Die leider
viel zu kurze Zeit bei Lilia, ihrem Mann und ihren Kindern waren von
Herzlichkeit geprägt.
Dobrusch
im weißrussischen Dreiländereck liegt etwa 30 Kilometer von der russischen
Grenze im Osten und etwa 40 Kilometer von der ukrainischen Grenze im Süden
entfernt. Bis Kiew sind es nur noch etwa 300 Kilometer. Der Fluss Iputz, der
einen nördlichen Teil von Dobrusch, in dem Lilia mit ihrer Familie wohnt, und
einen südlichen Teil mit dem Bahnhof voneinander trennt, fließt in Gomel, der
zweitgrößten Stadt Weißrusslands, in den Sosch, einen Nebenfluss des Dnjepr, der
im Süden auch ein Stückchen weit Grenzfluss zur Ukraine ist. Es gibt den Rest
einer mittelalterlichen Brücke in Nord-Dobrusch, an dem zwei geschnitzte
Figuren stehen, die vermutlich Wikinger darstellen sollen. Ich denke, die
Waräger sind bei ihren Fahrten auf dem Dnjepr auch den Sosch und den Irputz
hochgefahren. Jedenfalls gehörte der größte Teil des südlichen Weißrussland vor
1000 Jahren noch zum ersten russischen Großfürstentum, zum Reich von Kiew.
Als wir am
Montagmittag mit Lilia im nördlichen Teil von Dobrusch einkaufen gingen,
erlebten wir eine Stadt, die wie aus der Zeit gefallen schien. Das zentrale
Lenin-Denkmal steht am Eingang einer mit gepflegten Laubbäumen bepflanzten Esplanade,
an der etwa dreistöckige Häuser standen, in denen im Erdgeschoss kleine
Geschäfte untergebracht sind. In einem eher wie ein Kiosk aussehenden Häuschen war
eine Bank untergebracht. Wir mussten draußen warten, bis der Kunde vor uns
herauskam. Dann traten wir ein und wechselten an einem einzigen Schalter
russische in weißrussische Rubel. Dabei ist der Wechselkurs eins zu zwei zum
Euro. Wir bekommen also nicht die großen Rubelscheine, bei denen 200 Rubel
gerade einmal knapp drei Euro sind. Jetzt sind zwei weißrussische Rubel einen
Euro wert.
Lenin
schaut auf einen großen Platz, an dem die wohl beste Metzgerei des Städtchens
liegt, in der wir verschiedene Sorten der berühmten weißrussischen Wurst
einkaufen. Wir müssen uns, wie in der sowjetischen Zeit, in eine Schlange
einreihen, bis uns eine der drei Häubchen tragenden Verkäuferinnen bedient.
Nicht weit von der Metzgerei ist ein etwas größerer Bau, man könnte fast sagen,
eine kleine Fabrik. Hier gibt es ein paar Geschäfte, in denen zum Beispiel
Kleider und Schuhe verkauft werden. In einem der hinteren Räume des
Erdgeschosses hat Pavel seine winzige Leder-Werkstatt. Er arbeitet mit uralten
Nähmaschinen und in der Werkstatt sieht es eher chaotisch aus. Er verdient je nach Saison umgerechnet 50.- bis 100.- Euro/Monat.
Wir besuchen ihn. Lilia, die sich mit Putzen
Geld (umgerechnet 100.- Euro im Monat) verdient, hat an diesem Montag wegen unseres Besuchs extra frei genommen.
Als wir von unserer Einkaufstour zurückkommen, ist auch Pavel zu Hause. Wir
essen etwas zusammen. Ich entdecke eine leckere Fischpastete und einen mit
Aprikosen bestückten Frischkäse. Es werden auch verschiedene Wurstsorten
aufgetischt und ein dunkles weißrussisches Bier. Draußen im Garten fliegen
auffallend viele Schmetterlinge und ich erfahre, dass Weißrussland die meisten
Lebensmittel selbst herstellt und dass in dem Land wenig Pestizide und
Kunstdünger in der Landwirtschaft verwendet werden, obwohl das Land 1986
besonders stark von der Atomkatastrophe im nur ca. 100 Kilometer südlich am
Zusammenfluss des Pripjet mit dem Dnjepr gelegenen ukrainischen Kernreaktor von
Tschernobyl betroffen war. Alles, was hier gegessen wird, hat noch den alten
Geschmack, den Lilia und Lena aus ihrer Kindheit in Karaganda kennen. Die
beiden Freundinnen erinnern sich gerne an diese gemeinsame Zeit in ihrer
Heimatstadt.
