natürlich bin ich hingegangen.



Seitdem ich Erhard Epplers verhältnismäßig dünne Selbstbiographie „Links leben“ gelesen habe, interessiert mich dieser 1926 in Ulm geborene, in Schwäbisch Hall aufgewachsene und auf dem Haller Friedensberg wohnhafte SPD-Politiker noch mehr als früher, als ich ihn kurz nach 9/11 bereits einmal bei einem Vortrag mit anschließender Diskussion in unserem Ellwanger Gymnasium erleben durfte, wohin ihn Inge Barth-Grötzinger innerhalb ihrer Reihe „Erzählcafe“ eingeladen hatte.
Nun war der 92-jährige Patriarch von seinem Berg herabgestiegen und nahm neben dem 77-jährigen ehemaligen Dekan von Schwäbisch Hall und Prälat von Heilbronn, Paul Dieterich Platz. Auch diesen hervorragenden Theologen habe ich in meiner Funktion als Laienvorsitzender des Rechenberger Kirchengemeinderates (von 2001 – 2015) schon einmal persönlich kennenlernen dürfen.
In dem Raum sitzen etwa 60, meist ältere Menschen. Ich finde einen Platz in der zweiten Reihe zwischen dem ehemaligen Stadtrat Dr. Müller und Frau Colette Deutsch, der Witwe des Kunsthistorikers Wolfgang Deutsch, der insbesondere über Sankt Michael geforscht und veröffentlicht hat. Unmittelbar vor mir sitzen der SPD-Vorsitzende und Rechtsanwalt Nikolaos Sakellariou und der Redakteur des Haller Tagblatts Norbert Acker.
Eigentlich war der Abend als „Lesung“ angekündigt. Jedermann erwartete, dass Prälat Dieterich aus seinem in einer Miniauflage von nur 500 Exemplaren vom Nürtinger „Denkhaus-Verlag“ gedrucktem Buch vorlesen würde. Dann kam es aber ganz anders und der Abend wurde zu einem faszinierenden Dialog auf höchstem geistigem Niveau: Paul Dieterich, der für sein Buch 37 Tonbänder mit jeweils durchschnittlich zweistündigen Gesprächen, die er mit Erhard Eppler in den vergangenen Jahren führen konnte, ausgewertet hat, gab Erhard Eppler Stichwörter und stellte anhand der Biographie Fragen, beginnend mit der Mutter, auf die Erhard Eppler in leisem Ton und intellektuell brillant antwortete.
Das „Gespräch“ dauerte knapp zwei Stunden und es war vollkommen still im Raum; jedermann konzentrierte sich auf die Worte des feinsinnigen Menschen, der hier aus seinem Leben erzählte. Keine Spur von Hochmut war bei ihm zu erleben, sondern nur Bescheidenheit und Altersweisheit. Keine Polemik, keine Anklage. Nicht einmal die in das Dritte Reich verstrickten Menschen, die den 15-jährigen in die Waffen-SS holen wollten, erfuhren eine Abwertung. Sein Redestil war sachlich und ruhig und dabei immer von einer rhetorischen Brillanz, bei der der Zuhörer gespannt auf die Schlussformulierung wartete, in der es oft eine überraschende Wendung oder humorvolle Pointe gab.
Mir wurde klar, dass der Impuls, den dieser Politiker in sich trug, ein geistiger war, der Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in eine ganz andere Richtung geführt hätte, als es dann geschah. 
Erhard Eppler hatte bereits als Politiker einen weiten Geist und er sah Entwicklungen beinahe hellsichtig voraus, für die jedoch die meisten anderen Politiker noch gar keinen Sinn hatten. Er war zum Beispiel 1952 bereit, auf die Stalin-Noten einzugehen, mit denen der Diktator das Angebot machte, die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands zuzulassen, wenn sich das wiedervereinigte Deutschland bereit erklärte, neutral zu bleiben, also nicht Mitglied des militärischen Nordatlantik-Paktes (NATO) zu werden.
