(...) Genau der
gleiche Altersunterschied von 14 Jahren bestand, wie ich gerade heute erfuhr,
zwischen Lou Andrea-Salome und Rainer Maria Rilke. Der spätere Schriftsteller
Boris Pasternak erinnert sich in seinem autobiografischen „Geleitbrief“ an die
Begegnung mit den beiden in einem Schnellzug von Moskau nach Kiew. Damals war
er zehn Jahre alt und in Begleitung seines Vaters, dem Maler Leonid Pasternak.
Dreißig Jahre später beginnt er seine Autobiografie mit dem Bericht von dieser
ersten Begegnung, die für den russischen Schriftsteller und Autor von „Doktor
Schiwago“ offenbar sehr wichtig war:
„An einem
heißen Sommermorgen des Jahres 1900 verließ ein Schnellzug den Kursker Bahnhof
in Moskau. Unmittelbar vor der Abfahrt trat ein Mann im schwarzen Tiroler
Umhang an das Fenster unseres Abteils. Mit ihm eine hochgewachsene Frau. Sie
mochte wohl seine Mutter oder seine ältere Schwester sein.“
Der Mann
im Tiroler Umhang war der damals knapp 25-jährige Rainer Maria Rilke und die
Frau, die seine Mutter sein könnte, die 39-jährige Lou Andreas-Salome. Diese in
Sankt Petersburg geborene ungewöhnliche Russin war damals also genauso alt wie
Lenas Schwester Olga heute, mit der wir meine erste Russlandreise unternommen
haben.
Rilke war
zweimal in Russland: 1899 und 1900.
Eben habe ich
mich in dem Katalog zur Ausstellung, die wir vor ein paar Monaten in Marbach
angeschaut haben, wieder mit diesen beiden Reisen beschäftigt und mich dabei wieder
an das wunderbare Gedicht erinnert, das ich meiner estnischen Facebook-Freundin
Hela Erenpreis bei ihrem Besuch im vergangenen September vorgetragen habe: „Es
neigt sich die Stunde und rührt mich an/mit klarem, metallenem Schlag.“
Rilke hat
Russland mit seiner Dichterseele verklärt. Er hat dort tiefe religiöse
Erfahrungen machen dürfen. Die habe ich auch gemacht, aber mehr noch habe ich
die Schattenseiten erleben müssen, die Russland heute beinahe westlicher
erscheinen lassen als den Westen: überall gibt es gefüllte Supermärkte, dicke
westliche Autos, vorwiegend SUVs, und betriebsame sinnlose Hektik. Dieses Land
hat noch nicht zu sich selbst gefunden. Die Menschen wissen nicht mehr, wohin
sie gehören. Der Kapitalismus ist dabei, die Menschen dieses Landes zu
verderben, nachdem ihnen der Kommunismus den Glauben ausgetrieben hat. Ich
erlebte den reinsten Materialismus allerorten. Ikonen und Kirchen sind nur noch
Schmuckstücke, die meisten Gottesdienste nur noch schöne theatralische Rituale.
Sankt Petersburg mit seinen Palästen lebt vom Glanz vergangener Tage.
Im Katalog
zur Ausstellung, den ich heute Abend wieder vorgenommen hatte, heißt es auf
Seite 106:
„Der junge
Rilke hatte 1899 in der Moskauer Osternacht nicht nur das ‚Herz Russlands“
schlagen gehört und erkannt, dass dieses Land das einzige sei, ‚durch welches
Gott noch mit der Erde zusammenhängt‘. Er hatte mit den ‚alten, nachgedunkelten
Ikonen‘ auch das wichtigste Symbol der russischen Frömmigkeit kennengelernt, in
das er den gefährdeten Gott der europäischen Tradition gerettet sah.“
Auf der
gegenüber liegenden Seite 107 des Katalogs ist die schon einmal erwähnte Ikone
aus Rilkes Besitz abgebildet, die die heilige Dreieinigkeit von Glaube (Vera),
Liebe (Ljubov) und Hoffnung (Nadeschda) zeigt. Die drei christlichen
Kardinaltugenden „Fides“, „Caritas“ und „Spes“, die zum Beispiel auch auf dem
Baldachin der Kanzel in der Ellwanger Sankt-Vitus-Basilika als Allegorien
stehen, erscheinen hier auf der Ikone als die drei Töchter der Heiligen Sophia.