Durch die
Baptisten sind Lilia und Pawel auch nach Weißrussland ausgewandert. Sie konnten
mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde das 1978 gebaute Häuschen aus weiß
gestrichenen Ziegelsteinen kaufen und sie können als siebenköpfige Familie auch
heute (ohne staatliches Kindergeld) nur überleben, weil reichere Baptistengemeinden aus der ganzen Welt sie
mit Spenden unterstützen, obwohl die Lebenshaltungskosten in diesem Land sehr
gering sind.
Dabei
gefällt mir die Stimmung in dem nahezu autarken Land eigentlich ganz gut. Es
herrscht Ordnung. Der Verkehr ist gut geregelt: es gibt viele Radaranlagen auf
den gut ausgebauten Hauptstrecken. Die Weißrussen fahren wesentlich
disziplinierter als die Russen und halten sich in der Regel an die
vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Wir fuhren auf den mehrspurig ausgebauten Strecken
der Europastraße E 95 (von Sankt Petersburg nach Kiew) streckenweise 150 Stundenkilometer,
als wir am Sonntag die etwa 1000 Kilometer lange Reise von Sosnovy Bor nach
Dobrusch zu Lilia machten. Wir hatten dabei beinahe das ganze Land von Norden
nach Süden durchquert. Am Dienstag haben wir dann das Land von Osten nach
Westen auf der ebenfalls gut ausgebauten Fernstraße M 10 durchfahren. Nur die
kleinen Verbindungen von Dorf zu Dorf müssen in miserablem Zustand sein, so wie
der Weg, der zu Lilias Haus führt.
Auf den
Fernstraßen darf man eigentlich nur 90 fahren, an den zahlreichen Fußgängerüberwegen
nur 60. Auf den Nebenstraßen, die wir aber nicht benützen, kann man wohl wegen
der vielen Schlaglöcher sowieso nicht schneller fahren. Einmal werden wir
geblitzt, weil ich die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht rechtzeitig gesehen
hatte. Ich fuhr etwas schneller als 70 km/h, aber es waren nur 60 km/h erlaubt.
Diese Geschwindigkeitsbeschränkung stand nicht auf einem Schild, sondern war
als großes Verkehrszeichen auf die Straße gemalt, woran ich mich erst gewöhnen
musste.
Was mir
auffällt, sind die Plakate am Straßenrand des Stadtzentrums, die an die
heroischen Taten der Weißrussen im Zweiten Weltkrieg erinnern sollen, oder die
als Denkmale aufgestellten Panzer, von denen ich einen in Gomel und einen in
Dobrusch sehe.
Lena
erzählt mir, dass die Weißrussen vor allem als Partisanen gegen die deutschen
Soldaten gekämpft hätten. Sie lebten in kleinen Bunkern in den beinahe
undurchdringlichen, meist sumpfigen Wäldern. Die Deutschen brannten aus Rache die
Holzhäuser der Weißrussen und manchmal ganze Dörfer nieder und sollen dabei
auch die Einwohner getötet haben, die sie wohl für Angehörige der Partisanen
hielten.
In diesem
westlichen Teil Russlands lebten besonders viele Juden. Allein in Gomel gab es 1939 fast 40000 Juden.
Bei der Volkszählung von 1897 lag der jüdische Anteil laut Wikipedia bei 55
Prozent der Bevölkerung, vor dem Zweiten Weltkrieg (1939) noch bei knapp 30
Prozent. Die Deutschen sollen zwischen 3000 und 4000 von ihnen umgebracht
haben. Am Anfang des 21. Jahrhunderts sind offenbar viele Juden ausgewandert,
zum Teil auch nach Deutschland.