Leider war die Mehrheit der Abgeordneten, die unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Westbindung bevorzugten, weil sie in den USA den natürlichen Verbündeten sahen, mit dem sie sich gegen den Kommunismus der Sowjetunion zur Wehr setzen konnten, dagegen und schlug jene erste Chance zur deutschen Wiedervereinigung und zur damit verbundenen Neutralität Deutschlands hochmütig aus.  Das aber war genau der Beginn eines Weges, der zum „Kalten Krieg“ führte und in veränderter Form bis heute Mitteleuropa unter dem Einfluss der US-Imperiums in eine unglückselige Rolle gegenüber Russland geführt hat, insbesondere nach der 1990 tatsächlich mit Hilfe Michael Gorbatschows erfolgten Wiedervereinigung, als nämlich kurz darauf das westliche Versprechen an Russland gebrochen wurde, auf eine Osterweiterung der NATO zu verzichten.
Erhard Eppler hat also früh erkannt, dass die Rolle Deutschlands nur eine vermittelnde zwischen Ost und West sein kann.
Als der 21-jährige Student der Germanistik und Geschichte 1947 für zunächst zwei Semester zusammen mit elf weiteren ausgesuchten Studenten aus ganz Deutschland von Schweizer Demokraten in die Hauptstadt Bern eingeladen wurde, hörte er 1948 im Berner Münster auch den bekannten evangelischen Theologen Karl Barth (1886 – 1968)[2], der „über die Kirche in Ost und West“ sprach. Dieser Vortrag hat ihm „großen Eindruck“ gemacht. Paul Dieterich meint sogar, dass dieser Berner Vortrag „im Leben Epplers Weichen gestellt“ habe (S 104):
„Barth sieht, dass beide Mächte, Amerika und Russland, miteinander um die Macht kämpfen. Sie spielten sich als ‚Lehrer, Gönner, Beschützer, Wohltäter – oder sagen wir es deutlich: Herren‘ auf. (…) ‚Nicht mittun bei diesem Gegensatz‘, rät Barth. ‚Mit dem Evangelium im Herzen und auf den Lippen können wir zwischen jenen beiden streitenden Riesen nur mitten hindurch gehen mit der Bitte: Erlöse uns von dem Bösen‘. Barth plädiert für christliche Ernüchterung und dafür, nicht auf der einen Seite das Gute, auf der anderen Seite das Böse zu sehen, nicht Partei zu ergreifen für die eine oder andere Seite; der Weg der Gemeinde könne nur ein dritter, ihr eigener sein.“
Auch dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899 – 1976)[3] begegnet Eppler damals in Bern zum ersten Mal. Später wird Erhard Eppler Mitglied in der durch Heinemann gegründeten „Gesamtdeutschen Volkspartei“ (GVP), einem leider ebenfalls gescheiterten Versuch, eine christliche Alternative zu den etablierten Parteien zu schaffen. Heinemann, der 1949 Innenminister im ersten Kabinett Adenauer gewesen war, hatte die CDU und sein Amt 1952 verlassen, als der Kanzler seinen Ministern Andeutungen über eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands gemacht hatte. Auch die anthroposophische Historikerin Renate Riemek (1920 – 2003)[4] wurde wie Erhard Eppler Mitglied in der GVP.
Es kann eigentlich gar nicht anders sein, als dass sich die beiden Repräsentanten des wahren deutschen Volksgeistes, die unter Gustav Heinemann nach der zukünftigen Bestimmung Deutschlands suchten[5], damals getroffen haben: die Breslauerin Renate Riemek und der Ulmer Erhard Eppler. Aber diesen Teil der Geschichte verschweigt der evangelische Theologe in seiner umfangreichen Biographie, die sonst nur Bundeskanzlern in solcher Ausführlichkeit gewidmet werden, wie Erhard Eppler im Gespräch selbstironisch anmerkt. Außerdem bleibt selbstverständlich die Tatsache unerwähnt, dass die Stadt Bern im September 1910 das Forum bot für den Zyklus, den Rudolf Steiner über das Matthäus-Evangelium hielt.
