Dienstag, 7. Juni 2016

Erich Kästner, Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn




Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.

Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe. 
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!

Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will 
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen -
steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!

Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen 
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.

Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein. 
Es könnte glücklich sein und glücklich machen.
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.

Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann! 
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.

Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. 
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
1928


Erich Kästner (1899 – 1974), der deutsche Schriftsteller, der besonders durch seine Kinderbücher und seine humoristischen Gedichte  bekannt geworden ist, hat im Jahre 1928, also während der Weimarer Republik, ein eher untypisches Antikriegsgedicht mit dem Titel „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“ verfasst, das ich in folgendem Aufsatz interpretieren werde.

Das Gedicht besteht aus sieben Strophen mit jeweils vier Versen.
Die Schlüsselwörter in der ersten und in der letzten Strophe sind die gleichen: „Kanonen“ (I,1 und VII, 3) und „Kasernen“ (I,4 und VII,2). In der ersten Strophe erinnern die Büros in diesem Land, das im ganzen Gedicht nicht genannt wird, also anonym bleibt, an Kasernen und die Prokuristen, „stolz und kühn“ (I,3), die gewöhnlich eher sitzen, hier aber „stehn“ (I,3), an militärische Befehlshaber, ja an Generäle. In der letzten Strophe wird behauptet, dass alles, „was man“ in diesem Land „auch baut“ (VII,2) also nicht nur die Büros, „stets Kasernen (…) werden“ (VII, 2). Es ist also eine deutliche Steigerung von der Aussage in der ersten bis zur Aussage in der letzten Strophe. Damit ist auch schon das Thema des Gedichts ausgesprochen. Es geht um Militär und Militarismus.
Die mittlere, also die vierte Strophe, die das Gedicht inhaltlich deutlich in zwei Teile gliedert, handelt von den „Kindern“ (IV,1), die in diesem Land geboren werden. Auch dabei wird wieder das Militärische betont, denn die Kinder werden nicht als „Zivilisten“ (IV,3) geboren, sondern kommen „mit kleinen Sporen (…) auf die Welt“ (IV, 1+2), also als Mitglieder der berittenen Einheit, der Kavallerie. Das ist natürlich übertrieben und nur im metaphorischen Sinne gemeint.  Die „gezognen Scheitel“, die sie ebenfalls mitbringen, wenn sie auf die Welt kommen, erinnern fatal an den Ausdruck „gezogne Säbel“. Das Gedicht will sagen, schon die Babys in diesem Land seien geborene Militaristen.
Natürlich werden die Kinder in Wirklichkeit auch in diesem Land nicht mit Sporen an den Füßen geboren. Aber es ist eben ein Bild, genauso wie die „unsichtbaren Helme“ (II,2) und die „Gefreitenknöpfe“ die „unterm Schlips (…) wachsen“ (II,1) in der zweiten Strophe. Die Menschen, die in diesem Land leben, sind offenbar vom „Scheitel“ (IV,1) bis zu den Füßen (IV,1) auf Militär geeicht. Denkende „Köpfe“ (II,3) haben diese Menschen offenbar nicht, wie die zweite Strophe weiter unterstellt, sondern nur „Gesichter“ (II,3).
Dieser Gedanke wird in der dritten Strophe wiederum gesteigert, indem gesagt wird, dass die „Vorgesetzten“ in diesem Land es am liebsten hätten, wenn „der Verstand“ der Untergebenen „erst stramm und zweitens still“ (III,3) stünde. Am besten wäre es, wenn sie sich nicht einmal dagegen wehren würden, sondern wie beim Militär die Befehle „Augen rechts“ (III,4) und „Schnauze“  halten (IV,4) ohne Widerspruch befolgen würden. Dass dazu kein „Rückgrat“ benötigt wird, kann man ebenfalls der dritten Strophe (III,4) entnehmen. Der aufrechte Gang ist in diesem Land nicht gefragt.
Dabei hat dieses Land alles, um seine Bewohner „glücklich zu machen“ (V,3), wie es in der fünften Strophe heißt, die den zweiten Teil des Gedichtes einleitet, der nach dem negativen nun auch ein positives Bild von dem Land zeichnet. „Dort“ gibt es nämlich „Äcker, Kohle, Stahl und Stein/ und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen“ (V,3 + 4).
Also nicht nur materielle Güter und die bürgerliche Tugend des „Fleißes“ gibt es, sondern neben der „Kraft“ auch noch „Geist“ und „Güte“ (VI,1), wie uns die nächste Strophe beteuert. Allerdings nur „dann und wann“ (VI,1) und „nicht bei vielen“ (VI,2), wie das Gedicht gleich einschränkend anmerkt. Das Gedicht verweist sogar auf das „wahre Heldentum“ (VI,2), das aber nichts mit Militarismus zu tun hat. Das falsche Heldentum zieht das Gedicht ins Lächerlich-Kindische, wenn es davon spricht, dass die Männer dieses Landes am liebsten wie Kinder „mit Bleisoldaten spielen“ wollen.