Wir trafen
im Stadtzentrum, wo es an der Esplanade auch einen kleinen Wochenmarkt gab, beim
Einkaufen auf ein Deutsch sprechendes junges Ehepaar, einen Weißrussen, der mit
einer Deutschen verheiratet ist. Sie wohnen in der Nähe von Berlin und wollten
noch an diesem Nachmittag zurückfahren. Lena meinte, dass es gewiss Juden
wären. Der Mann erzählte uns, dass wir an der Grenze in Brest vermutlich etwas
länger kontrolliert würden. Auf keinen Fall sollten wir weißrussische Wurst und
weißrussische Milchprodukte „ausführen“. Er fahre gewöhnlich so, dass er die
Grenze nachts passieren muss, weil da am wenigsten los sei und es am
schnellsten ginge.
Wir fuhren
am Dienstagmorgen pünktlich um 7.00 Uhr (deutscher Zeit) los, nachdem wir noch
mit Lilia und Pavel gefrühstückt hatten. Pavel sprach zum Abschied auf Russisch
ein Gebet. Die beiden sind dann noch vor unserer Abreise mit ihren Fahrrädern
zur Arbeit gefahren. Ich legte in ihrem Schlafzimmer unter den
Rosenquarz-Leuchter, den ich Lilia vor zwei Jahren in Rothenburg gekauft hatte,
einen 50-Euro-Schein. Leider war es der falsche, denn Pavel hatte mir am Vortag
einen älteren 50-Euroschein gezeigt, der einen kleinen Riss hatte, und den die
weißrussische Bank nicht eintauschen wollte. Ich gab ihm einen unbeschädigten
neuen Schein dafür. Nun hatte ich ausgerechnet seinen Schein als „Spende“
zurückgelassen. Als ich das merkte, drehte ich um, und wir fuhren noch einmal
zurück. Nun tauschten wir den alten gegen einen neuen Schein aus und Lena legte
von sich aus noch einmal 50.- Euro dazu. Durch diesen „Faux-Depart“ verloren
wir ungefähr eine Dreiviertelstunde.
Wir fuhren
abermals durch die Stadt Gomel, die einen durchaus modernen Eindruck machte.
Die Straße nach Brest war gut ausgeschildert. Das verwunderte uns, denn als wir
am vergangenen Donnerstag aus Sankt Petersburg herausfuhren, konnten wir
zunächst überhaupt keine Hinweisschilder entdecken, obwohl wir uns auf einer
der großen Ausfallsstraßen (Moskawa Chaussee) befanden. Ich musste mich an den
Himmelsrichtungen und mit Hilfe meiner kleinmaßstäblichen Karte orientieren,
bis wir endlich ein Schild mit der Aufschrift „Tallin“ sahen.
Schließlich
fuhren wir auf der Fernstraße M 10 nach Westen. Bis zur weißrussisch-polnischen
Grenze waren es ca. 550 Kilometer. Etwa 30 Kilometer hinter Gomel überquerten
wir den Fluss Dnjepr, jenen Schicksalsfluss, den die Waräger von Birka am
Mälarsee bei der späteren Stadt Stockholm nach Konstantinopel hinab- und hinauf
ruderten. Straßen führten damals noch nicht durch die unendlichen Wälder.
Flüsse waren im 9. Jahrhundert in diesem von slawischen Völkern dünn
besiedeltem Gebiet die einzigen Verkehrswege, ganz anders als in den gallischen
und südgermanischen Ländern, wo es – zumindest, wenn sie zum ehemaligen
römischen Reich gehörten – befestigte Römerstraßen gab.