Plötzlich
erinnere ich mich, dass wir an jenem 20. August, der für mich mit Abstand der
wichtigste Tag unserer Russlandreise war, eine Frau namens Nadeschda getroffen
haben, die uns zuerst die Dreifaltigkeitskirche und später den Park von
Oranienbaum gezeigt hat. Durch sie haben wir letztlich auch Vater Andrej
kennengelernt.
Wenn Lenas
Mutter durch ihren Namen „Tatjana“ und ihre unbändige Energie einen
wesentlichen Teil der russischen Seele verkörpert, so zeigt Nadeschda durch
ihren Namen die „Hoffnung“ an, dass es eines Tages im Sinne von Herder, der in
seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ zum ersten Mal vom
Slawentum als dem Träger einer zukünftigen Kultur sprach und die „Slawen im
Ganzen als friedliebend, jugendlich, leidbegabt und naturverbunden“ (Katalog S
14) bezeichnete, dazu kommen wird, dass diese Völker tatsächlich die Träger der
zukünftigen Sechsten Kulturepoche des Geistselbst werden, die auf wahrer
Brüderlichkeit – und nicht auf falschem Sozialismus – aufgebaut ist.
Schwäbisch Hall, der 03. September 2017
(Sonntag, 4.55 Uhr)
Gestern
habe ich mich mit einem deutschen Dichter beschäftigt, der um die Wende vom 19.
Zum 20. Jahrhundert in Russland seine Seele entdeckt hat und in dem berühmten
Gedicht aus dem „Buch vom mönchischen Leben“ nach der ersten Reise (vom 25.04.
– 18.06.1899) im Herbst 1899 meinte, dass „nichts (…) noch vollendet (war), eh ich
es erschaut“ und behauptet: „meine Blicke sind reif, und wie eine Braut, kommt
jedem das Ding, das er will.“
Bereits am
Donnerstag las ich in dem Buch „Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877 – 1916“
von Generaloberst Helmuth von Moltke das Kapitel über seinen zweiten Besuch in
Sankt Petersburg im Oktober 1895 noch einmal. Ich hatte die Erstausgabe des
Bandes aus dem Jahr 1922 einmal in der Bibliothek der Anthroposophischen
Gesellschaft von Heidenheim erhalten, in der mehrere Exemplare standen. Später
(am 20.11.1999) habe ich für fast 100 Euro die zweibändige Neuausgabe aus dem
Perseus-Verlag in Basel nach einem Vortragsabend mit Thomas Meyer gekauft und
den ersten Band unmittelbar darauf ganz gelesen. Es ist ein einmaliges
Zeitdokument eines bedeutenden Mannes und Freundes von Rudolf Steiner.
Moltke war
am Michaelstag 1895 in Sankt Petersburg angekommen, um im Auftrag von Kaiser
Wilhelm II. Zar Nikolaus II. ein „Handschreiben“ und ein Bild des Malers
Hermann Knackfuß (1848 – 1915) zu überreichen, das dieser im Auftrag des
Kaisers und nach seinen Angaben gemalt hat.[1]
Es trägt
den Titel „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter“
Helmuth
von Moltke beschreibt es so:
„Das Bild
zeigt eine Gruppe weiblicher Figuren, die im antiken Kostüm, in der Art der
Walküren, auf einem Felsvorsprung stehen und über eine mit blühenden Städten,
schiffbefahrenen Flüssen und beackerten Feldern bedeckte Ebene hinwegschauen.
Sie stellen die europäischen Staaten vor. Im Vordergrunde Deutschland, eng an
dasselbe geschmiegt Russland, zur Seite Frankreich, dahinter Österreich,
Italien, England usw.
Vor ihnen
steht, mit der Hand in die Ferne weisend, das Flammenschwert in der anderen,
der Cherub des Krieges[2], über der Gruppe schwebt,
von Strahlen umgeben das Kreuz. Hinter der blühenden Landschaft, die Handel und
Gewerbe, europäische Kultur und Gesittung versinnbildlicht, sieht man den
qualmend aufsteigenden Rauch einer brennenden Stadt. Der Schwaden zieht in
dicken Wolken, die sich zur Form eines Drachens zusammenballen, drohend heran.