Dafür erwähnt Paul Dieterich die starke Prägung Epplers durch den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1815 – 1855), dessen Schriften der Student durch seinen Berner Lehrer und Hausvater Arnold Gilg (1887 – 1967)[6], einen „Altkatholiken“, der im Jahre 1925 an der Berner Universität eine Vorlesung über Kierkegaard gehalten hatte, die 1926 als Buch veröffentlicht wurde, kennen lernte.
In seiner vor drei Jahren (2016) erschienenen Autobiografie „Links leben“ betont Erhard Eppler selbst, wie wichtig ihm das „Neue Testament“ damals geworden ist. Paul Dieterich ergänzt: „Umso erstaunlicher, dass der 89-Jährige in Erinnerung an seine Lektüre des Neuen Testaments in Bern seine Stellung zu Jesus Christus thematisiert. Natürlich sei es bisher immer misslungen, aus den vier Evangelien so etwas wie eine Biographie Jesu abzuleiten. ‚Und doch trat aus diesen vier großen Predigten ein Mensch hervor, der mich faszinierte.‘“ (S 103)
Das erinnert mich unmittelbar an den Anfang des ersten Vortrages, den Rudolf Steiner am 1. September 1910 in Bern hielt:
„Es ist jetzt das dritte Mal, dass mir hier in der Schweiz die Möglichkeit geboten ist, von einer gewissen Seite her das größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte zu besprechen. Das erste Mal war es, als in Basel gesprochen werden durfte über dieses Ereignis von jener Seite her, zu der das Johannes-Evangelium die Veranlassung bietet; das zweite Mal, als jene Charakteristik dieses Ereignisses gegeben werden durfte, zu welcher das Lukas-Evangelium die Unterlage bietet; und dieses Mal, also zum dritten Mal, soll der Impuls zu dieser Schilderung ausgehen vom Matthäus-Evangelium. Es ist von mir des öftern angedeutet worden, dass gerade darin etwas Bedeutungsvolles liegt, dass uns dieses Ereignis in vier, scheinbar in einer gewissen Weise sich unterscheidenden Urkunden aufbewahrt ist. Was gewissermaßen der heutigen äußeren materialistischen Gesinnung Veranlassung gibt, mit einer negativen, zersetzenden Kritik einzugreifen, das ist gerade das, was nach unserer anthroposophischen Überzeugung als bedeutungsvoll erscheint.“[7]
Rudolf Steiner hat, wenn er vom Christusereignis spricht, eine viel weitere Perspektive als die in ihren menschlichen Anschauungen und Widersprüchen gefangenen Theologen, wenn er es als „das größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte“ bezeichnet.
Karl Barth war einer der führenden protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der als schweizerischer Dorfpfarrer das „Erschrecken“ durch den Ersten Weltkrieg erlebt hatte, das viele andere Theologen, so auch der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer, der spätere Begründer der Christengemeinschaft, auch erleben mussten. Gerhard Wehr charakterisiert Karl Barth in seiner Rittelmeyer-Biographie[8] so:
„Wie Rittelmeyer, so hatte auch der knapp 15 Jahre jüngere Barth einst die Schule von Adolf von Harnack durchlaufen. Doch dessen theologische Position befremdete ihn mehr und mehr, zumal Harnack sowie andere gefeierte Theologen und Philosophen zu jenen 93 deutschen Intellektuellen gehörten, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs 1914 die Machtpolitik Kaiser Wilhelms II. als das Gebot der Stunde priesen und den Kampf ‚gegen eine Welt von Feinden‘ moralisch geradezu als von Gott geboten ansahen. (…) Epochemachend sollte die Römerbrief-Auslegung Barths werden. (…) Die in dieser Predigt zum Ausdruck kommende Botschaft lässt sich auf die knappe Formel bringen: Gott ist im Himmel, der Mensch auf der Erde. - Es gibt vom Menschen her keinen Weg zu Gott, nur den Weg Gottes zu den Menschen, nämlich durch Christus. Kierkegaard folgend spricht Barth vom ‚unendlichen qualitativen Unterschied‘ zwischen Zeit und Ewigkeit. Mithin sei alles religiöse Bemühen zum Scheitern verurteilt. Ja, ‚Religion ist Unglaube‘, ein Irrweg menschlicher Hybris. Religiöse Erfahrung ist wie jedes spirituelle Streben verpönt, weil es dem menschlichen Leistungswillen entstamme, mithin ‚unevangelisch‘ und antireformatorisch sei.“
Interessant ist noch folgende Bemerkung Gerhard Wehrs:
„Und wie Barth selbst über das dachte, was in Dornach – also in seiner relativen Nachbarschaft – vorging, verrät einer seiner Rundbriefe an die Gesinnungsgenossen. Da liest man unter dem 23. Januar 1923: ‚Von dem Brande des Goetheanums haben wir mit Genugtuung Kenntnis genommen.“
Anthroposophie ist demnach „Ketzerei“ und wird bis heute leider von den meisten Theologen der beiden Konfessionen abgelehnt.