Dobrusch
bei Gomel war bis dahin der östlichste Ort, den ich in meinem Leben besucht
habe, so wie Noya bei Santiago de Compostella der westlichste war. Immer wieder
musste ich an die erste große Reise mit dem Auto denken, die ich mit Isabelle
und David, einer französischen Katholikin und einem südafrikanischen Juden im
Sommer 1975 unternommen habe. Damals führte uns die Route nach Westen in ein
diktatorisches Land. 1975 war in Spanien der letzte faschistische Diktator,
Francisco Franco, noch an der Macht. In
Weißrussland herrscht seit 1994 der mit diktatorischen Vollmachten
ausgestattete Präsident Alexander Lukaschenko. Zu den Verbündeten der
weißrussischen „Republik“ gehört neben Venezuela, Kuba, dem Iran und China auch
Nord-Korea, das letzte streng kommunistische Land des Planeten. Mit Russland
gibt es immer wieder Probleme, weil Präsident Putin Weißrussland bei den Öl-
und Gaspreisen keine Vergünstigungen gewähren will.
Die Straße
M 10 führt mehr oder weniger schnurgerade nach Westen und durchschneidet das
unendliche Wald- und Sumpfgebiet rund um den Fluss Prypjat mit einer breiten
Schneise. Der Nebenfluss des Dnjepr fließt eine weite Strecke südlich parallel
zur M 10 von West nach Ost, also genau in entgegengesetzter Richtung.
Die
Siedlungen an der M 10 sahen etwas wohlhabender als an der E 95 aus. Auch waren
die Wälder immer wieder unterbrochen durch große fruchtbare Felder, auf denen
Getreide angebaut wurde, das zum Teil jetzt erst geerntet wird. Auch viele
Maisfelder sahen wir rechts und links der Straße. Neben den üblichen einstöckigen
Holzhäusern sahen wir viele Steinhäuser.
Eine der
größeren Städte, die wir auf unserer Route durchquerten, war Pinsk. Es war einst die
osteuropäische Stadt mit dem größten jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Er belief sich 1897 laut Wikipedia auf 74 Prozent. Der erste israelische
Präsident, Chaim Weizmann, wurde in der Nähe von Pinsk geboren und erhielt in
der mehrheitlich polnisch sprechenden Stadt seine Schulbildung; die spätere vierte
Ministerpräsidentin Israels, Gold Meir, verbrachte einige Jahre ihrer Kindheit in
der Stadt. Die Stadt hatte 1581 die Magdeburger Stadtrechte bekommen und
gehörte ab 1589 zum Polnisch-Litauischen Königreich. Nach dem Ersten Weltkrieg
wurde die Stadt polnisch, nach dem Zweiten durch den Hitler-Stalin-Pakt
sowjetisch. 1991 wurde die Stadt mit heute knapp 140000 Einwohnern durch die
Unabhängigkeit Weißrusslands belarussisch.
Während
der Nazi-Herrschaft sollen in der Stadt auf Befehl Heinrich Himmlers durch das
Polizei-Bataillon 306 an einem Tag (29. Oktober 1942) über 10000 Juden getötet
worden sein.
Bei der
Fahrt quer durch Weißrussland musste ich auch immer wieder an Tevje, den
Milchmann und das Schtetl „Anatevka“ denken, in dem er mit seiner Frau Golde
und seinen fünf Töchtern wohnte. Wie gerne hätte ich so ein jüdisches Städtchen
einmal mit eigenen Augen gesehen. Aber vermutlich gibt es keines mehr. Pinsk
war einst so ein unabhängiges, rein jüdisches Schtetl.
Kurz vor
14.00 Uhr kamen wir an der weißrussisch-polnischen Grenze in Brest-Litowsk an.
Die Stadt ging als das östliche Brest in die Geschichtsbücher ein, weil hier
von Januar bis März 1918 die Friedensverhandlungen zwischen dem Deutschen Reich
und den Kommunisten der gerade gegründeten Sowjetunion stattfanden. Auf
Wikipedia hatte ich mich am Abend zuvor darüber etwas informiert und erfahren,
dass die Verhandlungen auf sowjetischer Seite vor allem von Leo Trotzki geführt
wurden, der eine Verzögerungstaktik versuchte. Das Ergebnis des Vertrages, der
am 3. März 1918 unterzeichnet wurde, war, dass die Sowjetunion als
Kriegsteilnehmer ausschied. Nur dadurch konnten sich schließlich die
Bolschewiki, die in den Wahlen keineswegs eine Mehrheit erhalten hatten, in
Russland durchsetzen, weil ihre Hände nicht mehr durch den Krieg mit den
Mittelmächten gebunden waren. Für Deutschland war dadurch der verhängnisvolle
Zweifrontenkrieg beendet und die Oberste Heeresleitung konnte sich nun ganz auf
die Westfront konzentrieren.
