Mittwoch, 6. September 2017

Nach der Reise

(...) Genau der gleiche Altersunterschied von 14 Jahren bestand, wie ich gerade heute erfuhr, zwischen Lou Andrea-Salome und Rainer Maria Rilke. Der spätere Schriftsteller Boris Pasternak erinnert sich in seinem autobiografischen „Geleitbrief“ an die Begegnung mit den beiden in einem Schnellzug von Moskau nach Kiew. Damals war er zehn Jahre alt und in Begleitung seines Vaters, dem Maler Leonid Pasternak. Dreißig Jahre später beginnt er seine Autobiografie mit dem Bericht von dieser ersten Begegnung, die für den russischen Schriftsteller und Autor von „Doktor Schiwago“ offenbar sehr wichtig war:
„An einem heißen Sommermorgen des Jahres 1900 verließ ein Schnellzug den Kursker Bahnhof in Moskau. Unmittelbar vor der Abfahrt trat ein Mann im schwarzen Tiroler Umhang an das Fenster unseres Abteils. Mit ihm eine hochgewachsene Frau. Sie mochte wohl seine Mutter oder seine ältere Schwester sein.“
Der Mann im Tiroler Umhang war der damals knapp 25-jährige Rainer Maria Rilke und die Frau, die seine Mutter sein könnte, die 39-jährige Lou Andreas-Salome. Diese in Sankt Petersburg geborene ungewöhnliche Russin war damals also genauso alt wie Lenas Schwester Olga heute, mit der wir meine erste Russlandreise unternommen haben.
Rilke war zweimal in Russland: 1899 und 1900.
Eben habe ich mich in dem Katalog zur Ausstellung, die wir vor ein paar Monaten in Marbach angeschaut haben, wieder mit diesen beiden Reisen beschäftigt und mich dabei wieder an das wunderbare Gedicht erinnert, das ich meiner estnischen Facebook-Freundin Hela Erenpreis bei ihrem Besuch im vergangenen September vorgetragen habe: „Es neigt sich die Stunde und rührt mich an/mit klarem, metallenem Schlag.“
Rilke hat Russland mit seiner Dichterseele verklärt. Er hat dort tiefe religiöse Erfahrungen machen dürfen. Die habe ich auch gemacht, aber mehr noch habe ich die Schattenseiten erleben müssen, die Russland heute beinahe westlicher erscheinen lassen als den Westen: überall gibt es gefüllte Supermärkte, dicke westliche Autos, vorwiegend SUVs, und betriebsame sinnlose Hektik. Dieses Land hat noch nicht zu sich selbst gefunden. Die Menschen wissen nicht mehr, wohin sie gehören. Der Kapitalismus ist dabei, die Menschen dieses Landes zu verderben, nachdem ihnen der Kommunismus den Glauben ausgetrieben hat. Ich erlebte den reinsten Materialismus allerorten. Ikonen und Kirchen sind nur noch Schmuckstücke, die meisten Gottesdienste nur noch schöne theatralische Rituale. Sankt Petersburg mit seinen Palästen lebt vom Glanz vergangener Tage.
Im Katalog zur Ausstellung, den ich heute Abend wieder vorgenommen hatte, heißt es auf Seite 106:
„Der junge Rilke hatte 1899 in der Moskauer Osternacht nicht nur das ‚Herz Russlands“ schlagen gehört und erkannt, dass dieses Land das einzige sei, ‚durch welches Gott noch mit der Erde zusammenhängt‘. Er hatte mit den ‚alten, nachgedunkelten Ikonen‘ auch das wichtigste Symbol der russischen Frömmigkeit kennengelernt, in das er den gefährdeten Gott der europäischen Tradition gerettet sah.“
Auf der gegenüber liegenden Seite 107 des Katalogs ist die schon einmal erwähnte Ikone aus Rilkes Besitz abgebildet, die die heilige Dreieinigkeit von Glaube (Vera), Liebe (Ljubov) und Hoffnung (Nadeschda) zeigt. Die drei christlichen Kardinaltugenden „Fides“, „Caritas“ und „Spes“, die zum Beispiel auch auf dem Baldachin der Kanzel in der Ellwanger Sankt-Vitus-Basilika als Allegorien stehen, erscheinen hier auf der Ikone als die drei Töchter der Heiligen Sophia.
