Am Nachmittag habe ich weiter bei
Radsinski über das Schicksal der Zarenfamilie gelesen. Dabei wird ziemlich
ausführlich die Geschichte des bolschewistischen Kommissars und Terroristen Wassili
Jakowlews und seines Vorgesetzten Jakow Swerdlow erzählt, die die Überführung
der Familie vom sibirischen Tobolsk nach Jekaterinburg im Ural organisierten
und dabei sämtliche Tricks anwendeten, die bei Terroristen üblich sind. Die
Strategie hatte Lenin in einem Brief an seine Kampftruppen bereits am 3. Oktober
1905 verkündet[1]:
„Gründet sofort Kampftruppen,
überall und allerorts, sowohl bei den Studenten als auch besonders bei den
Arbeitern… Sie sollen sich unverzüglich selber bewaffnen, so gut jeder kann,
mit Revolvern, Messern, petroleumgetränkten Lappen, um Feuer anzulegen usw. …
Die Abteilungen sollen jetzt gleich, unverzüglich ihre militärische Ausbildung
mit praktischen Kampfhandlungen beginnen. Die einen werden einen Spitzel töten
oder ein Polizeirevier in die Luft sprengen, andere werden eine Bank
überfallen, um Geldmittel für den Aufstand zu konfiszieren … Jede Abteilung
soll selbständig lernen, sei es durch Verprügelung von Polizisten.“ (S 280)
Solche revolutionären Phrasen
wirkten noch bei meinen kommunistischen Kommilitonen nach, die während meines
Studiums in den 70er Jahren immer noch von der Weltrevolution träumten[2].
Die RAF (Rote-Armee-Fraktion), die ziemlich genau vor 40 Jahren in Köln den
Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer entführte und dabei drei
Stuttgarter Polizisten tötete, haben Lenins Direktive knapp 75 Jahre später noch
einmal „umgesetzt“.
Swerdlow und Jakowlew waren, wie
alle bolschewistischen Führer, atheistische Juden. Sie spielten in aller Regel
ein doppeltes Spiel. So konstatiert Radsinski auf Seite 279 im Kapitel „Die geheime Mission“:
„Die nach Tobolsk entsandte ‚militärische
Verstärkung‘ hatte tatsächlich die geheime Mission, den Zaren und seine Familie
nach Moskau zu überführen. Aber der gewiefte Swerdlow[3]
erklärte nicht, dass die „Ergänzung“ Jekaterinburg nun das gesetzliche Recht
gab, die Zarenfamilie für sich zu fordern. Das doppelte Spiel Swerdlovs hatte
begonnen. Dieses Spiel würde alle künftigen Historiker verwirren. Mit der
Leitung war Wassili Jakowlew betraut.“
Jetzt habe ich beinahe das ganze
Buch von Radsinski gelesen. Die grausamen Berichte von der Erschießung der
Zarenfamilie und ihrer Nächsten, insgesamt elf Personen, sind wahrlich kaum
auszuhalten. Dokumente über diese Morde wurden erst kurz vor Zusammenbruch der
Sowjetherrschaft bekannt. Radsinki war der erste Historiker, der sie in
Archiven auffand und begann, sie – zunächst 1989 in einer russischen
Zeitschrift, dann in seinem 1992 erschienenen Buch – zu veröffentlichen.
Der Mörder des Zaren, Jakov Jurowski, der im Buch
auch als „Der schwarze Mann“ bezeichnet wird, hat einen Bericht von der Hinrichtung
verfasst. Radsinski versucht, seinen Hass zu verstehen:
„Wenn man später das Unmenschliche,
das im Souterrain des Ipatjew-Hauses geschah, zu erklären versuchte, bezeichneten
die einen Jurowski und seine Genossen als Mörder und Sadisten. Die anderen sahen
in der Erschießung der Zarenfamilie die blutige Rache der Juden am rechtgläubigen
Zaren (…). Damit ließ sich das Geschehen leichter erklären. Rache für die bestialischen
Pogrome, für die tägliche Erniedrigung!
Wäre es so gewesen, dann wäre darin,
so schrecklich es klingen mag, doch etwas gewesen, was der menschliche Verstand
zu erfassen vermag. Aber es war alles anders.
In seinem letzten Brief aus dem Kremlkrankenhaus
schrieb der todkranke Jurowski: ‚Unsere Familie litt weniger unter dem ständigen
Hunger als unter dem religiösen Fanatismus des Vaters. An Feiertagen wie an Werktagen
mussten wir Kinder beten, und es ist nicht verwunderlich, dass mein erster aktiver
Protest gegen die religiösen, nationalistischen Traditionen gerichtet war. Ich hasste
Gott und die Gebete, wie ich die Armut und meine Herren hasste.‘
Ja, er hasste die Religion seiner
Väter und ihren Gott.
Jurowski und Golostschokin hatten
ihr Judentum schon in der Jugend verworfen. Sie dienten einem ganz anderen Volk.
Dieses Volk lebte ebenfalls auf der ganzen Welt. Es war das weltweite Proletariat.
Das war das Volk Jurowskis, Nikulins, Golostschokins, Beloborodows und des Letten
Bersin.
Und die Partei, der sie angehörten,
versprach, auf der ganzen Erde die Herrschaft dieses Volkes zu befestigen. Dann
musste das lang ersehnte Glück der Menschheit anbrechen.
Aber dazu musste ein grausamer Kampf
geführt werden. ‚Hebamme der Geschichte‘, nannten sie Blut und Gewalt.
Die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts,
Netschajew und Tkatschew, hatten überlegt: wie viele Menschen der alten Gesellschaft
müssen wir vernichten, um eine glückliche Zukunft zu errichten? Sie waren zu dem
Schluss gekommen: Wir müssen darüber nachdenken, wie viele wir ‚übriglassen‘. Es
ging um die ‚Methode der Aussonderung der kommunistischen Menschheit aus dem Material
der kapitalistischen Epoche‘ (Bucharin).
Sie machten sich an die Arbeit – sie
sonderten aus dem menschlichen Material aus.
Trotzki: ‚Man muss für immer Schluss
machen mit dem Popen- und Quäkergeschwätz über den heiligen Wert des menschlichen
Lebens.‘ Und sie machten damit Schluss. Unbeugsamer Klassenhass beherrschte ihre
Seelen. (…)
Sie verwirklichten die große Mission, die ihnen ihr Lehrer Marx im Namen
der Zukunft hinterlassen hatte: die Agonie der überlebten Klassen zu beschleunigen.“
(Edward Radsinski, Nikolaus II, 1992, S 331f)
[1] Später hat
er diese Strategie zwar offiziell zurückgenommen, aber, so Radsinski, „Doch wie
immer in der Geschichte der Bolschewiken stand hinter dem Offensichtlichen das
Geheime. (…) Nachdem sie den Terrorismus aus Rücksicht auf die öffentliche
Meinung verboten hatten, unterstützten sie ihn heimlich.“ (S 280)
[2] Selbst
jetzt im Bundestagswahlkampf tritt eine kommunistische Partei, die MLPD, an. Von
ihren Plakaten schauen Marx und Lenin immer noch als die längst entthronten
Götter herab. Ich kann es nicht fassen, dass es immer noch Leute gibt, die vom
Kommunismus träumen.
[3]
Kommissar der Bolschewisten im Ural-Gebiet
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