Auch in der
Festungsstadt Brest bestand eine große jüdische Gemeinde mit ca. 65 Prozent der
Gesamtbevölkerung. Auch hier trieben die nationalsozialistischen
Polizeibataillone bis zu 20000 Juden in ein Ghetto zusammen und erschossen die
meisten von ihnen bei dem Dörfchen Bronnaja Gora ca. 110 Kilometer östlich von
Brest, wo eine „Erschießungsanlage“ und Massengräber existierten.
Diesen Ort
des reinsten Grauens kannte ich bisher überhaupt nicht.
Ohne es zu
merken waren wir offensichtlich durch die Hölle gefahren, jedenfalls durch eine
der Höllen, die „Menschen“ auf Erden „eingerichtet“ haben.
Und nun
waren wir an die Außengrenze der EU gekommen, von welcher wir wieder in einen
Mitgliedsstaat der Europäischen Union, also in das Land Polen, einreisen
wollten. Unser russisches Visum, das nach unseren Informationen auch für
Weißrussland Gültigkeit besaß, sollte am 31. August auslaufen. Danach mussten
wir Russland verlassen haben. Wir hatten noch drei Tage Zeit.
Es war
genau 14.00 Uhr, als wir uns in die Autoschlange an der Grenzstation
einreihten. Ich habe nicht gezählt, wie viele Autos hier warteten, aber es
waren gewiss mehrere hundert, die meisten mit weißrussischen Kennzeichen, viele
auch mit polnischen Kennzeichen. Ich sah nur drei mit deutschen und zwei mit
französischen Kennzeichen. Wir aßen im Auto unsere mitgebrachten Brote zu
Mittag und warteten geduldig, bis wir an die weißrussische Kontrollstation
gelangten, wo wir mehrmals Autopapiere und Pässe vorzeigen mussten. Wir
erfuhren voller Erstaunen, dass unser russisches Visum doch nicht in
Weißrussland gültig war, obwohl man es uns an der finnisch-russischen Grenze
mehrmals versichert hatte.
Wenn es
anders gewesen wäre, wären wir nicht zu Lilia, sondern über die baltischen
Staaten, die bereits zur Europäischen Union gehören, nach Hause gefahren. Das
war eigentlich ursprünglich mein Plan. Ich hätte gerne Tallin und Riga, die
beiden alten Hansestädte an der Ostsee besucht, womit unsere Reise, die ja in
Lübeck begonnen hatte, einen runden Abschluss gefunden hätte. Aber Lena hatte
Lilia versprochen, dass wir sie besuchen würden, und Geschenke für sie und ihre
Kinder besorgt.
Nun
wollten wir also von Weißrussland nach Polen „einreisen“. Eigentlich wollten
wir nur so schnell wie möglich nach Hause, denn unsere „Reise nach Sankt
Petersburg“ endete an diesem Tag mit der Abreise aus Dobrusch. Dazu mussten wir
Polen durchqueren.
Die
Grenzbeamten forderten uns auf, unser Auto auf einem mit Eisengitter
geschlossenen Parkplatz abzustellen und umschlossen den linken Vorderreifen mit
einer Wegfahrsperre aus Eisenkrallen. Wir waren an dieser Grenze die einzigen,
die so behandelt wurden. Alle anderen durften weiterfahren. Der junge
Zollbeamte nahm uns mit in ein dunkles Büro und verhörte Lena und mich eine
Stunde lang, während Olga, die einen russischen Pass besaß, beim Auto warten
musste. Sie durfte nicht einmal auf die Toilette gehen, geschweige denn in den
benachbarten „Duty-Free-Shop“.