Plötzlich erinnere ich mich, dass wir an jenem 20. August, der für mich mit Abstand der wichtigste Tag unserer Russlandreise war, eine Frau namens Nadeschda getroffen haben, die uns zuerst die Dreifaltigkeitskirche und später den Park von Oranienbaum gezeigt hat. Durch sie haben wir letztlich auch Vater Andrej kennengelernt.
Wenn Lenas Mutter durch ihren Namen „Tatjana“ und ihre unbändige Energie einen wesentlichen Teil der russischen Seele verkörpert, so zeigt Nadeschda durch ihren Namen die „Hoffnung“ an, dass es eines Tages im Sinne von Herder, der in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ zum ersten Mal vom Slawentum als dem Träger einer zukünftigen Kultur sprach und die „Slawen im Ganzen als friedliebend, jugendlich, leidbegabt und naturverbunden“ (Katalog S 14) bezeichnete, dazu kommen wird, dass diese Völker tatsächlich die Träger der zukünftigen Sechsten Kulturepoche des Geistselbst werden, die auf wahrer Brüderlichkeit – und nicht auf falschem Sozialismus –  aufgebaut ist.
Schwäbisch Hall, der 03. September 2017 (Sonntag, 4.55 Uhr)
Gestern habe ich mich mit einem deutschen Dichter beschäftigt, der um die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert in Russland seine Seele entdeckt hat und in dem berühmten Gedicht aus dem „Buch vom mönchischen Leben“ nach der ersten Reise (vom 25.04. – 18.06.1899) im Herbst 1899 meinte, dass „nichts (…) noch vollendet (war), eh ich es erschaut“ und behauptet: „meine Blicke sind reif, und wie eine Braut, kommt jedem das Ding, das er will.“
Bereits am Donnerstag las ich in dem Buch „Erinnerungen, Briefe, Dokumente 1877 – 1916“ von Generaloberst Helmuth von Moltke das Kapitel über seinen zweiten Besuch in Sankt Petersburg im Oktober 1895 noch einmal. Ich hatte die Erstausgabe des Bandes aus dem Jahr 1922 einmal in der Bibliothek der Anthroposophischen Gesellschaft von Heidenheim erhalten, in der mehrere Exemplare standen. Später (am 20.11.1999) habe ich für fast 100 Euro die zweibändige Neuausgabe aus dem Perseus-Verlag in Basel nach einem Vortragsabend mit Thomas Meyer gekauft und den ersten Band unmittelbar darauf ganz gelesen. Es ist ein einmaliges Zeitdokument eines bedeutenden Mannes und Freundes von Rudolf Steiner.
Moltke war am Michaelstag 1895 in Sankt Petersburg angekommen, um im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. Zar Nikolaus II. ein „Handschreiben“ und ein Bild des Malers Hermann Knackfuß (1848 – 1915) zu überreichen, das dieser im Auftrag des Kaisers und nach seinen Angaben gemalt hat.[1]
Es trägt den Titel „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter“
Helmuth von Moltke beschreibt es so:
„Das Bild zeigt eine Gruppe weiblicher Figuren, die im antiken Kostüm, in der Art der Walküren, auf einem Felsvorsprung stehen und über eine mit blühenden Städten, schiffbefahrenen Flüssen und beackerten Feldern bedeckte Ebene hinwegschauen. Sie stellen die europäischen Staaten vor. Im Vordergrunde Deutschland, eng an dasselbe geschmiegt Russland, zur Seite Frankreich, dahinter Österreich, Italien, England usw.