Aber Gott hat einen langen Atem und er kann auch warten, bis selbst die Theologen der christlichen Konfessionen wieder zu ihm finden…
Für mich ist es ein Wink höherer Geistesmächte, dass der feinsinnige Geist und klarsichtige Politiker Erhard Eppler, der heute auf einem Berg über der Michaels-Stadt Schwäbisch Hall wohnt, der einst der „Galgenberg“ genannt wurde, und der auf seine eigene Initiative hin heute „Friedensberg“ heißt, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Haller Unternehmerehepaars lebt, das zu den Mitbegründern der hiesigen Christengemeinschaft gehört.
Diese Signatur des Schicksals ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein, die sein zukünftiges Schicksal in positiver Weise lenken wird.



[1] Erhard Eppler, Leben, Denken und Wirken, eine Biographie bis zum Wendejahr 1989, denkhaus-Verlag, Nürtingen
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Barth Leider ist der Film „Gottes fröhlicher Partisan“ von Peter Reichenbach (Deutschland 2017) nicht mehr verfügbar. Siehe auch: https://www.evangelische-aspekte.de/gottes-froehlicher-partisan/  https://www.medienzentralen.de/medium41791/Gottes-froehlicher-Partisan-Karl-Barth
[5] Eppler: „Das ist der Typ von Politiker, den wir jetzt brauchen.“ (Dieterich, S 103)
[7] GA 123, 1. Vortrag.
[8] Gerhard Wehr, Friedrich Rittelmeyer, Sein Leben, Religiöse Erneuerung als Brückenschlag, Verlag Urachhaus, Stuttgart, 1998, S 136f

Samstag, 9. März 2019

Zu Ravaglios Kritik an Prokofieff


Vorgestern und vorvorgestern erreichten mich zwei antiquarische Bücher von Friedrich Hiebel, die ich bestellt hatte. „Der Tod des Aristoteles“ und „Boethius, der römische Retter des Aristoteles“. Der im Jahre 1903 geborene Germanistikprofessor, der ab 1963 auch Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und ab 1966 Leiter der „Sektion für Schöne Wissenschaften“ am Goetheanum war, verarbeitet die Biographien der beiden großen Philosophen in zwei Romanen, die ich noch vor unserer Reise auf die Insel Samothrake lesen möchte.
Gestern nun las ich das erste Drittel des neuesten „Anthroblog“ von Lorenzo Ravaglio (vom 5.März 2019, aktualisiert am 9. März 2019) über „Anthroposophie im 21. Jahrhundert“, in dem er sich kritisch mit dem 1982 erschienenen ersten Buch von Sergej O. Prokofieff (1954 – 2014) auseinandersetzt, das ich auch mit zwiespältigem Interesse gelesen habe: „Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien“.