Über das
Verhör wurde ein etwa zehnseitiges Protokoll in weißrussischer
Sprache angefertigt, das jeder von uns am Schluss mindestens fünfzehnmal unterschreiben
musste. Es wurde uns eine Strafe von je 30.- Euro auferlegt, weil wir kein
gültiges Visum besaßen.
Die Strafe
war laut Aussage des Beamten die günstigere Lösung, da die Visa selbst wohl das
Doppelte gekostet hätten. Wir sollten die Summe von 60.- Euro überweisen. Der
junge Weißrusse mit armenischen Wurzeln, der bereits seit drei Stunden in dem
kleinen, stickigen Büro ausharren musste, weil angeblich etwas mit seinem
Ausweis nicht stimmte, flüsterte mir auf Englisch zu, dass wir das Geld nicht
überweisen sollten. Der Beamte wies uns darauf hin, dass wir nicht wieder in
Weißrussland einreisen dürften, wenn wir nicht überweisen würden. Uns lag in
diesem Augenblick nichts ferner als dies. Nein, in dieses Land würden wir
gewiss nie wieder einreisen.
Immerhin
war der junge Beamte mit kurzgeschorenem rotblonden Haar und fünf Sternen auf
seiner Uniform einigermaßen freundlich, als er uns befragte. Er tat ja nur
seine Pflicht. Er hätte aber auch „ein Auge zudrücken“ können.
Es war
kurz nach 18.00 Uhr, als wir entlassen wurden und unser Auto von den Krallen
befreit wurde.
Nun
mussten wir uns einreihen in die nächste Schlange: wir befanden uns jetzt an
der polnischen Grenze. Es gab acht Reihen, eine davon war für Mitglieder der EU
vorgesehen. In diese Reihe stellten wir uns zuerst. Als wir aber sahen, dass es
überhaupt nicht vorwärts ging, reihten wir uns in die nächste Schlange ein, die
zu einem Schalter führte, der für „all pasports“ galt.
Nach einer
Wartezeit von einer weiteren Dreiviertelstunde zeigten wir wieder mehrmals unsere
Pässe. Die blondhaarige, hagere Grenzbeamtin (Lena: „Hexe“) antwortete mir sehr
unfreundlich auf Polnisch, als ich sie auf Englisch ansprach. Sie fragte, ob
wir Zigaretten, Wurst oder Milchprodukte dabei hatten. Olga hatte tatsächlich
drei Stangen Zigaretten, die sie in einem großen Supermarkt in Sankt Petersburg
für den Vater ihres Sohnes gekauft hatte, in ihrer Reisetasche, die auf
ihrem Koffer auf der linken Seite des Rücksitzes stand, ganz oben eingepackt.
Ich
antwortete auf Englisch, dass ich keine Zigaretten habe; da mischte sich Lena
auf Russisch ein und erklärte, dass wir pro mitfahrender Person eine Stange
dabei hätten. Wir waren der Meinung, dass diese Menge genehmigt war. Aber auch
hier irrten wir uns offenbar. Diese Menge durfte man seit einigen Monaten nur
im Flugzeug, nicht aber im Auto mitführen.
Wir wurden
zu einer Halle auf eine Grube geleitet, in der nun unser Auto von drei äußerst
unfreundlichen Polen von allen Seiten nach „Schmuggelware“ untersucht wurde.
Lena musste sogar ihre Handtasche öffnen. Wir wurden wie Diebe und Schmuggler
behandelt.
Natürlich
fanden wir diese unwürdige Behandlung skandalös und wehrten uns. Olga sollte
noch 100.- Euro Strafe zahlen, nachdem ihr bis auf sechs Päckchen alle
Zigaretten abgenommen worden waren. Sie weigerte sich beharrlich. Diesmal wurde
sie eine Stunde lang in einem Büro verhört, während Lena und ich im Auto
warteten.