Vor ihnen steht, mit der Hand in die Ferne weisend, das Flammenschwert in der anderen, der Cherub des Krieges[2], über der Gruppe schwebt, von Strahlen umgeben das Kreuz. Hinter der blühenden Landschaft, die Handel und Gewerbe, europäische Kultur und Gesittung versinnbildlicht, sieht man den qualmend aufsteigenden Rauch einer brennenden Stadt. Der Schwaden zieht in dicken Wolken, die sich zur Form eines Drachens zusammenballen, drohend heran. Aus dem Qualm steigt das Bild Buddhas auf, das mit stieren, kalten Augen auf die Zerstörung blickt. – Der Sinn des Ganzen ist der in der Zukunft heraufdämmernde Existenzkampf der weißen und gelben Rasse. – Die Idee zu dem Bilde ist Sr. Majestät gekommen, wie bei Abschluss der Friedenspräliminarien zwischen China und Japan die Gefahr vorlag, dass die ungeheure Masse des chinesischen Reiches, auf dessen Entwicklung Japan einen entscheidenden Einfluss zu gewinnen suchte, durch dieses tätige, nach expansiver Entwicklung strebende Land organisiert und in Gärung gebracht werden könnte, und dass dann die Woge der gelben Rasse sich verderbenbringend über Europa ergießen würde.[3] Unter dem Bild stehen, von der Hand des Kaisers geschrieben, die Worte: ‚Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter‘.“
Moltke fährt dann fort:
„Ich verfehlte nicht, nachdem ich die Erläuterung gegeben, hinzuzufügen, dass diese Gefahr durch die Weisheit der Politik und des gemeinsamen Handelns Russlands, Deutschlands und Frankreichs vorläufig zurückgedämpft sei. – Der Kaiser (Zar Nikolaus II.) interessierte sich lebhaft für die Zeichnung, und ich musste ihm alle Details erklären. – Ich wies darauf hin, wie in den Silhouetten der Städte die Kuppel der orthodoxen Kirche neben dem Turm des protestantischen Münsters aufrage, und als der Kaiser auf eine Stadt deutend fragte, ob das Moskau sein solle, erwiderte ich, dass ich zwar nicht wüsste, ob Se. Majestät, mein allergnädigster Herr, gerade diese Stadt im Auge gehabt habe, dass aber Moskau sicherlich ebenso bedroht sein würde wie jede andere europäische Stadt.“
Nachdem Helmuth von Moltke dem Kaiser das Bild im Alexander-Palast von Zarskoje Selo überreicht und erläutert hatte, wurde er zur Kaiserin Alexandra Fjodorowna vorgelassen. Dieses Ereignis beschreibt der Generaloberst so:
„Ich ließ mich nun bei Ihrer Majestät anmelden. Nach kurzer Zeit wurde ich zur Kaiserin geführt, die mich ganz alleine empfing. Es war auch hier keine Dame zugegen, und die Anmeldung erfolgte ebenfalls durch einen Kammerdiener. Die Kaiserin sah vortrefflich aus. Sie hatte frische Farben, strahlende Madonnaaugen und sah in ihrem faltigen Trauerkleide[4] aus wie eine wahre Kaiserin. – Sie unterhielt sich sehr freundlich mit mir, ich musste erzählen von dem Kaiser aus Rominten[5], von der Kaiserin und den Kindern, und wie sie mir zum Abschied  die Hand reichte, führte ich sie mit der Empfindung an die Lippen, dass die Russen ihrem orthodoxen Gott wohl dankbar sein können, dass er einen solchen Lichtengel auf den Thron des Zarenreiches berufen hat.“
Am 3. Oktober 1895 war Oberst Moltke noch einmal in Zarskoje Selo bei Zar Nikolaus II. Es war die „Abschiedsaudienz“. Dabei ging der Zar auf die Kaiser Wilhelm offenbar beunruhigenden Gerüchte aus Paris ein und sagte, in den Worten Moltkes „etwa folgendes“:
Se. Majestät beunruhigen sich wegen der Anwesenheit meines Ministers Lobanoff[6] in Frankreich. Derselbe hatte von mir Urlaub ins Bad erbeten, und telegrafierte mir von dort, ob ich gestatte, dass er der Revue beiwohne, die ihn sehr interessiere. Ich antwortete, dass ich nichts dagegen einzuwenden habe. Ich hatte ihm bei seiner Abreise den Auftrag gegeben, in beruhigendem Sinne auf die Franzosen zu wirken. Nachdem ich nun gesehen und auch durch den Brief Sr. Majestät aufs neue darauf hingewiesen worden bin, dass im Gegenteil der französische Chauvinismus lebhaft erregt worden ist, habe ich Lobanoff aufs neue telegraphisch befohlen (und bei dem letzten Wort stießen Se. Majestät energisch mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte), sich