Lorenzo Ravaglio, der sich ebenfalls erstaunlich gut im Werk Rudolf Steiners auskennt und in seinem Büchlein „Zanders Erzählungen“ dem Religionswissenschaftler Helmut Zander in seiner zweibändigen kritischen Untersuchung über „Anthroposophie in Deutschland“ einige Irrtümer und Fehler nachgewiesen hat, beginnt seinen Essay mit folgender Feststellung:
„Prokofieffs Buch über die Grundlegung der neuen Mysterien stellt den Höhepunkt der Ausgestaltung jenes spirituell-sozialen Mythos dar, dessen Ausgangspunkt und Gravitationszentrum bis heute Rudolf Steiner bildet“[1]
Neben diesem Einleitungssatz, der in kürzester Form das Leitmotiv des ganzen Essays anreißt, steht ein Foto des jungen Russen aus dem Jahr 1982, das ihn so traurig und ernst zeigt, wie später die Fotos des Vorstandsvorsitzenden, der 2013 – nach einer bitteren Auseinandersetzung mit Judith von Halle, die er nicht persönlich empfangen wollte – schwer erkrankt und am 26. Juli 2014 im Alter von nur 60 Jahren verstorben ist.
Dieser Neffe des Musikers gleichen Namens hat schon mit 28 Jahren ein Buch veröffentlicht, in dem er zeigt, wie sehr er sich in die Gesamtausgabe Rudolf Steiners eingelesen hat. Ich glaube durchaus, dass es sich dabei um ein inspiriertes Werk handelt, das aus seiner idealistischen Seele entsprungen ist. Wenn man es jedoch in der Übersetzung von Ursula Preuß[2] liest, so kommt es einem streckenweise gezwungen intellektuell vor. Die von seinen eigenen unmittelbaren Christuserfahrungen inspirierte (russische) Seele versucht, ihre Erlebnisse mit oder an Rudolf Steiner mit der Hilfe westlicher Intellektualität darzustellen. Er hatte nicht den „Mut“ – wie Wladimir Solofieff – die künstlerische Form zu wählen. Ich glaube, das ist seine ganze Tragik.

Manche hielten den jungen Mann, der Ende der 70er Jahre durch die Straßen von Moskau ging und die Menschen ansprach, die er für geeignet hielt, in der Metropole der Sowjetunion einen – damals noch verbotenen – „Zweig“ zu gründen, der dann auch zustande kam und jahrelang im Untergrund wirken musste, für die Reinkarnation Rudolf Steiners. Das deutet Ravaglio in einer Fußnote auch an, indem er zunächst vorbereitend schreibt:
„Steiners ‚eigener Lebensgang‘ muss als ‚Urbild des modernen Einweihungsweges‘ betrachtet werden (PR, 19). Wer diesen Einweihungsweg, den Steiner wohlgemerkt in persona verkörpert (und nicht nur in unterschiedlicher Form schriftlich sowie mündlich geschildert hat), verstehen und womöglich beschreiten will, muss ‚die Schleier von den verborgenen Schichten seines Lebens‘ ‚lüften‘.“
Rudolf Steiner werde, so Ravaglio, durch Sergej Prokofieff zum „Welterlöser“ stilisiert, der von Christi Schüler zum Lehrer geworden sei. Er vermochte ab dem Zeitpunkt seiner persönlichen Begegnung mit dem Christus „als persönlicher Zeuge und Diener Christi“ Seelen „zu jener heiligen Pforte zu führen, durch die sich der vom Christus gesandte Heilige Geist ausgießt“ (PR, 20)
Immer mehr wird Rudolf Steiner unter der Feder Prokofieffs jener „Übermensch“, von dem schon Nietzsche und Solowieff sprachen, der mit nahezu übermenschlicher Anstrengung seine (mehrfache) Erdenmission zu erfüllen sucht.