Aus dem Qualm steigt das Bild Buddhas auf, das mit stieren, kalten Augen auf
die Zerstörung blickt. – Der Sinn des Ganzen ist der in der Zukunft
heraufdämmernde Existenzkampf der weißen und gelben Rasse. – Die Idee zu dem
Bilde ist Sr. Majestät gekommen, wie bei Abschluss der Friedenspräliminarien
zwischen China und Japan die Gefahr vorlag, dass die ungeheure Masse des
chinesischen Reiches, auf dessen Entwicklung Japan einen entscheidenden
Einfluss zu gewinnen suchte, durch dieses tätige, nach expansiver Entwicklung
strebende Land organisiert und in Gärung gebracht werden könnte, und dass dann
die Woge der gelben Rasse sich verderbenbringend über Europa ergießen würde.[3] Unter dem Bild stehen, von
der Hand des Kaisers geschrieben, die Worte: ‚Völker Europas, wahrt eure
heiligsten Güter‘.“
Moltke
fährt dann fort:
„Ich
verfehlte nicht, nachdem ich die Erläuterung gegeben, hinzuzufügen, dass diese
Gefahr durch die Weisheit der Politik und des gemeinsamen Handelns Russlands,
Deutschlands und Frankreichs vorläufig zurückgedämpft sei. – Der Kaiser (Zar
Nikolaus II.) interessierte sich lebhaft für die Zeichnung, und ich musste ihm
alle Details erklären. – Ich wies darauf hin, wie in den Silhouetten der Städte
die Kuppel der orthodoxen Kirche neben dem Turm des protestantischen Münsters
aufrage, und als der Kaiser auf eine Stadt deutend fragte, ob das Moskau sein
solle, erwiderte ich, dass ich zwar nicht wüsste, ob Se. Majestät, mein
allergnädigster Herr, gerade diese Stadt im Auge gehabt habe, dass aber Moskau
sicherlich ebenso bedroht sein würde wie jede andere europäische Stadt.“
Nachdem
Helmuth von Moltke dem Kaiser das Bild im Alexander-Palast von Zarskoje Selo
überreicht und erläutert hatte, wurde er zur Kaiserin Alexandra Fjodorowna vorgelassen.
Dieses Ereignis beschreibt der Generaloberst so:
„Ich ließ
mich nun bei Ihrer Majestät anmelden. Nach kurzer Zeit wurde ich zur Kaiserin
geführt, die mich ganz alleine empfing. Es war auch hier keine Dame zugegen,
und die Anmeldung erfolgte ebenfalls durch einen Kammerdiener. Die Kaiserin sah
vortrefflich aus. Sie hatte frische Farben, strahlende Madonnaaugen und sah in
ihrem faltigen Trauerkleide[4] aus wie eine wahre
Kaiserin. – Sie unterhielt sich sehr freundlich mit mir, ich musste erzählen
von dem Kaiser aus Rominten[5], von der Kaiserin und den
Kindern, und wie sie mir zum Abschied
die Hand reichte, führte ich sie mit der Empfindung an die Lippen, dass
die Russen ihrem orthodoxen Gott wohl dankbar sein können, dass er einen
solchen Lichtengel auf den Thron des Zarenreiches berufen hat.“
Am 3.
Oktober 1895 war Oberst Moltke noch einmal in Zarskoje Selo bei Zar Nikolaus
II. Es war die „Abschiedsaudienz“. Dabei ging der Zar auf die Kaiser Wilhelm
offenbar beunruhigenden Gerüchte aus Paris ein und sagte, in den Worten Moltkes
„etwa folgendes“:
Se.