nicht nur jeden demonstrativen Auftretens zu enthalten, sondern auch den französischen Chauvinismus abzukühlen, wo er ihm entgegentritt. Ich habe ihm ferner befohlen, auf seiner Rückreise eine Audienz bei Sr. Majestät dem Kaiser nachzusuchen, und stelle es Allerhöchstdemselben anheim, ob er ihn empfangen will. Wenn er ihn empfängt, wird er aus seinem Munde dasselbe hören, was ich Ihnen jetzt sage. Es war mir bisher nicht genügend bekannt, wie leicht die Franzosen Feuer fangen. Hätte ich dies gewusst und vorhersehen können, so hätte ich weder Lobanoff noch Dragomirow[7] die Erlaubnis erteilt, nach Frankreich zu gehen, und ich werde in Zukunft vorsichtiger mit meinen Herren sein.“
In Frankreich wurden während der Dritten Republik (1870 – 1945), die oft auch als „Freimaurer-Republik“ bezeichnet wird, weil ein Großteil der Minister Mitglieder im „Grand Orient de France“ waren, nach dem Sieg Deutschlands über Kaiser Napoleon III. im von Frankreich angezettelten „Deutsch Französischen Krieg“, bei dem Frankreich Elsass-Lothringen abgeben musste, systematisch Revanche-Gefühle geschürt, vor allem später unter dem Lothringer Finanz- und Kulturminister, dann Ministerpräsidenten und schließlich Staatspräsidenten Raymond Poincare (1860 – 1934), der die Deutschen hasste, seit er als Zehnjähriger mit ansehen musste, wie sie seine Heimatstadt Bar le Duc eroberten. Damals wurden schon die Pläne eines französisch-russischen Bündnisses geschmiedet und es ist allzu verständlich, dass Deutschland in Gestalt von Kaiser Wilhelm beunruhigt war.
Dann lässt sich Zar Nikolaus über die Presse aus, die schon damals vorwiegend in der Hand von jüdischen Redakteuren lag:
„Se. Majestät kamen dann auf die französische Presse zu sprechen, äußerten sich darüber, wieviel Unheil die Presse schon in der Welt angerichtet, und fuhren dann fort: ‚Ich vermute, dass Se. Majestät in der Stille seines Jagdaufenthalts, wo keiner seiner Minister bei ihm war, erregt worden ist, durch die Lektüre der Zeitungsausschnitte, und ich kann dies vollkommen begreifen. Wenn man nur in dieser Form die Nachrichten aus Frankreich liest, so kann ich mir denken, dass die Nachrichten von dort alarmierend wirken müssen. Ich selber habe mir die Zeitungsausschnitte verbeten, die man mir zuerst auch vorlegen wollte. Ich fürchte durch sie nur Kenntnis zu erhalten von einer bestimmten Richtung, die zu bestimmen in der Hand desjenigen liegt, der Ausschnitte auswählt und anfertigt. Ich lese stattdessen eine deutsche (…), eine französische (…), eine englische und eine russische Zeitung, - letztere nicht gern, denn sie taugen alle nichts, und indem ich so die verschiedenen Stimmen höre, suche ich mir mein Urteil selber zu bilden. Ich lege aber nicht zu viel Wert auf die Zeitungen, denn ich weiß, wie sie gemacht werden. Da sitzt irgendein Jude, der sein Geschäft damit macht, wenn er die Leidenschaften der Völker gegeneinander aufhetzt, und das Volk, meist ohne eigenes politisches Urteil, hält sich an die Phrase. Deswegen werde ich auch die russische Presse nie freigeben, solange ich lebe. Die russische Presse soll nur schreiben, was ich will (und damit stießen Se. Majestät wieder mit dem Zeigefinger auf den Tisch), und im ganzen Land darf nur mein Wille herrschen.‘
Se. Majestät führten sodann aus, wie der Russisch-türkische Krieg nur den Hetzereien der Presse zu verdanken sei, und wie diese auch jetzt die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sowie Frankreich verderbe und die Empfindungen verbittere, und sagten dann: ‚Zwischen Deutschland und Russland ist seit hundertfünfzig Jahren kein Krieg gewesen. Deutschland hat sich mit ungefähr allen seinen Nachbarn geschlagen, nur mit uns nicht, und es ist auch ein Unding, an einen Krieg zwischen Deutschland und Russland zu denken, da diese beiden Länder gar keine miteinander kollidierenden Interessen haben.‘
Russland war nach der „Aufteilung“ Polens am Ende des 18. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg unmittelbarer Nachbar des Deutschen Reiches.