Ich kann Prokofieff trotz aller Kritik gut verstehen: Er sieht in Rudolf Steiner die außergewöhnliche Individualität, die er tatsächlich war. Aber in all seinen späteren Werken und Vorträgen trägt Prokofieff leider dazu bei, Rudolf Steiner, den er mit Recht verehrt, zu einem unnahbaren Heiligen zu erheben. Er folgt dabei dem verhängnisvollen Beispiel der Kirche, die aus Christus, seinen Jüngern und seinen Nachfolgern unnahbare Wesen gemacht hat, die weit über dem Menschen stehen und zu denen man nur noch durch fromme Verehrung und Gebet Zugang finden kann. Dass sie in Wirklichkeit alle auch Menschen mit ihren Fehlern und mit ihren Schwächen waren, wird dabei ausgeblendet. Dabei muss man nur an den Apostel Petrus denken, der seinen Herrn dreimal verleugnet hat, oder an Judas, der seinen Herrn im besten Glauben verraten hat, weil er meinte, Jesus sei so unverwundbar, dass er seine Feinde ohne Problem besiegen könne.
All diese Projektionen beruhen auf Missverständnissen.
Durch solche Missverständnisse, die durch Prokofieff tüchtig befördert wurden, erwartet die Mehrheit der Anthroposophenschaft die Reinkarnation Rudolf Steiners als eines genialen Geistes, der in der Öffentlichkeit wirkt.
Vielleicht ist er jedoch genau das Gegenteil. So wie der große Eingeweihte Manu als „tumber Narr“ Parzival wiedergeboren wurde, der vergaß, die richtige Frage zu stellen und deshalb fünfeinhalb Jahre durch halb Europa irren musste, bis er seine Mission, den bisherigen Gralskönig zu erlösen, vollenden konnte, so wird auch Rudolf Steiner, wenn er wiederkommt, kaum als „Genie“ in der Öffentlichkeit auftreten und „Vorträge“ halten.
Er wird nur jenen als der, welcher er ist, erscheinen, die ihn innerlich als solchen wahrnehmen. Und das wird mit Sicherheit nur ein kleines Häuflein sein.



[2] Ursula Preuß war Lehrerin an der Stuttgarter Waldorfschule am Kräherwald. Ich habe bei ihr Ende 1979, während meiner Ausbildung zum Waldorflehrer, ein Praktikum gemacht.

Donnerstag, 7. März 2019

Im Netz des Antichristen


Unter dem Eindruck der Lektüre von Solowjews „Kurzer Erzählung vom Antichrist“ – zunächst in der Ausgabe von Ludolf Müller im Erich Wewel Verlag, München aus dem Jahre 1968 (3. Auflage 1977, am 3. 9.1979 in Stuttgart gekauft) – wird mir bewusst, dass ich auch mein ganzes Schreiben „sub specie antichristi venturi“ stelle.
Wenn es im neuen Testament an vielen Stellen heißt, seid wachsam, denn ihr wisset nicht, wann der Dieb kommt, so ist mir klar, wer der Dieb sein wird. In der Offenbarung des Johannes (Kapitel 13) wird er „der Antichrist“ genannt:
„Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie eines Löwen Rachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und seine Macht. Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund, und seine tödliche Wunde ward heil. Und die ganze Erde verwunderte sich des Tieres, und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: wer ist dem Tier gleich, und wer kann wider es streiten? Und es ward ihm gegeben ein Maul, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, dass es mit ihm währte zweiundvierzig Monate lang. Und es tat sein Maul auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen und sein Haus und die im Himmel wohnen. Und ihm ward gegeben zu streiten wider die Heiligen und sie zu überwinden; und ihm ward gegeben Macht über alle Geschlechter und Völker und Sprachen und Nationen. Und alle, die auf Erden wohnen, beten es an, deren Namen nicht geschrieben sind von Anfang der Welt in dem Lebensbuch des Lammes, das erwürget ist. Hat jemand Ohren, der höre! Wenn jemand andere ins Gefängnis führt, der wird selber in das Gefängnis gehen; wenn jemand mit dem Schwert tötet, der muss mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen!
