Samstag, 5. Mai 2018

War Karl Marx ein Antisemit?


Heute wird auf der ganzen Welt des 200. Geburtstages von Karl Marx gedacht.
In Trier wird an diesem Tag eine fünf Meter fünfzig hohe Monumentalstatue des Mannes enthüllt, welche die Kommunistische Partei der Volksrepublik China der Geburtsstadt ihres Vordenkers anlässlich des runden Jubiläums gestiftet hat. Karl Marx ist dort in der Brückenstraße 10 am 5. Mai 1818 geboren und hat die ersten 17 Jahre in der zur preußischen Rheinprovinz gehörenden katholischen Bischofsstadt mit damals ungefähr 12000 Einwohnern gelebt. Trier war nach dem Wiener Kongress 1815 preußisch geworden; vorher war die Stadt französisch und viele seiner Bürger genossen die Freiheit, die ihnen die französische Verfassung mit ihren Menschenrechten bot.
Marx' Großväter väterlicher- und mütterlicherseits waren Rabbiner in Trier. Marx' Vater, ein Rechtsanwalt, ließ sich im Jahre 1816 oder 1817 protestantisch taufen. In Preußen waren die Juden 1815 von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen worden „und durch ein Votum des Innenministers vom 4. Mai 1816 wurde der Begriff des öffentlichen Amtes  unter anderem auch auf die Rechtsanwaltspraxis und die Führung einer Apotheke ausgedehnt.“[1]
Der Übertritt des Rabbinersohnes zum christlichen Glauben geschah also nicht aus Überzeugung, sondern aus Kalkül. „Dieser Schritt bedeutete den völligen Bruch mit seiner Familie. Sein Bruder Samuel starb 1827 als Oberrabbiner von Trier.“[2] Karl Marx wurde mit sechs Jahren am 26. August 1824 getauft.
Der Marx-Biograf Werner Blumenberg schreibt: „Die Vorfahren des Vaters wie der Mutter waren seit Generationen Rabbiner gewesen; es entsprach alter Sitte, dass die Kinder von Rabbinern wieder mit solchen verheiratet wurden.“
Rabbi konnte werden, wer aus den beiden Priesterfamilien der Levi oder der Cohen stammte. Aus einer solchen stammte der Großvater von Karl Marx, Meier Halevi Marx, der Rabbiner von Trier. Sein ältester Sohn war Heinrich, der ihm in dem Amte folgte, also Karl Marx‘ Onkel.
„Die jüdischen Gemeinden besaßen im Mittelalter, das bei den Juden bis etwa 1800 reicht, in ihren inneren Angelegenheiten Autonomie. Die Gemeinden führten wirtschaftlich, religiös und kulturell ein Eigenleben; ihr Vertreter gegenüber Stadt und Staat war vor allem der Rabbiner. (…) Der Rabbiner war weniger Seelsorger und Prediger; er war vor allem Lehrer und Gelehrter.“[3]
Diese Gelehrten verwendeten ihr ganzes Leben auf das Studium der Heiligen Schriften und fertigten bei Streitfragen entsprechende „Gutachten“ (Responsen) an.
„Ein Blick in die Literatur über diese Normen, die hermeneutische Induktion, Analogie, Antinomie oder den Syllogismus, gibt einen Eindruck von dieser bis zu den letzten Möglichkeiten der Exegese vordringenden, äußerst scharfsinnigen und häufig zu Spitzfindigkeiten führenden Methode.“[4]
Karl Marx steht mit seiner Hauptschrift „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“ (1867), das seinen „Scharfsinn“ offenbart, ganz in der Tradition der rabbinischen „Auslegungen“. Dabei spricht er rein theoretisch schlussfolgernd über ein Thema, das er im praktischen Leben keinesfalls beherrschte. Alle Biografen sind sich einig, dass weder Karl Marx noch seine Frau Jenny mit Geld umgehen konnten. Wenn Geld da war, gaben sie es mit vollen Händen für ihren gewohnten bürgerlichen Luxus aus, wenn keines da war, hofften sie auf ein erneutes Erbe oder bettelten den Kapitalisten Friedrich Engels an. Karl Marx war in jeder Hinsicht, gemessen an seinen eigenen Schriften, ein wandelnder Widerspruch. Aber er war zweifellos sehr intelligent.
In der bedeutenden Biografie des nach Matin Luther und Konrad Adenauer bekanntesten Deutschen (ZDF-Umfrage 2004) von F. Mehring (1918) wird Karl Marx‘ jüdische Herkunft nur am Rande gestreift. Das beklagt der jüdische Autor Eugen Lewin-Dorsch 1923 in der Zeitschrift „Die Glocke“ in seinem Beitrag „Familie und Stammbaum von Karl Marx“. Dort führt er aus:
„Mehring meint zwar, dass schon der Vater von Marx ‚in frei menschlicher Beziehung gänzlich aus dem Judentum herausgewachsen‘ sei, dass der Sohn ‚diese völlige Freiheit von aller jüdischen Befangenheit als wertvolles Erbe aus seinem Elternhaus übernommen‘ habe, oder dass sich in den Briefen des Vaters an seinen Sohn ‚keine Spur von jüdischer Art und Unart‘ verrate. Mit einer solchen ausweichenden, zugleich geringschätzigen und kenntnislosen Beurteilung der Sache ist wenig anzufangen. Sie berührt lediglich die Oberflächenschicht des seelischen Lebens, das Bewusstsein des Individuums von sich selbst, aber sie dringt nicht in die Tiefe, dorthin, wo sich die Kräfte der Persönlichkeit unsichtbar und geheimnisvoll bilden. ‚Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden‘, hat Marx selber gesagt. Und wenn wir die ganze Menschlichkeit dieses Mannes verstehen wollen, so müssen wir auch das Erbe seiner rabbinischen Herkunft in Anschlag bringen, ein Erbe, dessen Größe ihm selber wohl nie ins Bewusstsein getreten ist.“[5]
Nun hat sich Karl Marx in seiner Frühschrift „Zur Judenfrage“ (1844) selbst über sein Verständnis des Judentums geäußert. Während im Lutherjahr 2017 immer wieder auf die angeblich antisemitischen Tendenzen im Werk Martin Luthers Bezug genommen wurde[6], sind solche im Karl-Marx-Jahr 2018 für Marx bisher weitgehend ausgeblendet worden. Dabei kann man in Marx‘ Schrift Sätze lesen, die der neue Antisemitismus-Beauftragte der Bundesrepublik mit Sicherheit unter Antisemitismus-Verdacht stellen würde. Da heißt es zum Beispiel (Originalton Karl Marx):
„Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, (…), sondern den Alltagsjuden. Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“
Karl Marx sprach hier mit Sicherheit nicht nur theoretisch, sondern aus Erfahrung. Und diese Erfahrung kann bis heute gemacht werden, wenn man zum Beispiel nach der familiären Herkunft der reichsten Banker, Börsenmakler und Hedge-Fonds-Eigentümer fragt.[7]
Marx fährt fort:
„Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen – und verwandelt sie in Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn und er betet es an. Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden.“
Dieser scharfsinnigen Analyse der Realität ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Die Ideen aus dem „Kapital“ wie zum Beispiel der durch Marx zuerst geprägte Begriff der „Entfremdung“ tauchen in dieser Frühschrift zum ersten Mal auf.
Aber Karl Marx, der getaufte Jude, geht noch weiter, wenn er schreibt:
„Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.“[8]
Dieser tiefsinnigen Analyse kann man wohl zustimmen, wenn man sie anhand konkreter Beispiele vorurteilslos bis zu Ende durchdenkt.[9]
Marx‘ beide berühmtesten Schriften, „Das kommunistische Manifest“ und „Das Kapital“, sind erst nach seinem Tode (1883) wirklich bekannt und wirksam geworden. Die Ironie der Geschichte war, dass es besonders jüdische Sozialisten waren, die diese Ideen aufgriffen, verkürzten und aus ihnen das Fundament ihrer Bewegung machten, die unter Lenin und Trotzki zum Beispiel den russischen Zar stürzten und den Terror der Bolschewiki nach Russland brachten, dem Millionen von unschuldigen Russen zum Opfer fielen.
Die maßgeblichen kommunistischen Akteure des Sowjetstaates waren atheistische Juden, die in Karl Marx eine Art „neuen Moses“ sahen[10].