Moltke fährt fort:
„Sodann erzählte Se. Majestät, dass ihm aus den deutsch-russischen Grenzdistrikten laufend Berichte zugingen, aus denen Er zu Seiner Freude ersehe, wie das Verhältnis zwischen den beiderseits  an der Grenze stehenden  Truppen ein ausgezeichnet gutes sei. Die Offiziere machten sich gegenseitig Besuche, lüden sich ein und hielten gute Kameradschaft. Alles Nachrichten, worüber Er Sich aufrichtig freue. Hier wenigstens sei nichts von der Animosität zu bemerken, die sich in der Presse breit mache.
Ich bemerkte nun: ‚Wollen Ew. Majestät mir allergnädigst erlauben, noch einmal darauf zurückzukommen, dass wir nach den Gesinnungen, die Ew. Majestät äußern, gewiss keinen Grund haben, Besorgnisse von seiten Russlands zu hegen. Das was wir aber befürchten müssen, ist das leicht erregbare Temperament der französischen Nation, das natürlich durch die Anwesenheit der russischen Generäle und Staatsmänner noch mehr erhitzt wird.‘ Der Kaiser erwiderte: ‚Ich weiß es, aber sagen Sie dem Kaiser, dass ich die Ruhe aufrecht erhalten werde. (…) Es liegt mir außerordentlich viel daran, dass wir (Deutschland und Russland) die guten Beziehungen zueinander aufrecht halten. Wir sind gegen Sie noch weit zurück, haben unendlich viel zu tun im Innern. Wir produzieren hauptsächlich Getreide, Sie industrielle Waren, die wir austauschen müssen. Ein Krieg zwischen uns würde beiden Völkern unendliches Leid bringen.“
Diese Worte, wiedergegeben von einem sensiblen, doch exakten Militär, der anders als der Dichter Rilke nicht so schnell ins Schwärmen gerät, wurden von Zar Nikolaus II. 19 Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges gesprochen, dessen verhängnisvollen Folgen bis heute auf Deutschland lasten.


Schwäbisch Hall, der 04. September 2017 (6.00 Uhr)
Gestern habe ich den ganzen Tag nichts anderes getan, als mich in das Leben des Zaren Nikolaus II. zu vertiefen.  Ich las die ersten 200 Seiten der Biografie von Edward Radsinski, „Nikolaus II. – Der letzte Zar und seine Zeit“[8], ein Taschenbuch, das ich bereits vor 20 Jahren (am 4. April 1997) in Pforzheim gekauft hatte und das bis jetzt ungelesen in meinem Bücherschrank gestanden und mindestens fünf Umzüge erlebt hat.
Ich bin nicht einmal in die Kirche gegangen, obwohl ich mich nach über vier Wochen wieder nach einem Gottesdienst oder der Menschenweihehandlung gesehnt hatte. Auch den Fernseher habe ich nicht eingeschaltet, nicht einmal zur Tagesschau und auch nicht für das Fernsehduell zwischen Kanzlerin Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Schulz.[9].
Ich war vollkommen vertieft in jene Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges und konnte dem Zar und seiner Frau, der Deutschen Alix von Hessen-Darmstadt, durch die abgedruckten Briefe und Tagebuchauszüge tief in die Seelen schauen.
Durch das Geschenk von Vater Andrej, das Bild von der Zarenfamilie, das nun in meinem Schlafzimmer steht, fühle ich mich beinahe schicksalhaft mit diesen Menschen, die auf so tragische Weise enden mussten, verbunden.