Dadurch greift das Gedicht das zentrale Motiv der vierten Strophe wieder auf und kehrt es um. In der Mitte des Gedichtes ist von den Kindern die Rede, die schon als Soldaten geboren werden, in der sechsten Strophe von den Erwachsenen, die wie Kinder werden, die mit Bleisoldaten spielen.
Aber auch hier wird einschränkend konstatiert, dass dies in jenem Land ja „nur“ bei „jedem zweiten Mann“ (VI, 3) der Fall ist. Das ist aber, wenn man genau rechnet, genau die Hälfte aller Männer. Mit dieser versteckten Ironie relativiert Erich Kästner in seiner bekannten Weise den Inhalt der zweiten Hälfte (fünfte und sechste Strophe) seines Gedichtes, welche die positiven Aspekte jenes Landes andeutet. Der streng symmetrische Aufbau des Gedichtes bekommt dadurch „Schlagseite“. Die „Militaristen“ sind in dem Land offensichtlich in der Mehrheit gegenüber den wenigen „Pazifisten“. Deshalb kann in diesem Land auch nicht „die Freiheit“ reifen (VII,1), wie in der letzten Strophe resignierend festgestellt wird.
Das Gedicht ist also streng gegliedert in einen Rahmen (erste und siebte Strophe), in eine Mittelachse (vierte Strophe) und in zwei antithetische Teile, die jeweils aus zwei Strophen bestehen (Strophen zwei und drei und Strophen fünf und sechs). Die formale Strenge des Gedichts drückt sich auch aus in dem konsequenten Kreuzreim nach dem Schema abab mit abwechselnd männlichen und weiblichen Kadenzen.
Die Form des Gedichtes entspricht also dem Inhalt und damit gleichzeitig dem Wesen des Militärs, wo es auf Ordnung und Perfektion ankommt. Dieses Ordnungsschema wird in der mittleren Strophe geschickt angedeutet, wo von dem „gezognem Scheitel“ (IV,2) die Rede ist, mit dem die Kinder dieses Landes geboren würden. Das ist natürlich eine ironische Übertreibung, weil die meisten Kinder in Wirklichkeit haarlos, geschweige denn mit „gezognem Scheitel“ auf die Welt kommen. Aber dieses Bild des „Scheitels“ ist ein Bild der Ordnung. Hiermit wird angezeigt, dass das zunächst wild wachsende Haar durch die ordnungsliebenden Eltern gebändigt wird. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Autor die Metaphern des „Wachsens“ (II,2), „Blühens“ (I,1 und VI, 3) und „Reifens“ (VII,3), die er aus der Natur entlehnt, durchgängig in seinem ganzen Gedicht verwendet. Auch der Ausdruck, „bleibt grün“ (VII,1), der in der letzten Strophe vorkommt, gehört in diesen Bildzusammenhang.
Eine gewisse Verfremdung entsteht dadurch, dass er den Begriff des „Blühens“ schon im Titel des Gedichtes mit „Kanonen“ in Verbindung bringt. Das passt doch gar nicht, will man als Leser sofort einwenden. Erich Kästner bezieht sich dabei auf ein in Deutschland seiner Zeit sehr bekanntes Goethe-Gedicht, das die Sehnsucht der Deutschen nach dem südlichen Italien thematisiert: „Mignons Lied“ aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ beginnt mit der Zeile „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Dieses Gedicht dient Kästner gleichsam als Blaupause für sein eigenes Gedicht. Mit diesem Gedicht im Hintergrund stellt er gleichsam die Frage: Was ist aus dem Land geworden, in dem einmal solch berühmte Gedichte das Bildungsbürgertum erfreuten. Wieso hat sich die Kulturnation des 18. Jahrhunderts in das militaristisch geprägte Land der Gegenwart verwandelt?
Natürlich meint Kästner mit dem Land, das er im Gedicht nur mit dem Adverb „dort“ näher bezeichnet, Deutschland, ja das Deutschland der Zwanziger Jahre, das bereits absehbar auf die Barbarei des Dritten Reiches zusteuert. Italien, das Land, auf welches das Goethe-Gedicht anspielt, ist zu dieser Zeit schon ein faschistisches Land (seit 1925). Die zweimal gestellte Frage, „Du kennst es nicht?“ ist in Wirklichkeit gar keine Frage, sondern eine Aufforderung, genau hinzuschauen. Wenn der Leser das anhand des Gedichtes tut, dann wird er das Land schon kennenlernen.
So klingt der letzte Satz gleichsam wie eine Aufforderung, die einen drohenden Unterton hat: Schau nur hin, wo sich in diesem Land überall Anzeichen des wachsenden Militarismus zeigen, dann wirst Du schon merken, welches das Land ist, in dem die „Kanonen blühn“.

Es ist gut, dass Kästner das Land nicht mit Namen nennt, sondern die Frage offen lässt. Dadurch bleibt das Gedicht auch heute noch aktuell, denn es kann jedes Land gemeint sein, in dem Militarismus herrscht. Die Aufforderung, das Land kennenzulernen, „in dem die Kanonen blühn“, ist auch heute noch notwendig. Leider aber verschließen auch in der Gegenwart immer noch allzu viele Menschen die Augen vor den warnenden Signalen. Diese gibt es zum Beispiel in den Beziehungen zwischen Amerika und Russland, so, dass der russische Ministerpräsident bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz (am 13.02.2016) schon vor einem „neuen kalten Krieg“ warnte, der schnell zu einem heißen werden kann, wenn die NATO in den einstigen Staaten des Warschauer Paktes, also an der unmittelbaren Grenze zu Russland, immer öfters Manöver durchführt und die militärischen „Muskeln spielen“ lässt.

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