Majestät beunruhigen sich wegen der Anwesenheit meines Ministers Lobanoff[6] in Frankreich. Derselbe
hatte von mir Urlaub ins Bad erbeten, und telegrafierte mir von dort, ob ich
gestatte, dass er der Revue beiwohne, die ihn sehr interessiere. Ich antwortete,
dass ich nichts dagegen einzuwenden habe. Ich hatte ihm bei seiner Abreise den
Auftrag gegeben, in beruhigendem Sinne auf die Franzosen zu wirken. Nachdem ich
nun gesehen und auch durch den Brief Sr. Majestät aufs neue darauf hingewiesen
worden bin, dass im Gegenteil der französische Chauvinismus lebhaft erregt
worden ist, habe ich Lobanoff aufs neue telegraphisch befohlen (und bei dem
letzten Wort stießen Se. Majestät energisch mit dem Zeigefinger auf die
Tischplatte), sich nicht nur jeden demonstrativen Auftretens zu enthalten,
sondern auch den französischen Chauvinismus abzukühlen, wo er ihm
entgegentritt. Ich habe ihm ferner befohlen, auf seiner Rückreise eine Audienz
bei Sr. Majestät dem Kaiser nachzusuchen, und stelle es Allerhöchstdemselben
anheim, ob er ihn empfangen will. Wenn er ihn empfängt, wird er aus seinem
Munde dasselbe hören, was ich Ihnen jetzt sage. Es war mir bisher nicht
genügend bekannt, wie leicht die Franzosen Feuer fangen. Hätte ich dies gewusst
und vorhersehen können, so hätte ich weder Lobanoff noch Dragomirow[7] die Erlaubnis erteilt,
nach Frankreich zu gehen, und ich werde in Zukunft vorsichtiger mit meinen
Herren sein.“
In
Frankreich wurden während der Dritten Republik (1870 – 1945), die oft auch als
„Freimaurer-Republik“ bezeichnet wird, weil ein Großteil der Minister
Mitglieder im „Grand Orient de France“ waren, nach dem Sieg Deutschlands über
Kaiser Napoleon III. im von Frankreich angezettelten „Deutsch Französischen
Krieg“, bei dem Frankreich Elsass-Lothringen abgeben musste, systematisch
Revanche-Gefühle geschürt, vor allem später unter dem Lothringer Finanz- und
Kulturminister, dann Ministerpräsidenten und schließlich Staatspräsidenten
Raymond Poincare (1860 – 1934), der die Deutschen hasste, seit er als
Zehnjähriger mit ansehen musste, wie sie seine Heimatstadt Bar le Duc
eroberten. Damals wurden schon die Pläne eines französisch-russischen
Bündnisses geschmiedet und es ist allzu verständlich, dass Deutschland in
Gestalt von Kaiser Wilhelm beunruhigt war.
Dann lässt
sich Zar Nikolaus über die Presse aus, die schon damals vorwiegend in der Hand
von jüdischen Redakteuren lag:
„Se.
Majestät kamen dann auf die französische Presse zu sprechen, äußerten sich
darüber, wieviel Unheil die Presse schon in der Welt angerichtet, und fuhren
dann fort: ‚Ich vermute, dass Se. Majestät in der Stille seines
Jagdaufenthalts, wo keiner seiner Minister bei ihm war, erregt worden ist,
durch die Lektüre der Zeitungsausschnitte, und ich kann dies vollkommen
begreifen. Wenn man nur in dieser Form die Nachrichten aus Frankreich liest, so
kann ich mir denken, dass die Nachrichten von dort alarmierend wirken müssen.
Ich selber habe mir die Zeitungsausschnitte verbeten, die man mir zuerst auch
vorlegen wollte. Ich fürchte durch sie nur Kenntnis zu erhalten von einer
bestimmten Richtung, die zu bestimmen in der Hand desjenigen liegt, der
Ausschnitte auswählt und anfertigt. Ich lese stattdessen eine deutsche (…),
eine französische (…), eine englische und eine russische Zeitung, - letztere
nicht gern, denn sie taugen alle nichts, und indem ich so die verschiedenen
Stimmen höre, suche ich mir mein Urteil selber zu bilden. Ich lege aber nicht
zu viel Wert auf die Zeitungen, denn ich weiß, wie sie gemacht werden. Da sitzt
irgendein Jude, der sein Geschäft damit macht, wenn er die Leidenschaften der
Völker gegeneinander aufhetzt, und das Volk, meist ohne eigenes politisches
Urteil, hält sich an die Phrase. Deswegen werde ich auch die russische Presse
nie freigeben, solange ich lebe. Die russische Presse soll nur schreiben, was
ich will (und damit stießen Se. Majestät wieder mit dem Zeigefinger auf den
Tisch), und im ganzen Land darf nur mein Wille herrschen.‘
Se. Majestät
führten sodann aus, wie der Russisch-türkische Krieg nur den Hetzereien der
Presse zu verdanken sei, und wie diese auch jetzt die Beziehungen zwischen
Deutschland und Russland sowie Frankreich verderbe und die Empfindungen
verbittere, und sagten dann: ‚Zwischen Deutschland und Russland ist seit
hundertfünfzig Jahren kein Krieg gewesen. Deutschland hat sich mit ungefähr
allen seinen Nachbarn geschlagen, nur mit uns nicht, und es ist auch ein
Unding, an einen Krieg zwischen Deutschland und Russland zu denken, da diese
beiden Länder gar keine miteinander kollidierenden Interessen haben.‘
Russland
war nach der „Aufteilung“ Polens am Ende des 18. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg
unmittelbarer Nachbar des Deutschen Reiches.
