Ich habe mich gestern den ganzen
Tag in den „Nachlass“ meiner Eltern vertieft und bin auf wahre „Schätze“ gestoßen.
Ich habe das Gefühl, dass ich
erst jetzt, knapp zwanzig Jahre nach dem Tod meiner Mutter und exakt dreißig
Jahre nach dem Tod meines Vaters reif dafür bin.
Ich vermute, es war in der Nacht
unserer Heimreise von Sankt Petersburg, als wir auch an Breslau, Liegnitz und
Görlitz vorbeikamen, als ich die Inspiration empfing, mich wieder einmal meinen
Eltern und ihren Vorfahren zuzuwenden. Das Überqueren der Oder bei Breslau war mein
größtes nächtliches Erlebnis bei dieser Heimreise: Wie Strahlen stiegen die beleuchteten
dicken Stahlseile, an denen die neue Autobahn-Brücke hing, und die sich an zwei
mächtigen Pfeilern in der Höhe bündelten, in den dunklen Himmel. Ich wusste
nun, unter mir floss der Schicksalsfluss, der Breslau und Dyhernfurth, meine
Mutter und meinen Vater einst verband. Auf der Oder lernte mein Vater, der
Pfarrerssohn und spätere Marineoffizier, segeln. In der Hauptstadt Schlesiens
ging meine Mutter, die Tochter aus einem gutbürgerlichen Haus in der zentralen
Tauentziehnstraße[1], oft am Ufer
der Oder spazieren.
Ich studierte die Papiere, die
Ahnentafeln, die Briefe und die Fotos, die mir meine Eltern hinterlassen haben
und die ich einst noch, mit der Hilfe Tante Dittes zum Teil beschriften konnte.
Überhaupt war es Brigitte, die ältere Schwester meines Vaters, die das
Familienerbe treu gepflegt hat. Christine, die jüngere Schwester, hat meine
Eltern einst zusammengeführt.
Vieles wusste ich schon, aber es
war wieder tief in meiner Seele versunken. Gestern beim Betrachten der
nachgelassenen Papiere und Fotos kam manches wieder hoch. Besonders berührt
haben mich zwei Briefe über die Besitzer des Gutes Rosenhain, das meine Mutter
eigentlich erben sollte. Der eine war von Tante Inge, der andere von meiner
Mutter. Es sind für mich unschätzbare Dokumente, die ich unbedingt abschreiben
muss, um sie unseren Kindern zu hinterlassen. Sie wissen ja noch viel zu wenig
über ihre Vorfahren. Deren Heimat kennt keines aus eigener Anschauung.
Schlesien ist in der dritten Generation in der Tat „verloren“ für die Enkel der
Heimatvertriebenen (Polen nicht!).
Bei der Durchsicht der Papiere
stieß ich auch auf ein dünnes Heftchen mit dem Titel „Tagebuchaufzeichnungen
und Briefauszüge aus einer Zeit tiefster Not und Bedrängnis 1945/46 von
Bürgermeister Kriebel und Pastor Stürmer früher wohnhaft in Dyhernfurth/Oder“,
das meine Tante Brigitte Stürmer im Jahre 1978, ein Jahr vor der Geburt
Fs, des ersten Enkels meiner Eltern, herausgegeben hat. Es steht nichts
darüber im Impressum, in welcher Auflage die abgetippten Tagebuch- und
Briefauszüge veröffentlicht wurden, aber ich weiß, dass Tante Ditte sich
jahrelang um den Dyhernfurther Rundbrief kümmerte, in dem sie alle Nachrichten
aus der verlorenen Heimat sammelte und an die in ganz Deutschland verstreuten
ehemaligen Einwohner verschickte. Für diese Tätigkeit hat sie einst vom
Stuttgarter Bürgermeister das Verdienstkreuz der Bundesrepublik verliehen
bekommen. Bei der kleinen Feier im Stuttgarter Rathaus waren I. und ich damals
als einzige aus der Verwandtschaft zugegen.
Ich möchte nun als erstes eine
Stelle aus den Aufzeichnungen des Dyhernfurther Bürgermeisters Kriebel
abtippen, die ich gestern Abend auch Lena vorlas, weil sie in gewisser Weise
unseren Erfahrungen an der weißrussisch-polnischen Grenze[2] entsprechen:
„Unsere oben geschilderten
Erlebnisse sind, im Großen und Ganzen, die gleichen aller Anderen, die in das
sogenannte „polnische Verwaltungsgebiet“ zurückgekehrt und dann daraus
vertrieben wurden. Waren wir bis dahin Flüchtlinge oder Evakuierte, so sind wir
jetzt, seit der Ausweisung aus Schlesien, widerrechtlich Vertriebene.
Die Behandlung durch die Russen
war unvergleichlich besser als durch die Polen. Die vielen Vergewaltigungen
deutscher Frauen und Mädchen durch die Russen waren natürlich sehr schlimm,
ließen aber später nach. Über die Polen hörte man derartige Klagen nur selten.