Als wir
den letzten Posten passieren wollten, fuhr ich an den geöffneten Schalter vor,
weil ich der Meinung war, wir müssten unsere Pässe noch einmal vorlegen. Aber
auch da irrte ich mich. Der Beamte schrie mich wie ein Psychopath auf Polnisch
an und schließlich begriff ich, dass ich zu weit vorgefahren war. So stieß ich
ein wenig zurück bis zu einer Bodenschwelle. Aber das war dem Beamten immer
noch nicht genug und er schrie weiter. So fuhr ich noch weiter zurück, bis er
zufrieden war. Dann stellte er die Ampel auf Grün, öffnete gnädig den
Schlagbaum und wir waren „draußen“!
Es war
23.30 Uhr, als wir endlich losfahren und den Grenzfluss Bug überqueren durften.
Wir hatten fast zehn Stunden an dieser Grenze verbracht und wir schwuren uns,
dass wir nie wieder nach Polen reisen würden. Wir wollten so schnell wie
möglich durch dieses Land durchfahren, möglichst ohne anzuhalten und ohne einen
Sloty da zu lassen.
Wir waren
mehr als entrüstet über die Behandlung, die uns von Grenzbeamten eines
Mitgliedslandes der EU angetan worden war. Dagegen waren die Weißrussen direkt
freundlich. Aber von den Polen bekamen wir kein gutes Wort zu hören und nicht
ein Lächeln gezeigt.
Lena
erzählte mir, dass die Russen die Polen noch nie leiden mochten. Für sie sind die
Polen wie Hyänen, die gierig nach jedem hingeworfenem Aas schnappen. In
Deutschland gelten Polen als Diebe, besonders als Autodiebe. Lena erzählte von
einer polnischen Nachbarsfamilie in Hessental, die eines Tages mit einem
Lastwagen voll Fahrräder vorfuhr. Genau einen Tag zuvor war auch das nagelneue
Fahrrad ihres damals siebenjährigen Sohnes verschwunden. Die polnische
Familie stritt ab, dass sie es gestohlen hätte.
Ähnliche
Geschichten höre ich immer wieder von vielen Menschen.
Die etwa 200
Kilometer lange Fahrt von Brest nach Warschau auf der einspurigen europäischen
Fernstraße E 30 war etwas beschwerlich, da die Fahrt immer wieder durch
Geschwindigkeitsbegrenzungen gebremst wurde. Diese Strecke zog sich lange hin.
Erst in
Warschau gelangten wir auf eine mehrspurige Autobahn. Wir überquerten auf einer
großen Autobahnbrücke bei Nacht die Weichsel und fuhren dann zunächst in
Richtung Posen. Die alte Bischofs- und Handelsstadt beidseits der Warthe hätte
ich gerne einmal besucht.
Mein Navi,
das glücklicherweise in Polen wieder funktionierte, nachdem es in Schweden auf
der Hinfahrt nichts mehr anzeigte, führte mich sicher auf den durchweg gut
ausgebauten und zum Tell beleuchteten Autobahnen über Lodz nach Breslau, das
auf Polnisch „Wroclaw“ heißt.
Der Morgen
begann zu dämmern, als uns die Autobahn auf eine gigantischen Brücke über die
Oder und dann westlich an der Heimatstadt meiner Eltern vorbei führte.
Im Sommer 1992
war ich mit meiner Tante und einer Reisegruppe zum ersten Mal in Breslau. Damals
war die Stadt kurz nach der Wende ein Schutthaufen und die einzige Autobahn,
die von der Grenzstadt Görlitz an der Neiße nach Breslau führte, bestand aus
Betonplatten und war kaum mit 100 Stundenkilometern befahrbar. Nun schien sich
die Stadt, die im vergangenen Jahr europäische Kulturhauptstadt war, gemausert
zu haben. Überall sehe ich Reklametafeln von Burger-King, McDonald und von
großen Einkaufszentren oder Tankstellen. In den vergangenen 25 Jahren hat Polen
offenbar, mit Hilfe von EU-Subventionen, einen großen „Sprung nach vorne“
gemacht. Polen ist heute eine boomende Wirtschaftsnation.