Nun kann man natürlich Karl Marx nicht direkt für diese Blutströme der Russischen Revolution und die auf sie folgende Installation des menschenverachtenden Sowjetsystems verantwortlich machen, genauso wenig, wie man Martin Luther für das Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges verantwortlich machen kann.
Dennoch scheint mir bei diesen beiden Vordenkern das „Gesetz der hundert Jahre“ wirksam zu werden: Obwohl es nicht die Absicht Martin Luthers war, die christliche Kirche zu spalten, führten doch seine 95 Thesen im Jahre 1517 zu eben dieser. Fast genau hundert Jahre später brach der Dreißigjährige Krieg aus, in dem Katholiken gegen Protestanten und Protestanten gegen Katholiken kämpften.
Ähnlich verhält es sich mit Karl Marx: Beinahe 100 Jahre nach seiner Geburt führten Bolschewiken in seinem Namen die Oktoberrevolution in Russland durch, die dem russischen Volk  70 Jahre Terror und Unterdrückung auferlegte.



[1] Werner Blumenberg, Karl Marx in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1962, S 15
[2] a.a.O., S 15
[3] a.a.O. S 13
[4] a.a.O. S 13f
[5] Zitiert nach Blumenberg, a.a.O. S 11
[6] Dabei stand besonders seine Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) im Fokus, die ein wichtiges Dokument der Bewusstseinsgeschichte darstellt und den damals herrschenden Geist sehr gut beschreibt. Wenn man die Schrift natürlich aus heutiger Bewusstseinslage liest, dann hat man ganz andere Assoziationen.
[7] Einer der reichsten Männer der Gegenwart, Larry Fink, der Vermögensverwalter der Finanz-Firma „Blackrock“, ist jüdischer Herkunft. Der Band „Wem gehört die Welt – die Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus“ von Hans-Jürgen Jakobs aus dem Münchner Knaus-Verlag (Mitglied der Random-House-Gruppe) aus dem Jahre 2016 führt viele weitere Beispiele an – ohne natürlich die jüdischen Bezüge zu nennen. Das wäre in solchen Zusammenhängen wieder „antisemitisch“.
[8] Die Zitate entnehme ich dem Aufsatz „Der ausgeblendete Antisemitismus“ von Karlheinz Weissmann in der Wochenschrift „Junge Freiheit“ Nr. 19/2018 vom 4. Mai 2018, S 19
[9] Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Betrug mit der Abschalt-Software in Dieselfahrzeugen erinnern, der zwei große deutsche Vorzeigefirmen seit 2014 in Verruf gebracht hat: Volkswagen und Bosch. Der neue VW-Chef möchte Volkswagen nun wieder „ehrlicher“ machen, sagt er. Unter der Shareholder-Value-Mentalität, die vor allem den Gewinnen der Aktionäre und der Börsenspekulanten geschuldet ist, haben sich auch deutsche Unternehmen zu Handlangern des Kapitals machen lassen.
[10] Siehe die gründliche Untersuchung „Jüdischer Bolschwismus“ – Mythos und Realität von Johannes Rogalla von Bieberstein, Edition Antaios, 2003/04

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