Sie hatten meist ihre Frauen bei sich. Was aber die sonstige Behandlung
betrifft, so ist sie durch die Russen doch immerhin erträglich, durch die Polen
aber unter aller Würde gewesen. Es wurde geplündert, geraubt und geprügelt, und
zwar in Anwesenheit und unter Mitwirkung der Polizei, des Bürgermeisters und
dessen Angestellten sowie der polnischen Parteifunktionäre. Wenn einer oder der
andere von uns dabei scheinbar etwas besser wegkam, so nur aus dem Grunde, weil
es bei ihm nichts mehr zu klauen gab. Es gab die tollsten Lumpen unter den
polnischen Beamten. Ein Kerl lief anfangs immer in polnischer Korporalsuniform
herum. Er war früher deutscher Soldat gewesen und hatte als solcher ein Bein
verloren und hatte auch im Werk in Dyhernfurth gearbeitet. Nachdem seine
Versuche, uns über alles Mögliche auszuhorchen, vergeblich waren, behandelte er
uns schlecht. Außerdem war er dauernd besoffen. Das waren sie jedoch fast alle.
Was sich zu Schnaps verarbeiten ließ, wurde auch dazu benutzt – Getreide,
Rüben, Kartoffeln. Die Amerikaner schickten Saatgetreide, die Polen machten
Schnaps daraus.
(…)
Ein weiteres Beispiel für den
Unterschied im Benehmen der Russen und Polen war folgendes: Die Russen haben
unser Kriegerdenkmal ausgebessert, als es beschädigt war. Die Polen ließen
sämtliche Denkmäler durch die Deutschen selbst zerstören.
Motto: ‚Liebet eure Feinde‘
Leese, 4.11.47 Friedrich
Kriebel
[1] In einem
Haus in dieser zentralen Straße Breslaus wohnte auch Rudolf Steiner, als er
zu Pfingsten 1924 auf dem Gut Koberwitz des Grafen Karl von Keyserlingk, das in
unmittelbarer Nachbarschaft des Gutes meiner Urgroßeltern mütterlicherseits
lag, die Vorträge zum „Landwirtschaftlichen Kurs“ hielt, die später zur
biologisch-dynamischen Landwirtschaft und zu „Demeter“ führten. https://anthrowiki.at/Biologisch-dynamische_Landwirtschaft
Sehr geherter Herr Kriebel,
AntwortenLöschenSie schreiben: "Die Behandlung durch die Russen war unvergleichlich besser" und dann "Über die Polen hörte man derartige Klagen nur selten". Und wenn die Polen was schlimmes gemacht haben, vergessen Sie nicht, wer am 1.9.1939 begonnen hat. Oder haben Sie andere Geschichte erlebt, bzw. gelernt.
Verzeihen Sie mir, aber es nervt, wen man so was schreibt, was wahrsinn ist.
Ich bin in Dyhernfurth im Jahre 1968 geboren. Ich bin der Pole.
Ich habe nie gehoert, dass die Russen welche Denkmaele verbessert haben. Wer hat das Ihnen gesagt? Und vergessen Sie nicht, dass bevor die Polen nach Dyhernfurth gezogen waren (aussen meinen Onkel, Herr Bujacz, den die Deutschen zu Arbeit mitgebracht haben) sind dort die Russen gekommen. Februar, Maerz 1945. Gucken Sie mal im Friedhof bei Kloster auf die Sterbedatums von Ordensschwestern. Bevor sie starben, jeder weiss, was die Russen gemacht haben.
Es war Krieg, da sind viele schrekliche Sachen passiert. Wir sollen das nicht vergessen, aber auch die Geschichte nicht neu zu schreiben.
Meine Eltern sind in Polen geboren, obwohl das Gebiet gehoert zu Polen nicht mehr. Sie mussten nach Sibirien und dann zuruck. Sie haben mir auch viel erzaehlt...
Ich habe Frau Brigitte Stuermer in Stuttgart kennengelernt. Es war 1989 oder 1990. Das merke ich nicht genau. Johannes war auch damals bei seiner Mutter. Wir haben den ganze Nachmittag gesprochen. Ueber Geschichte, Politik und UNSEREN Geburtsort...
Viele Gruesse an alle deutsche Freunde.
Jerzy Twardy
Lieber Herr Twardy,
AntwortenLöschenvielen Dank für Ihren Kommentar, den ich erst jetzt gelesen habe. Ich glaube, dass Sie nicht verstanden habe, dass ich aus Tagebuchaufzeichnungen zitiert habe, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeschrieben wurden. Es sind für mich glaubhafte Berichte. Ich möchte die Geschichte nicht umschreiben, aber ich interessiere mich als Nachgeborener für die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass meine Eltern alles verloren haben und sich eine neue Existenz aufbauen mussten.
Ich würde mich freuen, wenn wir weiter ins Gespräch kommen würden. Hier meine Mailadresse. johannesws@yahoo.de