Und ich sah ein zweites Tier aufsteigen von der Erde, das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache. Und es übt alle Macht des ersten Tieres vor ihm, und es macht, dass die Erde und die darauf wohnen, anbeten das erste Tier, dessen tödliche Wunde heil geworden war. Und es tut große Zeichen, dass es auch macht Feuer vom Himmel fallen auf die Erde vor den Menschen; und verführt, die auf Erden wohnen, durch die Zeichen, die ihm gegeben sind, zu tun vor dem Tier; und sagt denen , die auf Erden wohnen, dass sie ein Bild machen sollen dem Tier, das die Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war. Und es ward ihm gegeben, dass es dem Bilde des Tieres Geist gab, damit des Tieres Bild redete und machte, dass alle, welche nicht des Tieres Bild anbeteten, getötet würden. Und es macht, dass sie allesamt, die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte, sich ein Malzeichen geben an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, dass niemand kaufen oder verkaufen kann, er habe denn dieses Malzeichen, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.“
Es sind in diesem 13. Kapitel aus der „Apokalypse“ so viele rätselhafte Bilder enthalten, dass Generationen von Interpreten in den vergangenen 2000 Jahren versucht haben, sie zu entschlüsseln. Auch heute gibt es überall auf der Welt „Weltuntergangspropheten“, welche die Bilder wörtlich nehmen und auf unsere Zeit übertragen. Viele davon habe ich kennen gelernt, aber nicht wirklich ernst genommen.
Anders geht es mir mit der „Kurzen Erzählung vom Antichrist“, die Wladimir Solowjew am 26. Februar 1900 in der Duma in Sankt Petersburg vorgelesen und am nächsten Tag (Rudolf Steiners 39. Tauftag) in der Zeitschrift „Knishki Nedeli“ veröffentlicht hat.
Ich will und kann hier den Inhalt nicht zusammenfassen. Aber mir erscheint vieles, was dort geschildert ist, auf die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts zuzutreffen. Vieles aber konnte Wladimir Solowjew noch nicht voraussehen: Die Entwicklung der Technik ist seitdem so weit fortgeschritten, dass es auch seine Vorstellungskraft übertraf. Inzwischen „hängen“ weltweit Millionen von „Usern“ an ihren Mobil-Telefonen und beten sie geradezu an. Wissenschaftler auf aller Welt arbeiten an „autonom“ fahrenden Autos und an der „künstlichen Intelligenz“. Es ist heutzutage durchaus vorstellbar, dass Menschen an der Hand oder am Kopf Chips eingebaut haben, mit denen sie bargeldlos bezahlen können. Die deutsche Sprache jedenfalls ist dieser Möglichkeit schon vorausgeeilt, wenn sie die „Smart-Phones“ die „kleinen intelligenten Telefone“ in den Händen „Handys“ nennt.
Die Entwicklung der technischen Möglichkeiten schritt in den vergangenen ca. 33 Jahren rasant voran – seitdem die Firma IBM 1985/86 Millionen von Personalcomputern auf den Markt „werfen“ konnte, welche die Firma erst sechs Jahre (1980/81) zuvor entwickelt hatte.
Es ist von zwei Tieren die Rede, einem zehnhörnigen aus dem Meer und einem zweihörnigen von der Erde.
Auch Solowjew redet von zwei Herrschern, dem Weltmonarchen und seinem Ratgeber Apollonius, der Feuer vom Himmel regnen lassen und die Menschen mit allerlei Zauberkünsten blenden kann.
Was ist das Internet und all seine Möglichkeiten anderes als zauberartiges Blendwerk, das in sich zusammenfällt, sobald man sich seiner eigenen Sinne wieder bedient und zum Beispiel am Morgen, statt im Computer ein Fenster zu öffnen, ein reales Fenster öffnet und auf den Gesang der Vögel lauscht!?
Millionen von Menschen tummeln sich heute stundenlang im Netz und merken nicht, dass sie das „Tier“ (oder den Drachen) anbeten. Der Ausdruck „worldwide web“ (www) basiert auf dem hebräischen Buchstaben „Waw“, der, wie alle hebräischen Buchstaben, gleichzeitig einen Zahlenwert hat. Der Zahlenwert des „Waw“ ist 6.
So huldigen wir der Zahl des Tieres, der 666, jedes Mal, wenn wir den beiden Tieren ins „Netz“ gehen.