Selten war ich so motiviert, mich mit einer Biografie eines Monarchen zu beschäftigen wie nach unserer Reise, bei der ich die meisten Orte der Handlung persönlich kennenlernen durfte. So steht alles noch viel plastischer und klarer vor meinem inneren Auge, so als könnte ich den Zar, seine arme Frau und seine Kinder persönlich auf ihren Gängen durch die Orte und die Zeit begleiten. Ein großes Rätsel bleibt dabei der sibirische Bauer Grigori Rasputin, der in dem Buch von Radsinski öfters als „der Heilige Teufel“ oder auch als „der böse Genius des russischen Volkes“ bezeichnet wird.
Die gesamte weitverzweigte Romanov-Familie stellte sich gegen diesen „Heiligen Starez“ und schließlich sogar gegen die feindliche „deutsche Spionin“ auf dem Zarenthron. Nur Zarin Alexandra Fjodorowna hielt zu ihm und schrieb ihrem Mann zum Beispiel am 16. Juni 1915 ins Hauptquartier der Russischen Armee folgende Worte über den „Freund“:
„Mir ist schwer und traurig ums Herz. Ich muss immer daran denken, was unser Freund sagt. Oft schenken wir seinen Worten nicht die nötige Aufmerksamkeit. Er war so gegen Deine Abreise ins Hauptquartier, weil sie Dich dort zwingen können, Dinge zu tun, die besser unterbleiben sollten. Wenn er Dir von irgendeiner Sache abrät und Du nicht auf ihn hörst, stellst Du im Nachhinein jedes Mal fest, dass Du unrecht hattest. Er (Nikolascha) missbilligt Grigoris Besuche in unserem Haus, darum hält er Dich im Hauptquartier fest, möglichst weit weg von ihm. Wenn sie nur wüssten, diese blinden Menschen, wie sie Dir mit ihrem Hass auf Grigori schaden, statt Dir zu helfen. Erinnere Dich, in einem Buch, das wir lasen, stand geschrieben, das Land, das von einem Gottesmann gelenkt werde, könne nicht zugrunde gehen. Oh, lass Dich mehr von ihm lenken.“ (Radsinski, S 158)




[2] Erzengel Michael, der Schutzpatron Deutschlands, wie Sankt Georg sowohl der Schutzpatron Russlands als auch Groß-Britanniens ist.
[3] In gewisser Beziehung hatte der Kaiser die Zukunft richtig vorausgesehen. Sowohl in Rom 2015 als auch jetzt wieder in Sankt Petersburg sah ich Scharen von Asiaten – vielleicht Chinesen, vielleicht Südkoreaner – sich busseweise über die Haupt-Sehenswürdigkeiten „ergießen“. Sie waren überall und fotografierten ohne Verstand alles, was ihnen vor die teure Kamera (meist der Marke Nikon) kam. Die Museumswärterin, mit der sich Lena in der Eremitage lange unterhielt, war entsetzt, wie respektlos „die Chinesen“ alles berührten oder fotografierten. Einmal riss ein Chinese Lena einen Schmucklöffel aus der Hand, den sie an einem Souvenirstand beim „Ehernen Reiter“ auf dem Senatsplatz westlich der Admiralität gerade anschaute und praktisch schon gekauft hatte. Im Katharinen-Palast in Zarskoje Selo drängte sich ein älterer Chinese mit seiner Frau an der wartenden Schlange vorbei und stellte sich ganz vorne an.
[4] Ein Jahr zuvor war der Vater von Zar Nikolaus II., Alexander III. gestorben.
[5] Das erst 1890 im schwedischen Stil eingerichtete Jagdschlösschen in der Rominter Heide bei Königsberg war Kaiser Wilhelms gern besuchter Landsitz, von dem der leidenschaftliche Jäger zu seinen Touren aufbrach.
[6] Alexej Lobanov Rostovsky (1824 – 1896), ein Nachkomme von Rurik, war von 18. März 1895 bis zu seinem Tod am 30. August 1896 Außenminister Russlands unter Zar Nikolaus II. https://en.wikipedia.org/wiki/Aleksey_Lobanov-Rostovsky
[7] Michail Iwanowitsch Dragomirow (1830 – 1905) war ein General der russischen Armee. https://de.wikipedia.org/wiki/Michail_Iwanowitsch_Dragomirow
[8] Die Originalausgabe erschien 1992, bereits im gleichen Jahr die deutsche Übersetzung von Renate Landa
[9] Lena hat es angeschaut.

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