Moltke
fährt fort:
„Sodann
erzählte Se. Majestät, dass ihm aus den deutsch-russischen Grenzdistrikten
laufend Berichte zugingen, aus denen Er zu Seiner Freude ersehe, wie das
Verhältnis zwischen den beiderseits an
der Grenze stehenden Truppen ein
ausgezeichnet gutes sei. Die Offiziere machten sich gegenseitig Besuche, lüden
sich ein und hielten gute Kameradschaft. Alles Nachrichten, worüber Er Sich
aufrichtig freue. Hier wenigstens sei nichts von der Animosität zu bemerken,
die sich in der Presse breit mache.
Ich
bemerkte nun: ‚Wollen Ew. Majestät mir allergnädigst erlauben, noch einmal
darauf zurückzukommen, dass wir nach den Gesinnungen, die Ew. Majestät äußern,
gewiss keinen Grund haben, Besorgnisse von seiten Russlands zu hegen. Das was
wir aber befürchten müssen, ist das leicht erregbare Temperament der
französischen Nation, das natürlich durch die Anwesenheit der russischen
Generäle und Staatsmänner noch mehr erhitzt wird.‘ Der Kaiser erwiderte: ‚Ich
weiß es, aber sagen Sie dem Kaiser, dass ich die Ruhe aufrecht erhalten werde.
(…) Es liegt mir außerordentlich viel daran, dass wir (Deutschland und
Russland) die guten Beziehungen zueinander aufrecht halten. Wir sind gegen Sie
noch weit zurück, haben unendlich viel zu tun im Innern. Wir produzieren
hauptsächlich Getreide, Sie industrielle Waren, die wir austauschen müssen. Ein
Krieg zwischen uns würde beiden Völkern unendliches Leid bringen.“
Diese
Worte, wiedergegeben von einem sensiblen, doch exakten Militär, der anders als
der Dichter Rilke nicht so schnell ins Schwärmen gerät, wurden von Zar Nikolaus
II. 19 Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges gesprochen, dessen
verhängnisvollen Folgen bis heute auf Deutschland lasten.
Schwäbisch Hall, der 04. September 2017
(6.00 Uhr)
Gestern
habe ich den ganzen Tag nichts anderes getan, als mich in das Leben des Zaren
Nikolaus II. zu vertiefen. Ich las die
ersten 200 Seiten der Biografie von Edward Radsinski, „Nikolaus II. – Der
letzte Zar und seine Zeit“[8], ein Taschenbuch, das ich
bereits vor 20 Jahren (am 4. April 1997) in Pforzheim gekauft hatte und das bis
jetzt ungelesen in meinem Bücherschrank gestanden und mindestens fünf Umzüge
erlebt hat.
Ich bin
nicht einmal in die Kirche gegangen, obwohl ich mich nach über vier Wochen
wieder nach einem Gottesdienst oder der Menschenweihehandlung gesehnt hatte. Auch den
Fernseher habe ich nicht eingeschaltet, nicht einmal zur Tagesschau und auch
nicht für das Fernsehduell zwischen Kanzlerin Merkel und SPD-Kanzlerkandidat
Schulz.[9].
Ich war
vollkommen vertieft in jene Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges und
konnte dem Zar und seiner Frau, der Deutschen Alix von Hessen-Darmstadt, durch
die abgedruckten Briefe und Tagebuchauszüge tief in die Seelen schauen.
Durch das
Geschenk von Vater Andrej, das Bild von der Zarenfamilie, das nun in meinem
Schlafzimmer steht, fühle ich mich beinahe schicksalhaft mit diesen Menschen,
die auf so tragische Weise enden mussten, verbunden.