Hier lässt
IKEA seine Billigmöbel bauen und amerikanische Firmen mästen in großen
Betrieben tausende von Schweinen, Gänsen, Puten und Hähnchen, deren hormon- und
antibiotikahaltiges Fleisch dann billig auf den europäischen Markt „geworfen“ wird,
wo es in den großen Supermärkten an die Menschen verkauft wird, die immer nur
„billig“ einkaufen wollen und nicht merken, dass sie nur gesundheitsschädlichen
„Müll“ erwerben. Andererseits bemühen sich zunehmend polnische landwirtschaftliche
Betriebe um den ökologischen Landbau und weiten die Öko-Anbaufläche ständig
aus. Sie liegt heute bei deutlich über einer halben Million Hektar.
Nachdem
wir Breslau passiert haben, geht um 6.00 Uhr deutscher Zeit hinter uns die
Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen lassen die Haare und Gesichter meiner
beiden schlafenden russischen Frauen rosa erglühen. Es beginnt ein wolkenloser
Sommertag, dessen Temperaturen bis auf 30° C ansteigen werden. Auf unserer
Reise hatten wir an keinem Tag Temperaturen über 24° C.
Im Süden
begrüßen mich die im blauen Dunst liegenden Ausläufer des Riesengebirges. Zum
ersten Mal seit drei Wochen Ebene sehe ich wieder Berge und ich freue mich wie
ein Kind über diesen Anblick. Für mich ist es wie ein ferner Gruß meiner einst
deutschen Heimat, mit der ich mich immer noch verbunden fühle.
Wir fahren
auch an Liegnitz vorbei, wo mein Vater die Ritterakademie besucht hat. Es ist der
Ort, an dem am 9. April 1241 bei einer mörderischen Schlacht mit den Mongolen
der schlesische Herzog Heinrich II. tot auf der Walstatt blieb. Der Sohn der
Heiligen Hedwig ruht heute in der Kirche Sankt Vinzenz in Breslau. Sein kunstvoll
gestaltetes Hochgrab habe ich 1992 besucht.
In
Liegnitz wendete sich das Schicksal Europas, denn die „Goldene Horde“ des Batu
Kahn, des Enkels von Dschingis Khan, die bis zum Atlantischen Ozean alle europäischen Länder erobern wollte, kehrte plötzlich um und stellte ihre Eroberungszüge ein.
Der Ort
wird auf den Schildern an der Autobahn als „Legnica“ bezeichnet. Ich kann mich
noch erinnern, wie 1992 alle Ortsnamen auf Verkehrsschildern und Straßenkarten zweisprachig,
also auf Polnisch und Deutsch, verzeichnet waren. Nun lese ich nur noch die für
mich geradezu unaussprechlichen polnischen Ortsnamen. Das fällt mir besonders
bei Görlitz auf, dessen östlicher Teil auf Polnisch Zgorzelek heißt. Der Name
Görlitz taucht auf den Autobahnschildern an keiner Stelle auf, obwohl bei
dieser Stadt an der Lausitzer Neiße die deutsch-polnische Grenze verläuft.
Wir halten
schon die Pässe bereit und sind auf ähnliche Schikane gefasst wie an der
weißrussisch-polnischen Grenze; aber es gibt nicht die geringste Spur von eine
Grenzanlage, geschweige denn eine Grenzkontrolle.
Als wir
weiter über Dresden, Chemnitz, Zwickau, Hof, Bayreuth, Nürnberg und Ansbach
nach Schwäbisch Hall fahren, müssen wir an einer nahezu ununterbrochenen
Kolonne von LKWs vorbeifahren, die fast alle aus Polen kommen. Nur ganz
vereinzelt treffen wir auf ein litauisches oder estnisches Kennzeichen und
manchmal sogar auf ein deutsches.
Einmal
musste ich in Polen tanken. Dabei habe ich mir auch einen Coffee-to-Go gekauft,
von dem ich immer wieder trank. In der ostdeutschen Raststätte Vogtland frühstückten
wir und ich tankte noch ein letztes Mal Diesel.
Um 12.45
Uhr waren wir in Schwäbisch Hall.
Der
Tachometer, den ich bei der Abreise am 04. August 2017 auf 0 gestellt hatte, stand
auf 6389,5 Kilometern.
Es war
meine bisher längste Autoreise, die an diesem 30. August zu Ende ging.
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