Selten war
ich so motiviert, mich mit einer Biografie eines Monarchen zu beschäftigen wie
nach unserer Reise, bei der ich die meisten Orte der Handlung persönlich
kennenlernen durfte. So steht alles noch viel plastischer und klarer vor meinem
inneren Auge, so als könnte ich den Zar, seine arme Frau und seine Kinder
persönlich auf ihren Gängen durch die Orte und die Zeit begleiten. Ein großes
Rätsel bleibt dabei der sibirische Bauer Grigori Rasputin, der in dem Buch von
Radsinski öfters als „der Heilige Teufel“ oder auch als „der böse Genius des
russischen Volkes“ bezeichnet wird.
Die
gesamte weitverzweigte Romanov-Familie stellte sich gegen diesen „Heiligen
Starez“ und schließlich sogar gegen die feindliche „deutsche Spionin“ auf dem
Zarenthron. Nur Zarin Alexandra Fjodorowna hielt zu ihm und schrieb ihrem Mann
zum Beispiel am 16. Juni 1915 ins Hauptquartier der Russischen Armee folgende
Worte über den „Freund“:
„Mir ist
schwer und traurig ums Herz. Ich muss immer daran denken, was unser Freund
sagt. Oft schenken wir seinen Worten nicht die nötige Aufmerksamkeit. Er war so
gegen Deine Abreise ins Hauptquartier, weil sie Dich dort zwingen können, Dinge
zu tun, die besser unterbleiben sollten. Wenn er Dir von irgendeiner Sache
abrät und Du nicht auf ihn hörst, stellst Du im Nachhinein jedes Mal fest, dass
Du unrecht hattest. Er (Nikolascha) missbilligt Grigoris Besuche in unserem
Haus, darum hält er Dich im Hauptquartier fest, möglichst weit weg von ihm. Wenn
sie nur wüssten, diese blinden Menschen, wie sie Dir mit ihrem Hass auf Grigori
schaden, statt Dir zu helfen. Erinnere Dich, in einem Buch, das wir lasen,
stand geschrieben, das Land, das von einem Gottesmann gelenkt werde, könne
nicht zugrunde gehen. Oh, lass Dich mehr von ihm lenken.“ (Radsinski, S 158)
[2]
Erzengel Michael, der Schutzpatron Deutschlands, wie Sankt Georg sowohl der
Schutzpatron Russlands als auch Groß-Britanniens ist.
[3]
In gewisser Beziehung hatte der Kaiser die Zukunft richtig vorausgesehen.
Sowohl in Rom 2015 als auch jetzt wieder in Sankt Petersburg sah ich Scharen
von Asiaten – vielleicht Chinesen, vielleicht Südkoreaner – sich busseweise über
die Haupt-Sehenswürdigkeiten „ergießen“. Sie waren überall und fotografierten
ohne Verstand alles, was ihnen vor die teure Kamera (meist der Marke Nikon)
kam. Die Museumswärterin, mit der sich Lena in der Eremitage lange unterhielt,
war entsetzt, wie respektlos „die Chinesen“ alles berührten oder
fotografierten. Einmal riss ein Chinese Lena einen Schmucklöffel aus der Hand,
den sie an einem Souvenirstand beim „Ehernen Reiter“ auf dem Senatsplatz
westlich der Admiralität gerade anschaute und praktisch schon gekauft hatte. Im
Katharinen-Palast in Zarskoje Selo drängte sich ein älterer Chinese mit seiner
Frau an der wartenden Schlange vorbei und stellte sich ganz vorne an.
[4]
Ein Jahr zuvor war der Vater von Zar Nikolaus II., Alexander III. gestorben.
[5]
Das erst 1890 im schwedischen Stil eingerichtete Jagdschlösschen in der
Rominter Heide bei Königsberg war Kaiser Wilhelms gern besuchter Landsitz, von
dem der leidenschaftliche Jäger zu seinen Touren aufbrach.
[6]
Alexej Lobanov Rostovsky (1824 – 1896), ein Nachkomme von Rurik, war von 18.
März 1895 bis zu seinem Tod am 30. August 1896 Außenminister Russlands unter
Zar Nikolaus II. https://en.wikipedia.org/wiki/Aleksey_Lobanov-Rostovsky
[7]
Michail Iwanowitsch Dragomirow (1830 – 1905) war ein General der russischen
Armee. https://de.wikipedia.org/wiki/Michail_Iwanowitsch_Dragomirow
[8]
Die Originalausgabe erschien 1992, bereits im gleichen Jahr die deutsche Übersetzung
von Renate Landa
[9] Lena hat es angeschaut.
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